Runter vom Gaspedal

Die Diskussion um Degrowth bzw. das Postwachstum ist system- und kapitalismuskritischer geworden. Sogar grünes Wachstum gilt mittlerweile als Illusion. Der Globale Norden wird mit seinem Energie- und Ressourcenverbrauch fundamental in Frage gestellt – zumal die ökologische Krise auch eine Krise der Ungleichheit zwischen Nord und Süd ist.

Um drastische Worte ist UNO-Generalsekretär António Guterres selten verlegen: «Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren.» Das sagte er anlässlich der UNO-Klimakonferenz 2022 (COP27) angesichts sich häufender Dürren, Überschwemmungen und Starkregenereignisse. Denn trotz jahrzehntelanger Klimagespräche steigen die Treibhausgasemissionen immer weiter an – und mit diesen die globale Durchschnittstemperatur; das Jahr 2023 war das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Weiter äusserte Guterres: «Wir sind auf einem Highway in die Klimahölle und haben den Fuss auf dem Gaspedal.» Der UNO-Generalsekretär verfolgt eine politische Agenda; seine aufrüttelnden Worte sollten den Akteurinnen und Akteuren auf der UNO-Klimakonferenz Beine machen.

Doch auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben mitunter einen ähnlichen Zungenschlag. «Die Gesundheit der Ökosysteme, von denen wir und alle anderen Arten abhängen, verschlechtert sich schneller denn je zuvor. Wir untergraben die Basis unserer Volkswirtschaften, Lebensgrundlagen, unserer Ernährungssicherheit, Gesundheit und Lebensqualität weltweit.» Diese Aussage von Robert Watson, Vorsitzender des Weltbiodiversitätsrats, geht auf die Präsentation des ersten Berichts zur biologischen Vielfalt 2019 zurück. Diesem Bericht zufolge sind eine Million Tier- und Pflanzenarten aktuell vom Aussterben bedroht.

Der Verlust der biologischen Vielfalt ist neben der Klimakrise die dramatischste ökologische Katastrophe, mit der die Menschheit konfrontiert ist. Denn fast achtzig Prozent aller Wildpflanzen und zwei Drittel der weltweit angebauten, knapp 100 wichtigsten Nutzpflanzen sind ganz oder teilweise auf die Bestäubung durch Insekten angewiesen. Doch obwohl diese Probleme – das gilt für den Klimawandel stärker als für die Biodiversitätskrise – bekannt sind, und politisch an ihrer Lösung gearbeitet wird, ist kaum Besserung in Sicht.

Mit dem Wachstumszwang brechen

Warum ist das so? Die Wachstumskritik oder Degrowth-Diskussion hat darauf eine Antwort: Die gegenwärtigen ökonomischen Systeme müssen immer weiter wachsen, denn sinkt das Bruttoinlandsprodukt (BIP), kommt es zu einer Krise mit sozialen Folgen wie Verarmung und Erwerbslosigkeit. Mehr Wachstum des Bruttoinlandsprodukts indes geht einher mit steigendem Ressourcen- und Energieverbrauch, mit mehr Naturzerstörung und höheren Treibhausgasemissionen – trotz aller Hoffnungen, beides voneinander zu entkoppeln.

Wachstumskritik ist nicht gleich Wachstumskritik, die internationale Diskussion kennt viele Strömungen und Richtungen. Bis vor Kurzem dominierten sogenannte suffizienzorientierte Ansätze. Als Treiber des naturzerstörenden Wachstums werden bei diesem Ansatz vor allem die steigenden Konsumbedürfnisse der Menschen in den frühindustrialisierten Staaten identifiziert – und als Gegenstrategie dementsprechend Konsumverzicht und ein genügsamer Lebensstil (Suffizienz) propagiert. Erst in den letzten Jahren haben Degrowth-Strömungen an Bedeutung gewonnen, die die systemischen Ursachen kapitalistischer Ökonomien als entscheidende Wachstumsfaktoren ins Zentrum stellen. Der notwendige Tritt auf das Bremspedal, um ein weiteres Überschreiten der planetaren Grenzen zu verhindern , wäre demnach nur durch einen Bruch mit dem Wachstumszwang zu erreichen, der dem Kapitalismus inhärent ist. Zuletzt zielten die Degrowth-Diskussionsbeiträge zum Beispiel von Jason Hickel, Kohei Saito und Ulrike Herrmann in diese Richtung.

Jason Hickel: Fokus auf den Globalen Süden und den Kapitalismus

Der britisch-eswatinische Anthropologe und Hochschuldozent Jason Hickel ist mit Büchern wie «Die Tyrannei des Wachstums» (2018) und «Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind» (2022) bekannt geworden. Vor allem im letztgenannten Buch legt er seine wachstumskritische Agenda dar.

Jason Hickel kritisiert die inzwischen in der Mitte des politischen Spektrums vorherrschende Ansicht, dass es mit grünem Wachstum und Green New Deals möglich sei, die Ökonomien in ausreichend schnellem Tempo auf einen klimaneutralen Pfad zu bringen. Sein Hauptargument lautet: Zwar ist es möglich, die Wende zu hundert Prozent erneuerbarer Energie zu vollziehen, aber eben nicht schnell genug, um unter 1,5 Grad oder 2 Grad Celsius zu bleiben – sofern die Wirtschaft weiter wachsen soll. Er schreibt: «Mehr Wachstum bedeutet höheren Energiebedarf, und ein höherer Energiebedarf macht es erst recht schwierig (und wahrscheinlich unmöglich), genügend erneuerbare Kapazitäten zur Abdeckung des Bedarfs zu generieren, in der kurzen Zeit, die uns bleibt.»

Der Anthropologe nennt eindrückliche Zahlen, die das Ganze veranschaulichen: Acht Milliarden Megawattstunden sauberer Energie, vor allem Ökostrom, werden heute jährlich weltweit mehr erzeugt als vor zwanzig Jahren. Allerdings hat das Wirtschaftswachstum den Energiebedarf seit dem Jahr 2000 um 48 Milliarden Megawattstunden nach oben getrieben.

Zudem würde auch eine zu hundert Prozent auf erneuerbare Energien basierende Wirtschaft mitnichten andere ökologische Probleme wie beispielsweise die Biodiversitätskrise lösen. Vielmehr entstünden sogar weitere – zum Beispiel durch den verstärkten Abbau von Rohstoffen wie Lithium, Kupfer und Seltenen Erden im Globalen Süden.

Für Jason Hickel gibt es nur eine Lösung: Der Energie- und Ressourcenverbrauch muss drastisch reduziert werden, um «die Wirtschaft wieder in ein Gleichgewicht mit der lebendigen Welt zu bringen». Aber da der Energie- und Ressourcenverbrauch global und geschichtlich drastisch ungleich verteilt sei, müssten in erster Linie die Staaten des frühindustrialisierten Globalen Nordens ihren Naturverbrauch verringern. Viele Staaten des Globalen Südens dagegen befänden sich innerhalb der ökologischen Grenzen und müssten durchaus noch wachsen, um die Armut zu beseitigen.

Hickel geht es somit nicht um einen pauschalen Wachstumsverzicht, wie es der Degrowth-Diskussion oft unterstellt wird. Er macht vielmehr deutlich, dass lediglich die ressourcen- und energieintensiven Sektoren der Ökonomien im Globalen Norden schrumpfen müssen; andere Sektoren wie erneuerbare Energien oder der Pflegesektor jedoch sollten wachsen.

«Wachstumismus» ist das Problem

Nicht das Wachstum ortet Hickel entsprechend als Problem, sondern den «Wachstumismus»: das Streben nach Wachstum um seiner selbst willen oder zum Zweck der Akkumulation des Kapitals, und eben nicht in der Absicht, konkrete menschliche Bedürfnisse und soziale Ziele zu befriedigen.

Mit diesem Argument rückt neben der globalen Perspektive der Kapitalismus ins Zentrum von Hickels Argumentation. Er stellt fest, dass sich der Kapitalismus von den meisten anderen Wirtschaftssystemen in der Geschichte dadurch unterscheidet, dass er um den Imperativ einer stetigen Ausweitung oder eines «Wachstums» herum organisiert sei: «[…] eines ständig steigenden Niveaus von industrieller Extraktion, Produktion und Konsumtion, das wir in Gestalt des Bruttoinlandsprodukts (BIP) messen.» In diesem Zwang zum Wachstum macht Hickel gar eine totalitäre Logik aus: Jede Branche, jeder Sektor, jede nationale Wirtschaft müsse wachsen, die ganze Zeit, ohne dass irgendein Endpunkt auszumachen wäre.

Und er geht noch weiter, indem er auch die Ideologie der europäischen Aufklärung kritisiert. Diese habe mit dem Kapitalismus eine Überzeugung zur Vorherrschaft gebracht, die einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Menschen und dem Rest der lebendigen Welt postuliere. Dieser sogenannte Dualismus habe ganzheitliche Weltanschauungen zur Seite gedrängt und den Weg bereitet für die Auffassung, dass der Mensch das Recht habe, sich der Natur zu bemächtigen.

Hickels Degrowth-Vorschlag ist somit ein postkapitalistischer, der überdies eine radikal egalitäre und philosophische Komponente hat. Die ökologische Krise sieht er auch als «Krise der Ungleichheit». Sie werde fast ausschliesslich durch exzessives Wachstum in den einkommensstarken Ländern angetrieben, insbesondere durch extreme Akkumulation unter den Superreichen, während die Folgen den Globalen Süden und die Armen überproportional träfen. Degrowth in der Praxis würde gemäss Hickel somit nicht nur zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels und zum Erhalt der Artenvielfalt beitragen, sondern auch zu globaler sozialer Gleichheit – auf Basis einer Rückführung der im Kapitalismus privatisierten Gemeingüter und einer Ausweitung öffentlicher Güter.

Kohei Saito: Synthese von Degrowth und Kommunismus

Öffentliche Güter oder Commons spielen bei Kohei Saito ebenfalls eine zentrale Rolle. Der japanische Philosoph, der sich ausdrücklich in der Marx’schen Tradition verortet, hat mit seinem Buch «Capital in the Anthropocene», das während der Corona-Pandemie in Japan erschien, einen Riesenerfolg erzielt: Über eine halbe Million Exemplare gingen über die Ladentheke – und das, obwohl der Untertitel «Towards the Idea of Degrowth Communism» gleich zwei Reizwörter für den liberalen Mainstream bereithielt. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel «Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus» erschien 2023 und sorgte auch hierzulande für Aufsehen.

Saito steigt gleich mit einer steilen These ein: Der Glaube, dass der Erfolg im Kampf gegen die Erderwärmung davon abhänge, wie viel jeder Einzelne tut – Elektroauto fahren, PET-Flaschen kaufen, keine Plastiktüten nutzen – bringe nichts. Im Gegenteil: Er schade sogar, weil er uns davon abhalte, «die für die heutige Zeit wirklich wichtigen und mutigen Taten zu vollbringen» und stattdessen ein Konsumverhalten fördere, das wie ein Ablasshandel funktioniere, um das Gewissen zu entlasten. Die wirklich wichtige und mutige Tat ist für Saito, das kapitalistische System als solches infrage zu stellen.

Warum? Weil es ein System sei, das nicht nur die Menschen ausbeute, sondern auch die Natur. Uns im Globalen Norden, so Saito, sei das durch die Auslagerung der Belastungen in die Peripherie lange verborgen geblieben. Doch jetzt werden die Folgen der ökologischen Ausbeutung auch in den Zentren immer offensichtlicher. Green New Deals und klimakeynesianische Massnahmen, wie er sie nennt, hält Saito als Antworten auf diese Herausforderungen indes für ungenügend. Da ist er sich mit dem Anthropologen Jason Hickel einig.

Grünes Wirtschaftswachstum als Trugschluss

Die Kritik von Saito wie von Hickel an diesen Klimaschutzmassnahmen, die auf der trügerischen Hoffnung der Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung beruhen, ähnelt sich stark. Saito beschäftigt sich mit absoluter und relativer Entkopplung, mit Rebound-Effekten, die Effizienzsteigerungen (teils oder ganz) zunichte machen, und er zeigt, warum das Elektroauto das Klima nicht retten wird. Insgesamt beschreibt er die Bemühungen der Industrieländer um ein grünes Wirtschaftswachstum als eine «Auslagerung der gesellschaftlichen und natürlichen Unkosten in die Peripherie».

Auch die Hoffnung, mit neuen Techniken CO2 abzuscheiden oder aus der Atmosphäre zu saugen, enttäuscht Saito. Seine Schlussfolgerung: Halte man am Wirtschaftswachstum fest, sei es nicht möglich, die CO2-Emissionen in ausreichender Geschwindigkeit zu vermindern. Es bleibt also nur die Lösung, das Wirtschaftswachstum zu reduzieren.

Wie Jason Hickel stellt auch Kohei Saito fest, dass das nicht für jene Länder gilt, die noch Wirtschaftswachstum benötigen, um die Armut zu beseitigen. Er argumentiert weiter, dass ab einem bestimmten Niveau des Wirtschaftswachstums dieses nicht mehr mit einer Zunahme von Glück oder Lebenszufriedenheit einhergeht.

Im Gegensatz zu anderen Autorinnen und Autoren, zum Beispiel der britischen Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth, hält Kohei Saito Degrowth innerhalb des Kapitalismus nicht für möglich, weil «der Kapitalismus die Selbstvermehrung des Kapitals anstrebt». Nur eine Überwindung des Kapitalismus schaffe die Voraussetzung, den Naturverbrauch zu reduzieren. Der Philosoph Saito grenzt sich aus diesem Grunde von der alten Degrowth-Diskussion ab, weil diese nicht ausdrücklich den Kapitalismus in Frage stelle und den Zwang des Kapitals zur Akkumulation nicht thematisiere. Im Zentrum neuerer Degrowth-Beiträge (er nennt Hickel oder auch Giorgos Kallis) macht Saito «die Errichtung einer freien, gleichen, gerechten und nachhaltigen Gesellschaft mittels einer radikalen Reform der Arbeit und der Überwindung des auf Ausbeutung und Herrschaft basierenden Klassengegensatzes» aus. Und er fordert: «Degrowth der neuen Generation muss sich einer viel radikaleren Kritik bedienen: des Kommunismus.»

Von Genossenschaften und Kooperativen

Was bedeutet aber für Saito Kommunismus? Zentral ist ihm dabei der Begriff der Commons. Damit meint er gemeinschaftlich produzierte, organisierte und genutzte Güter sowie gesellschaftlich geteilten und verwalteten Reichtum. Gemeinbesitz oder -güter sind ältere Begriffe. Marx zum Beispiel hatte in seiner Analyse vor allem gemeinschaftlich genutztes Land vor Augen. Mit der massenweisen Vertreibung von Bauern von ihrem und durch das Privatisieren von Gemeingütern habe der Kapitalismus mit der ursprünglichen Akkumulation Knappheit erzeugt. Die ihrer Lebensgrundlage beraubten Bauern fanden dann gezwungenermaßen Anstellung in den entstehenden Fabriken fanden. Der Kommunismus ziele auf die Wiederaneignung dieser Commons und damit auf die «Wiederherstellung eines radikalen Überflusses».

Der japanische Philosoph verdeutlicht das am Beispiel von Elektrizität. Energiegenossenschaften in dezentraler Bürgerhand könnten eine Bedrohung für den Kapitalismus sein, weil das Sonnenlicht nicht künstlich verknappt werden kann. Aber nicht nur die Energieversorgung muss im Degrowth-Kommunismus durch Commons organisiert werden, sondern auch die Produktionsmittel selbst. Auch hier sind die entscheidenden Akteure Genossenschaften, namentlich Arbeitergenossenschaften oder Arbeiterkooperativen. Sie würden, so Saitos, zukünftig von der Arbeiterschaft gemeinsam finanziert und verwaltet und kämen ohne Kapitalisten und Aktionäre und Aktionärinnen aus.

Das ist keineswegs reine Zukunftsmusik. In Japan gibt es seit bald vierzig Jahren Arbeiterkooperativen in den Bereichen Pflege, Kinderbetreuung, Reinigung sowie Forst- und Landwirtschaft; 15 000 Menschen sind dort beschäftigt. Das wohl bekannteste Beispiel einer Kooperative, die Mondragón-Genossenschaft im spanischen Baskenland, wird von Keito Saito ebenfalls erwähnt.

«Je mehr radikaler Überfluss also wiederhergestellt wird, desto kleiner wird die kommerzielle Sphäre. Dadurch sinkt das BIP, wir haben Degrowth», stellt Saito fest. Das Spannende dabei sei, stellt Saito fest, dass die Menschen dadurch nicht ärmer würden. In einem Leben, das nicht mehr dem Diktat von Arbeitshetze und Geldsorgen unterliege, habe man, so der Philosoph, mehr Zeit für gegenseitige Hilfe und Aktivitäten, die nicht unter dem Stern des Konsumismus stehen: Sport, Wandern oder im Park die Natur geniessen, Gitarre spielen usw.

Wer aber soll den Degrowth-Kommunismus durchsetzen? Saito sieht die «Saat» dafür vor allem in Klimabewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion, aber auch in der Bauernbewegung Via Campesina, in der bereits rund 200 Millionen Menschen weltweit aktiv sind, sowie in der südafrikanischen Kampagne für Ernährungssouveränität SAFSC. Kohei Saitos zentraler Akteur ist also nicht der Staat, sondern es sind dezentrale Genossenschaften und soziale Bewegungen.

Ulrike Herrmann: Britische Kriegswirtschaft als Modell

Einen anderen Ton schlägt Ulrike Herrmann an, Wirtschaftsredaktorin der Berliner Tageszeitung «taz» und Buchautorin. Ihr Buch «Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden» erschien 2022, war in Deutschland ein Riesenerfolg und wurde breit diskutiert. Herrmanns Blick auf die Geschichte des Kapitalismus ist – im Unterschied zum Anthropologen Jason Hickel und zum Philosophen Kohei Saito – viel positiver. So stellt sie fest: «Der Kapitalismus hat den Hunger überwunden und stattdessen Überfluss produziert, hat ‹Butterberge› aufgetürmt und ‹Milchseen› gefüllt.»
Doch jetzt plädiert die Autorin für die Überwindung des Kapitalismus – und bricht damit mit der keynesianischen Tradition, die das Wachstum des Bruttoinlandprodukts durch Staatsausgaben stimulieren will und auf Grundlage dessen eine gerechtere Verteilung des erwirtschafteten Reichtums zwischen den Unternehmen und Arbeitern innerhalb des Kapitalismus anstrebt.

Gemäss Ulrike Herrmann hat der Kapitalismus eine fundamentale Schwäche: Er erzeugt nicht nur Wachstum, sondern muss auch wachsen, um stabil zu sein. Wächst er nicht, bricht er zusammen. Doch Wachstum in einer endlichen Welt sei schlicht nicht möglich, grünes Wachstum eine Illusion, was Herrmann durchaus vergleichbar mit Jason Hickel und Kohei Saito ausführlich und überzeugend darlegt. Ihr Kernargument hier: Ökostrom werde knapp und teuer bleiben, der Abschied von fossilen Energien sei jedoch zwingend notwendig, um die Erde nicht in eine lebensfeindliche Heisszeit zu befördern. So bleibe nur der Ausweg, den Energieverbrauch zu senken, weniger Güter zu produzieren, kurz: die Wirtschaft zu schrumpfen.

Herrmann spricht von einem «Rückbau des Kapitalismus», der ein «grünes Schrumpfen» planvoll ermöglichen soll, und schlägt eine ökologische Kreislaufwirtschaft oder eine «Überlebensökonomie» vor, in der nur verbraucht wird, was man auch recyceln kann. Die entscheidende Frage jedoch ist: Wie kommt man da hin? Hier bringt die Journalistin als Vorbild die britische Kriegswirtschaft ab 1939 in die Diskussion ein.

Wenn der Staat die Güter gerecht verteilt

Die Briten waren von der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs überrascht worden und mussten innert kürzester Zeit auf Kosten der zivilen Produktion ihre Wirtschaft in eine Kriegsökonomie transformieren. Fabriken waren gezwungen, Kapazitäten für die Waffenproduktion freizusetzen. Das ging nur zulasten der Friedenswirtschaft; sie musste schrumpfen. Der Staat nahm eine zentrale Rolle ein, indem er vorgab, wovon wie viel produziert werden sollte. Güter wurden rationiert. Aber: Der Staat sorgte auch dafür, dass diese knappen Güter gerecht verteilt wurden. Das führte dazu, dass es den Armen besser ging als zuvor, «obwohl insgesamt ein Drittel weniger Konsumgüter zur Verfügung standen». An Zucker, Fett und Fleisch hatte es den Armen vor 1939 gemangelt, in der Kriegswirtschaft bekamen sie es zugewiesen; Milch und Eier gab es indes nur für Kinder, Schwangere und stillende Mütter. Die Folge: «Die staatlich verordnete Gleichmacherei erwies sich als ein Segen: Ausgerechnet im Krieg waren die unteren Schichten besser versorgt als zuvor.» Die britische Regierung normierte auch Möbel und Kleider, um Material- und Arbeitsaufwand zu sparen. Ein Kleid beispielsweise durfte nur zwei Taschen und fünf Knöpfe aufweisen.

Herrmann nennt die Kriegswirtschaft in Abgrenzung zum sowjetischen Modell eine «private Planwirtschaft». «Der Staat gab vor, was produziert wurde – aber die Unternehmen blieben im Eigentum ihrer Besitzer.» Firmen, Handwerksbetriebe, Restaurants oder Läden wurden nicht verstaatlicht, sondern konnten selbst entscheiden, wie sie ihre Betriebe führten. Der Staat steuerte indirekt, indem er Rohstoffe, Kredite und Arbeitskräfte zuteilte. Weil während des Kriegs Arbeitskräfte knapp waren, verfügte der Staat über ein zentrales Steuerungsinstrument, das sogenannte «Manpower Budget».

Es geht Ulrike Herrmann aber nicht darum, die Schweiz oder Deutschland auf das materielle Versorgungsniveau von 1940 zurückzuführen. Deutschlands Wirtschaft sei in den letzten achtzig Jahren um das Zehnfache gewachsen. «Selbst wenn von diesem gewaltigen Wohlstand nur die Hälfte übrigbliebe, wären wir immer noch so reich wie im Jahr 1978», stellt die Autorin fest. Ein Jahr, in dem es den Menschen keineswegs schlechter ging als heute, wie die Glücksforschung gezeigt hat.

Es ist der Mechanismus der Kriegswirtschaft, um den es sich bei Ulrike Herrmann dreht. Dieser könnte ein Modell liefern, wie eine private Planwirtschaft die zivile Produktion geordnet schrumpfen lässt, damit die ökologischen Grenzen eingehalten werden – und knappe Güter egalitärer verteilt werden, damit der soziale Frieden erhalten bleibt. Dem Staat kommt damit bei Herrmann – im Unterschied zu Hickel und Saito – eine zentrale Rolle zu. Selbst in normalen Zeiten spiele der Staat eine tragende Rolle, schreibt sie, weswegen es jederzeit möglich wäre, wieder in eine Art Kriegswirtschaft zu wechseln, um das Klima zu retten. Ulrike Herrmann grenzt sich dabei explizit von ökosozialistischen Konzepten ab. Die Geschichte habe gezeigt, schreibt sie, dass staatliche Planung nicht funktioniere, wenn sie zugleich fast das gesamte Eigentum abschaffe.

Fazit

Was ist die Essenz der Beiträge von Jason Hickel, Kohei Saito und Ulrike Herrmann zur Degrowth-Diskussion? Fünf Punkte sind hervorzuheben:

1. Alle drei haben eine fundierte Kritik an der vorherrschenden liberalen Klima- und Ökologiepolitik vorgelegt. Grünes Wachstum, so zeigen sie, ist eine Illusion.

2. Sie machen die kapitalistische Wirtschaftsweise mit ihrem inhärenten Zwang zur Kapitalakkumulation, der von zunehmender Naturzerstörung und steigenden Emissionen nicht zu trennen ist, als wichtigsten Grund für das unaufhörliche Streben nach mehr Wachstum aus. Soll die Wirtschaft in Einklang mit den planetaren Grenzen gebracht werden, muss die Ökonomie anders als kapitalistisch strukturiert sein. Jason Hickel spricht von einer postkapitalistischen Welt, Ulrike Herrmann von einer Überlebensökonomie und Kohei Saito vom Degrowth-Kommunismus.

3. Alle drei räumen mit Mythen über die Wachstumskritik auf: Das Bruttoinlandprodukt ist nicht zentral, sondern nur eine hochaggregierte Zahl, die zu Recht kritisiert wird. Entscheidend ist der Energie- und Ressourcenverbrauch. Dieser muss zwar global insgesamt sinken, aber diese Reduktion muss in erster Linie von den USA und Europa getragen werden. Zugespitzt: Die Superreichen, die Anteile an den fossilen und energieintensiven Konzernen halten, und die oberen Klassen müssen verzichten.

4. Diese Erkenntnisse verdeutlichen, dass Degrowth ein egalitäres Projekt ist, das für soziale Gleichheit sorgt.

5. Bis dato hat die Wachstumskritik die Produktion nie so deutlich ins Zentrum gerückt; bislang lag der Fokus auf Konsum und einem genügsamen Lebensstil der Individuen.

Diese Verschiebung der Kritik ist überzeugend, ein Nachteil geht jedoch damit einher: Wenn das System die Schuld trägt, kann sich das Individuum aus der Verantwortung stehlen. Oder wie es ein Rezensent von Saitos Buch formulierte: Bei der Lektüre von Saitos Buch fühle sich der Leser, die Leserin primär als Opfer widriger Umstände – das wirke fast schon wie Opium.

In der Logik stimmt es dann auch, dass sich das Individuum bei einem suffizienzorientierten Lebensstil als handelnder Akteur erleben kann. Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein geändertes Konsumverhalten wie ein Ablasshandel fungiert und das Gewissen entlastet, jedoch nichts am insgesamt zu hohen Energie- und Ressourcenverbrauch ändert. Rebound-Effekte können auch bei einem genügsamen Lebensstil eintreten. Fragen beispielsweise viele Menschen in Europa weniger Energie nach, führt dieser Nachfrageausfall auf globalen Märkten zu einem Preisrückgang. Dieser wiederum versetzt Konsumschichten im Globalen Süden in die Lage, diese Energie nachzufragen.

Vielleicht ist die Synthese von beidem ein Ausweg. Es ist offenkundig, dass die Menschen im Globalen Norden, je nach Klassenposition und sozialer Lage, einen genügsameren Lebensstil in Bezug auf individuelle Konsumgüter (aber nicht in Bezug auf die Nutzung öffentlicher Güter) werden führen müssen. Das jedoch muss einhergehen mit einer postkapitalistischen Ökonomie, in der es global feste Obergrenzen für den Natur- und Energieverbrauch gibt und in der der Zwang zur Kapitalerweiterung aufgehoben ist. Als erster Tritt auf das Gaspedal des Kapitalismus und als Modell könnte dabei durchaus der Mechanismus der britischen Kriegsökonomie dienen.

Literaturhinweise

Alcott Blake: Jevons’ Paradoxon (Reboundeffekt). In: D’Alisa Giacomo, Demaria Federico, Kallis Giorgos (Hrsg.): Degrowth – Handbuch für eine neue Ära. München, 2016, S. 142–146.
Herrmann Ulrike: Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden. Köln, 2022.
Hickel Jason: Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind. München, 2022.
Saito Kohei: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. München, 2023.

aus: Almanach Entwicklungspolitik 2025. Postwachstum – Ausweg aus Klimakrise und Armut?, hrsgg. von Caritas Schweiz

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