Der Westen hofft auf den Erfolg seiner ökonomischen Strafmaßnahmen. Meistens bringen sie aber nichts
Was er von den westlichen Wirtschaftssanktionen gegen sein Land hält, dafür fand Russlands Präsident deutliche Worte: Die kämen einer »Kriegserklärung« gleich, sagte Wladimir Putin in einer im Fernsehen übertragenen Rede vor Pilotinnen der staatlichen Fluggesellschaft Aeroflot am ersten Märzwochenende. Und bereits bei der Aktivierung der nuklearen Abschreckungskräfte hatte er Bezug auf die Sanktionen genommen. Es scheint also, dass die Maßnahmen nicht wie vom Westen erhofft mäßigenden Einfluss auf die Kremlführung haben, sondern im Gegenteil einen eskalierenden. Einige Oligarchen, denen ein Einfluss auf Putin zugeschrieben wird, zeigen sich hingegen beeindruckt. Sie forderten ein Ende des Krieges und gingen zu Putin auf Distanz. Vorerst sind das wohl Einzelstimmen.
Niemals zuvor in der Ära des globalisierten Kapitalismus hat es derart massive Wirtschaftssanktionen gegen ein Land von der Bedeutung und Größe Russlands gegeben. Der Ausschluss wichtiger russischer Banken aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT, Exportverbote für High-Tech-Güter, Strafmaßnahmen gegen russische Oligarchen und insbesondere das Einfrieren von Vermögen der russischen Zentralbank, der es so schwerer gemacht wird, den Rubelkurs zu stützen, zielen auf den Ausschluss wesentlicher Teile der russischen Wirtschaft vom kapitalistischen Weltmarkt. Nahezu vollständig wäre er, wenn der von den USA bereits verhängte Importstopp von Gas und Öl von Europa übernommen würde. Bis dato hat die EU lediglich angekündigt, die Abhängigkeit vom russischen Gas bis zum Jahresende um zwei Drittel zu reduzieren. Deutschland sträubt sich aufgrund der enormen Abhängigkeit noch gegen ein Embargo. Die Sanktionen, so hieß es, seien der erste umfassende Wirtschaftskrieg im Zeitalter der Globalisierung (SZ, 7.3.22). Westliche Firmen schließen sich diesem an und verlassen scharenweise Russland, freiwillig.
Und die ökonomische Schlacht gegen Putin hat bereits drastische Auswirkungen gezeitigt: Der Rubel stürzte ab, die russische Börse bleibt geschlossen, die Kreditwürdigkeit Russlands ist auf Ramschniveau, manch eine Ratingagentur rechnet bereits mit einer Staatspleite, die Gefahr von Bank-Runs und -pleiten ist real. Durch den Verfall des Rubelwertes verteuern sich Importgüter, was für die Mittelschicht Einschränkungen bedeutet: Teils ist bereits von Rationierungen von Lebensmitteln und einem Run auf Medikamente die Rede. Durch das steigende Preisniveau werden gerade die unteren Klassen betroffen sein.
Ein herber Schlag bis dato, aber noch kein Kollaps der russischen Wirtschaft infolge des »totalen Wirtschafts- und Finanzkrieges«, den etwa Frankreichs Außenminister Bruno Le Maire markig ausgerufen hat. Ob Putin durch weitere Wirtschaftssanktionen zum Einlenken bewegt werden könnte, ist fraglich. Das zumindest legen die Forschungen von Friedensforscher*innen und Politikwissenschaftler*innen nahe, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Ihnen zufolge führen Wirtschaftssanktionen meist nicht zu den anvisierten Zielen, haben unbeabsichtigte negative Nebenfolge, verschärfen sowohl die Menschenrechts- als auch die soziale Lage der breiten Bevölkerung in den sanktionierten Ländern und führen zum nationalen Schulterschluss mit der Exekutive (Rally-’round-the-Flag-Effekt).
Immer mehr Strafmaßnahmen
Die Verhängung von Sanktionen hat in den vergangenen 30 Jahren stark zugenommen. Rund 10.000 Staaten, Regierungen, Unternehmen, organisierte Gruppen und Einzelpersonen waren Anfang 2021 von ihnen betroffen. Allein die Europäische Union, schreibt der Konfliktforscher Michael Brzoska, hatte zu diesem Zeitpunkt Sanktionen gegen 35 Staaten und mehr als 3.000 nichtstaatliche Akteure, zumeist Einzelpersonen, aber auch Unternehmen und organisierte (Terror)-Gruppen verhängt.
Die Ursachen für diesen Anstieg? Im Gegensatz zur früheren Sanktionspraxis, die in der Regel auf die ökonomische Schädigung ganzer Länder zielte, werden immer mehr Strafmaßnahmen gegen Einzelpersonen und Firmen verhängt. Seit Ende der 1990er Jahre ist von gezielten oder smarten Sanktionen die Rede. Deren Entwicklung ist ein Resultat der Einsicht, dass umfassende Wirtschaftssanktionen vor allem gegen den Irak zu humanitären Katastrophen geführt haben. Legendär ist die Antwort der damaligen UN-Botschafterin der USA, Madeleine Albright, aus dem Jahr 1996 auf die Frage, ob die Sanktionen den Preis der halben Million toter Kinder »wert« seien. Was diese bejahte. Der Anstieg der Sanktionen ist überdies mit dem Bemühen zu erklären, Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung einzuhegen. Die erhöhte Transparenz bei Finanztransaktionen hat die Voraussetzung geschaffen, finanzielle Strafmaßnahmen gegen kleinere Gruppen und Einzelpersonen zu verhängen. Im aktuellen Fall werden gezielte und allgemeine Sanktionen kombiniert gegen Russland verhängt. Es trifft konkret russische Politiker*innen und Oligarchen und insbesondere mit dem Einfrieren des Zentralbankguthabens die gesamte Ökonomie des Landes.
Sanktionen führen oft zum nationalen Schulterschluss mit der Exekutive.
Führen die verhängten Wirtschaftssanktionen aber zum Ziel, zu dem am häufigsten der Regierungswechsel zählt? Konsens ist: In den allermeisten Fällen ist das nicht der Fall. Der Londoner Politikwissenschaftler Lee Jones, der seine jahrelange Arbeit zum Thema in dem Buch »Societes under Siege. Exploring How International Economic Sanctions (Do Not) Work« zusammengefasst hat, sagt: Nur in fünf Prozent der Fälle wirken Sanktionen, wenn sie isoliert angewendet werden. Werden sie mit anderen Maßnahmen kombiniert, gibt es eine Erfolgsquote von 30 Prozent. Im besseren Fall führen also zwei Drittel der verhängten Wirtschaftssanktionen nicht zum Erfolg, im schlechteren 95 Prozent.
Jones bietet dafür folgende Erklärung an: Er geht davon aus, dass die politischen Folgen in den sanktionierten Staaten zuvorderst von den Kämpfen zwischen den herrschenden und den oppositionellen Koalitionen bestimmt werden. Wenn durch wirtschaftliche Strafmaßnahmen Einfluss auf die politische Ökonomie eines Landes genommen wird, hat das Auswirkungen auf den herrschenden Block, auf die Zusammensetzung von Klassenfraktionen sowie auf Ressourcenflüsse, die diese Bündnisse abstützen. Er schreibt: »Wenn Sanktionen Regierungs- und Oppositionskoalitionen zu strategischen Reaktionen zwingen können, die den Zielen der Verursacher von Sanktionen entsprechen, können sie ›erfolgreich‹ sein.« Dies sei jedoch im Allgemeinen nur möglich, wenn die Oppositionsgruppen bereits mächtig und gut organisiert sind. Wenn die Opposition schwach und zersplittert ist, neigen Sanktionen dazu, ihren Ausschluss von der Macht zu verfestigen, selbst wenn es ihnen gelingt, auch die regierenden Koalitionen zu schwächen. Dann kommt es zudem häufig zu einer Verschlechterung der Menschenrechtslage. Im Kalkül der sanktionierten Regierung erscheint es so, als ob die Opposition von den sanktionierenden Staaten unterstützt wird. Worauf diese mit Repressionen reagiert – und mit einer Intensivierung der nationalistischen Propaganda, was sich derzeit in Russland beobachten lässt.
Liberale Illusion
Weitere Forschungen haben gezeigt, dass Wirtschaftssanktionen, gerade wenn sie lange anhalten, die Lebenserwartung in den betroffenen Staaten verringern, Frauen trifft es überdies härter als Männer. Privilegierte Gruppen sind dabei in der Regel in der Lage, die Folgen auf untere soziale Gruppen und Klassen abzuwälzen. (1)
Sanktionen können sogar kontraproduktive Folgen haben: Das macht das Beispiel Süd-Afrika deutlich, das oft als erfolgreiches Beispiel angeführt wird, was es zunächst aber nicht war. Denn: Als Öl- und Waffenembargos gegen den Apartheidsstaat in den 1960er Jahren verhängt wurden, führte das zu einer import-substituierenden Industrialisierung. (2) Der staatliche Waffen- und Rüstungskonzern Armscor wurde gegründet und entwickelte sich zu einem bedeutenden Waffenexporteur. Und die staatliche Forcierung der Gewinnung von Öl aus Kohle führte dazu, dass die Unterstützungsbasis des Regimes vergrößert werden konnte, wie Jones in seinem Buch darlegt. Zudem knüpften die Unternehmer engere Beziehungen mit dem Regime, weil sie ihre ökonomischen Interessen verteidigen wollten. Erst als in den 1980er Jahren in Gestalt der Anti-Apartheids-Bewegung eine starke Opposition entstand, griffen die Sanktionen.
Für Lee Jones haben Wirtschaftssanktionen eine generelle Schwäche: Sie sind im Grunde eine liberale Illusion, weil ihnen die Prämisse zugrunde liegt, dass sanktionierte politische Führungen wie ein Homo oeconomicus agieren, streng kalkulierend im Sinne einer Kosten-Nutzen-Abwägung, sich ausschließlich nach wirtschaftlichen Zweckmäßigkeiten ausrichtend. Womit wir zum aktuellen Beispiel Russland zurückkommen. Putin lässt sich nicht von Konzernbilanzen, BIP-Statistiken oder Armutsquoten leiten. Ihm geht es offenbar um ein nationalistisches Konzept, um die Stärkung und Ausweitung Russlands.
Warum werden Sanktionen dennoch verhängt, wenn klar ist, dass sie kaum je ihre Ziele erreichen? Der ehemalige britische UN-Botschafter Jeremy Greenstock sagt, es gebe zwischen Worten und militärischen Maßnahmen nichts anderes, wenn man Druck auf eine Regierung ausüben will. So scheint es auch im Falle Russlands zu sein: Direkte militärische Aktionen hat der Westen ausgeschlossen, diplomatische Mittel sind gescheitert. Aber irgendetwas muss man ja tun. Und so klammert man sich an die Hoffnung, dass die historisch beispiellosen Sanktionen vielleicht doch dazu führen werden, dass sich noch mehr Oligarchen gegen Putin wenden und sich hier ein Riss im Herrschaftsgefüge des russischen Staates auftut.
Und ganz unwahrscheinlich erscheint das auch nicht. Denn offenbar stellt sich der Westen auf langfristige Sanktionen ein. Gerade die Embargos fossiler Energieträger beziehungsweise die Reduktion der Importe schadet Russland weitaus mehr als die europäischen Abnehmerländer. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft prognostiziert den Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts auf jährlich rund zehn Prozent, während er für die Staaten des Westens mit jährlich 0,17 Prozent recht gering ausfällt. Russland dürfte nicht in der Lage sein, so schnell andere Abnehmerstaaten für sein Gas und Öl zu finden, eine entsprechende Lieferinfrastruktur lässt sich nicht ohne Weiteres aus dem Boden stampfen. Tritt die Prognose von einem zehnprozentigen BIP-Minus pro Jahr ein, dürfte der Druck auf Putin enorm werden. Mittel, im Rahmen eines Wirtschaftskrieges zurückzuschlagen, hat er kaum. Zwar kann er Europa von sich aus den Gashahn zudrehen, aber das schadet seinem Land mehr als dem Westen. Russland hat zwar militärisch Gewicht, ist aber ökonomisch als Rohstofflieferant eher ein Zwerg. Sein Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung machte 2021 rund drei Prozent aus. Die Anteile der EU und der USA lagen bei je rund 15 Prozent.
Anmerkungen:
1) Jerg Gutmann u.a.: Sanctioned to Death? The Impact of Economic Sanctions on Life Expectancy and its Gender Gap, Trier 2018.
2) Siehe das Kapitel über Süd-Afrika in Lee Jones: Societies Under Siege: Exploring How International Economic Sanctions (Do Not) Work, Oxford 2015.