Die Protestwellen in den Maghreb- und den arabischen Staaten kamen völlig unerwartet. Niemand hätte noch vor wenigen Monaten die Abdankung der tunesischen und ägyptischen Herrscher vorauszusagen gewagt. Zu Recht sind daher die Medien derzeit voll von Analysebemühungen. Insbesondere aber die bürgerlichen Massenmedien geben dabei eine eingeschränkte Sicht der Dinge wieder. Doch was offenbart ein Blick in linke und wissenschaftliche Medien?
In analyse & kritik findet sich ein interessanter Beitrag von Katharina Lenner, der sich in Anschluss an Edward Said mit dem unterschwelligen Orientalismus der westlichen Berichterstattung über die Ereignisse in Ägypten beschäftigt. Die Autorin paraphrasiert u.a. Slavoj Zizek, der bemerkte, dass in den ägyptischen Protesten universalistische Forderungen nach Freiheit, Würde und ökonomischer Gerechtigkeit aufscheinen, die das ganze Gerede um Differenz und die Präferenz von AraberInnen oder Muslimen für autoritäre Machthaber lächerlich erscheinen lassen. Die herkömmliche Ansicht, dass der Islam und westliche Demokratien unvereinbar seien, steht mithin zur Disposition. Lenner macht allerdings darauf aufmerksam, dass die Fokussierung der westlichen liberalen Medien auf die Roller der neuen Kommunikationsmittel wie Facebook und Twitter tendenziell die orientalische Wahrnehmung bestärke. Denn die Konzentration auf ein Medium, das sich vom Westen aus ausgebreitet hat, transportiere einen eigentlich kolonialen Gedanken: »guter Wandel« kommt aus dem Westen. Das soll die Funktion der Medien nicht gänzlich in Abrede stellen.
Unterstützung findet Lenners Argument in dem auf englisch erschienenen Buch »Blogistan _ The Internet and Politics in Iran«, welches in der Jungle World rezensiert wird. Die Autoren stellen in diesem fest, dass es kaum Beweise dafür gebe, dass Twitter, Facebook oder Youtube eine wichtige Rolle beim Organisieren von Demonstrationen gespielt haben. Vielmehr sei anzunehmen, dass Flugzettel und mündliche Kommunikation eine viel größere Rolle spielten. Die Nutzung der neuen Medien hat zudem eine Klassenkomponente: In den ägyptischen Slums spielen sie eine geringere Rolle als in den städtischen Mittelklassenmilieus.
Die Fokussierung auf die Web 2.0-Medien geht einher mit einer weitgehenden Ignorierung der Verwurzelung der Proteste in Ägypten in den seit 2004 einsetzenden Streikwellen von ägyptischen ArbeiterInnen sowie im Allgemeinen der sozialen Lage der abhängig Beschäftigten und der im so genannten informellen Sektor tätigen. Joel Beinin (vgl. auch das Interview in der März-Ausgabe von Sozialismus) hat 2010 eine Studie über den Kampf der ägyptischen Arbeiterbewegung veröffentlicht. Im Fazit heißt es: »Das Aufkommen der Arbeiterproteste, welche 2004 begannen und bis 2010 anhielten, ist die mächtigste Bewegung für Demokratie in Ägypten seit mehr als einem halben Jahrhundert.« Eine Einschätzung, zu der im Groben unlängst auch die britische Zeitung Guardian kam, und zwar auch in Bezug auf Tunesien.
Insbesondere gegen die Interpretation der Proteste als vornehmlichen Kampf für bürgerlich-liberale Werte argumentiert Adam Hanieh in seinem höchst lesenswerten Beitrag. Er betont, dass sich das Politische nicht vom Ökonomischen trennen lasse und dass – wenngleich das nach Pathetik und Phraseologie klinge – sich die Ursachen für die Ereignisse ohne die Kategorie Klassenkampf nicht darlegen lassen. Er analysiert die sozialen Ursachen der ägyptischen Massenproteste, die zum Sturz Mubaraks führten, im Kontext der globalen kapitalistischen Ökonomie und insbesondere auch in Zusammenhang mit der durch die neoliberalen Strukturanpassungsprozesse durch IWF und Weltbank verordneten Umstrukturierung der ägyptischen Ökonomie hin zu Liberalisierung, Privatisierung, Exportorientierung sowie Abschluss und Einrichtung von Freihandelsabkommen bzw. -zonen und Erhöhung der Lebensmittelpreise insbesondere seit 2008. Dies hatte, wie in anderen Staaten auch, die bekannten Folgen: eine höchst ungleiche Vermögenskonzentration zuungunsten der unteren Klassen und Schichten.
Der informelle Sektor hat eine enorm wichtige Bedeutung bekommen, sodass die Leiterin der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients an der FU Berlin, Cilja Harders von einem Sozialvertrag der Informalität spricht, der im Zeitalter neoliberaler Wirtschaftsreformen die wohlfahrtsstaatliche Rolle minimiere und dazu geführt habe, dass ein oligarchisches System entstanden ist, welches die Kosten für Liberalisierung und Privatisierung (Inflation, Nahrungsmittelkrise, Subventionsabbau) unabhängig von längerfristigen Entwicklungserwägungen auf die verarmende Bevölkerungsmehrheit abwälzt.
In der herkömmlichen Wahrnehmung wird zudem kaum ein Zusammenhang zwischen den sprunghaften Anstiegen der Lebensmittelpreise 2007/08 gesehen, der Auslöser für die massenhaften Streiks und Sit-Ins in Ägypten mit dem Zentrum in Mahalla al-Kubra im April 2008 – daher auch als Brotunruhen oder Hungerrevolten bezeichnet. Ray Bush charakterisiert die Ereignisse von Mahalla zwar nicht als Beginn einer Arbeiterrevolution, aber als eine Verbindung von Demonstrationen gegen hohe Lebensmittelpreise, Kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen sowie für eine Verbesserung des sozialen Systems im Allgemeinen. Der Aufstand vom 6. April 2008 in Mahalla war im Übrigen auch Ausgangspunkt für die Gründung der »Bewegung 6. April«, die zahlreiche Demonstrationen in Ägypten organisiert hat. Zwar ist der spekulationsgetriebene Faktor auf den Nahrungsmittel- und Rohstoffmärkten umstritten, unstrittig ist jedoch, dass infolge der globalen Finanzkrise anlagesuchendes Kapital verstärkt auf diese Märkte strömte. Laut FAZ (15.1.2011) geht der Preisauftrieb im Agrarbereich darum derzeit eher von Käufen kurzfristig orientierter, spekulativer Anleger aus als von fundamentalen Faktoren wie etwa Angebotsknappheit – allen Meldungen über durch Wetterkapriolen verursachte Missernten zum Trotz. Im Falle nicht nur Ägyptens trafen diese spekulationsbedingten Faktoren auf innere agrarische Verhältnisse, die Bush zufolge durch Mubaraks Konterrevolution im Agrarbereich ab Ende der 1980er Jahre zu mehr ländlicher Armut und einer Stagnation der Produktivität geführt haben, z.B. indem die redistributiven Reformen aus der Nasser-Ära zurückgenommen wurden.
Zahlreiche historische Analogien werden aktuell bemüht, um die Ereignisse einzuordnen: Von der französischen Revolution 1789 und der iranischen Revolution 1979 ist die Rede sowie von der »Wende« in den Ostblockstaaten 1989/90. Bernhard Schmid diskutiert, was es mit diesen Vergleichen auf sich hat. Seiner Einschätzung nach taugen sie alle nicht, vielmehr werden die Aufstände etwas Neues hervorbringen.
(aus: www.sozialismus.de, 21.2.2011)