Dürren in den USA und Russland lassen die Agrarrohstoffpreise steigen. Es droht eine weitere Verschärfung der Hungerkatastrophe.
Während in Deutschland derzeit viel über den schlechten Sommer gemosert wird, zeigt sich die Sonne über Nordamerika seit Wochen von ihrer gnadenlosen Seite. In Presseberichten finden sich immer mehr Schreckensnachrichten über die Dürre in den USA. Heraufbeschworen werden die Dirty Thirties – jener Zeit, als die Jahrhundertdürre mit der Weltwirtschaftskrise zusammenfiel und die in John Steinbecks »Früchte des Zorns« literarisch verarbeitet wurde. Hinzu kommen jüngst noch Meldungen aus Russland, das ebenfalls unter einer Dürre leidet.
Zu befürchten ist, dass die extremen Hitzeperioden erhebliche Ernteausfälle zur Folge haben und die Lebensmittelpreise erneut ansteigen, was zu Hungeraufständen wie in den Jahren 2008 und 2011 führen könnte. Vor fünf Jahren kam es in mehr als 25 Ländern Afrikas, Asiens, Amerikas und der Karibik zu sogenannten food riots. Besonders betroffen waren Burkina Faso, Kamerun, Senegal, Haiti, Mauretanien, Ägypten und Marokko. Und auch die Aufstände in arabischen Ländern vor mehr als einem Jahr hatte ihre Ursache nicht zuletzt in einer erneuten Preissteigerung bei Lebensmitteln. Die Bilder von ägyptischen Demonstrantinnen und Demonstranten mit Brot in den Händen veranschaulichten das.
Die gegenwärtigen Sorgen resultieren aus der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten und Russland zu den wichtigsten Exporteuren vor allem von Weizen gehören. Tatsächlich sind die Preise in den vergangenen Wochen bereits gestiegen, Weizen verteuerte sich im Juli um 22 Prozent. Auf die Lebensmittelpreise für die Endverbraucher wirken sich Veränderungen der Agrarrohstoffpreise in der Regel nach drei Monaten aus. Ebenfalls etwa ein Vierteljahr später führen steigende Weizen- und Sojapreise oft auch zu steigenden Reispreisen, da jene Lebensmittel teils durch Reis substituiert werden und sich entsprechend die Nachfrage erhöht. Für die Armen der Südhalbkugel, die bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für das tägliche Brot ausgeben, steht also in der Tat zu befürchten, dass viele weitere Millionen an Hunger und Unterernährung leiden werden. Die letzten starken Anstiege der Lebensmittelpreise 2007–2008 und 2010–2011 ließen Schätzungen zufolge 100 bzw. 40 Millionen Menschen mehr hungern; die Gesamtzahl der Hungernden beträgt derzeit rund eine Milliarde. Im Grunde handelt es sich um eine seit Jahrzehnten andauernde Hungerkatastrophe, die in den vergangenen Jahren immer schlimmer wurde. Wohl gemerkt bei einer Lebensmittelproduktion, die jedem Menschen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation rechnerisch 2 700 Kalorien Tag zur Verfügung stellen könnte – und somit mehr als die etwa 2 200 benötigten.
Nun ließe sich einwenden, dass es Dürren schon immer gegeben hat. Und so wenig wie der Mensch veranlassen kann, dass der Regen von unten nach oben fällt, kann er Dürren oder andere sogenannte Naturkatastrophen beeinflussen (ob die Dürre auf den menschengemachten Klimawandel zurückzuführen ist, lassen wir hier unberücksichtigt). Die entscheidenden Fragen sind jedoch: Welche Schutzmechanismen hat eine Gesellschaft, um sich auf »Naturkatastrophen« vorzubereiten? Und was sind die Ursachen für die steigenden Preise und vor allem für das neue Phänomen der heftigen Preisschwankungen, Volatilität genannt?
Die indischen Ökonomin Jayati Ghosh und ihr Kollege C. P. Chandrasekhar schreiben in dem Blog Triple Crisis, dass sich das Verhältnis von Angebot und Nachfrage in den vergangenen Jahren nicht wesentlich geändert habe. Die Ursachen müssen andere sein. Sie vermuten, dass der Einfluss von Gerüchten und damit zusammenhängend die Rolle der Medien hoch zu veranschlagen sei. So habe es seit Juni 2010, als die Preise auf dem Weltmarkt drastisch anstiegen, zahlreiche Medienberichte über Missernten in der Ukraine und Russland, beides wichtige Weizenexporteure, gegeben; zudem wurde ausgiebig der russische Exportstopp für Weizen kritisiert. All das habe mit Sicherheit die Preiserwartungen auf den Future-Märkten, wo mit abgeleiteten Finanzprodukten auf Rohstoffe (Derivaten) gehandelt wird, hochgetrieben. Interessanterweise hat die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) nachträglich festgestellt, dass die globale Weizenproduktion im besagten Zeitraum zugenommen hat, insbesondere dank einer guten Ernte in Asien.
Ein Gewinner dieser Entwicklung war der weltweit größte Rohstoffhändler, die Unternehmensgruppe Glencore. Sie konnte im Jahr 2010 hauptsächlich aufgrund des Handels mit Weizen ihren Profit verdoppeln. Ghosh und Chandrasekhar vermuten, dass gegenwärtig etwas Ähnliches vor sich geht. Die Medien prognostizieren wegen der Dürre in den USA eine schlechte Ernte, die Preise steigen an, obwohl die FAO noch von einer weltweiten Rekordweizenernte für dieses Jahr ausgeht.
An dieser Argumentation ist etwas dran, sie ist jedoch unzureichend. Der Vergleich mit der Situation in den USA erscheint überzogen. Offenkundig sind Ernteausfälle wegen der extremen Trockenheit zu erwarten. Das US-amerikanische Landwirtschaftsministerium geht in seiner jüngsten Prognose bereits von verminderten Ernteerträgen im Vergleich zum Vorjahr aus. Vor allem aber müsste die Erklärung um die Bedeutung der Spekulation in einer deregulierten, von einer Überakkumulation an Kapital charakterisierten kapitalistischen Ökonomie ergänzt werden. Der Journalist Harald Schumann, der im Auftrag der NGO Foodwatch die Studie »Die Hungermacher« verfasst hat, stellt fest: »Die Erklärung für all diese scheinbar widersinnigen Preisbewegungen ist nicht allein die vermehrte Spekulation an sich. Entscheidend ist vielmehr, dass die Finanzialisierung des Rohstoffhandels die Märkte für Rohstoffe aller Art zu einem Teil des gesamten globalen Kapitalmarktes gemacht hat.«
Und damit stellt sich die entscheidende Frage – nach den Schutzmechanismen, die eine Gesellschaft für den Fall von »Naturkatastrophen« entwickelt hat, oder allgemeiner nach der Art, wie sie mit den lebensnotwendigen Nahrungsmitteln umgeht. Hier ist der Fall eindeutig: Eine Gesellschaft, die Mais, Weizen und Soja zum Spielball des nach neuen Verwertungsmöglichkeiten suchenden Kapitals macht sowie aus Nahrungsmitteln angeblich ökologische Treibstoffe für den Individualverkehr herstellt, sollte sich über Hungerkatastrophen und soziale Unruhen nicht wundern. In dieser Konstellation fungieren die Nachrichten über die gegenwärtige Dürre in den USA als Anstoß für die spekulativen Kapitalanleger, stärker in die Rohstoffmärkte zu investieren. Immer weitere Anleger folgen, was zu einer Blasenbildung führt; die Preise für Agrarrohstoffe schießen in die Höhe – bis die Blase wieder platzt und die Preise abstürzen. Das zumindest ist das Ergebnis einer Studie des New England Complex Systems Institute, welche die beiden Faktoren Spekulation und Bioethanol-Produktion für die starke Volatilität und den längerfristigen Anstieg der Rohstoffpreise der vergangenen acht Jahre verantwortlich macht. In einem Modell zeigen die Autoren, dass ohne das spekulative Kapital der Preisanstieg für die Agrarrohstoffpreise recht moderat wäre.
Wie aber konnte das anlagesuchende Kapital einen solchen Einfluss gewinnen? In den neunziger Jahren begann die Investmentbank Goldman Sachs eine erfolgreiche Lobbyarbeit, mit der nicht nur die Aufhebung der Regulierungen aus den dreißiger Jahren, sondern auch die Zulassung weitaus komplizierterer Future-Kontrakte erreichte. Die Anzahl von Rohstoff-Derivaten nahm rapide zu. Im Jahr 1991 wurden auch die Rohstoff-Indexfonds erschaffen. Diese bestehen aus einem Portfolio aus oft 20 verschiedenen Anlagen in Rohstoffen wie Gold, Öl, Kupfer, Weizen etc. Eine Besonderheit dieser Indexfonds ist, dass sie im Gegensatz zu den Future-Kontrakten nicht an den großen Rohstoffbörsen, zum Beispiel in Chicago, gehandelt werden und deshalb keiner Kontrolle unterliegen. Man nennt diesen außerbörslichen Handel »over the counter« (OTC). Durch diese Anlagemöglichkeit verschafften sich zudem institutionelle Investoren wie Pensionsfonds, Hedgefonds etc. Zugang zu den Rohstoffmärkten. Wie viel Kapital auf diesem Wege auf die Rohstoffmärkte floss, kann nur gemutmaßt werden, eben weil ein Großteil der Derivate, Annahmen zufolge 85 bis 90 Prozent, außerbörslich gehandelt wird. Als wahrscheinlich gilt, dass sich die Anzahl der Rohstoff-Derivate in den Jahren zwischen 2002 und 2008 mehr als verfünffacht hat.
Freilich gibt es in der Flut von Untersuchungen über die Ursachen der Preisanstiege und Volatilität zahlreiche, die die Rolle von spekulativem Kapital und Rohstoff-Futures als nicht ausschlaggebend betrachten. Als wichtiger werden Faktoren wie die steigende Nachfrage aus China und Indien, Kapriolen des Wetters, niedrige Lagerbestände, eine wachsende Weltbevölkerung, Wassermangel, Exportstopps und Desertifikation angesehen. Zumeist handelt es sich indes um Studien, die den Einfluss des OTC-Handels nicht berücksichtigen. Andererseits spielen einige dieser Faktoren langfristig tatsächlich eine Rolle. Kurzfristig sorgt die Spekulation für heftige Preisschwankungen, sie überzeichnet und verstärkt die Trends der sogenannten langfristigen Fundamentaldaten wie Angebot und Nachfrage.
Hinzu gesellt sich ein weiterer Faktor, der für die Verschärfung der Hungerkrisen der vergangenen Jahre bedeutsam ist: die neoliberale Umstrukturierung der agrarischen Produktionsstrukturen in den vergangenen Jahrzehnten durch die berühmt-berüchtigten Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds. Diese sorgten dafür, dass die landwirtschaftliche Produktion der Kleinbauern der Südhalbkugel einseitig auf den Export ausgerichtet wurde. Lagerbestände und Schutzzölle etwa wurden im Zuge dessen abgebaut, so dass subventionierte Agrargüter aus den USA und Europa die dortigen Produzenten niederkonkurrierten.
Die Autoren des New England Complex Systems Institute geben somit einen düsteren Ausblick: Die dritte Hungerkrise nach 2007/08 und 2010/11 wird für Ende des Jahres prognostiziert – hoffentlich ein Irrtum.
(aus: Jungle World Nr. 33,16.8.2012)