Deutsche Zustände, Folge 9, hrsg. von Wilhelm Heitmeyer, Suhrkamp, Berlin 2010, 348 S., 15,00 Euro
Der Veröffentlichung der jüngsten Studie der Friedrich Ebert-Stiftung »Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010« folgten zwei weitere Untersuchungen mit ähnlichen Fragestellungen: Zum einen stellten Münsteraner Religionssoziologen ihre Resultate einer repräsentativen Untersuchung in fünf europäischen Ländern zu religiöser Vielfalt vor. Zum anderen wurde der neue Band des Langzeitprojekts zum so genannten Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) »Deutsche Zustände« publiziert. Ein gemeinsames zentrales Ergebnis aller drei Studien ist, dass die Islamfeindlichkeit in Deutschland signifikant zugenommen hat. Beachtenswert ist dies, weil die Folgen der Sarrazin-Debatte in diesen Ergebnissen noch nicht enthalten sind. Insofern liefern die drei Befragungsergebnisse weitere Belege für die Ausbreitung von »Ideologien der Ungleichwertigkeit« in der Mitte der deutschen Gesellschaft.
Die neue Heitmeyer-Untersuchung überrascht hierbei mit dem Ergebnis, dass insbesondere in den höheren Einkommensschichten (ab 2.598 Euro netto) die Bereitschaft schwindet, schwache Gruppen zu unterstützen (20f.). Ebenso habe sich in dieser Gruppe das Empfinden durchgesetzt, ungerecht behandelt zu werden. Und das obwohl, wie der Elitensoziologe Michael Hartmann in seinem Beitrag »Klassenkampf von oben. Die gezielt soziale Desintegration« darlegt, die Umverteilung von unten nach oben zugenommen hat. Die in den Umfragen von 2010 konstatierte Zunahme von Islamophobie, Einforderung von Etabliertenvorrechten und tendenziell auch von fremdenfeindlichen Einstellungen geht insofern auf die Zunahme in den höheren Einkommensschichten zurück (23f.). Zwar sei es weiterhin so, dass die meisten gruppenbezogenen Abwertungen von Menschen nach wie vor in den unteren Schichten existierten, doch tendenziell vollziehe sich eine Angleichung. Der oftmals angenommene immunisierende Faktor Bildung scheint mithin derzeit in den oberen und besser gebildeten Schichten nicht mehr zu wirken. Das veranlasst die AutorInnen, von einer »rohen Bürgerlichkeit« zu sprechen, die ihren gepflegten Konservatismus unter dem Druck der Verhältnisse abzustreifen scheine. »Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen in höheren Einkommensgruppen scheinen sich in unzivilisierte, intolerante – verrohte – Einstellungen zu wandeln.« Es gehe, so heißt es in der Presseinformation, um die Sicherung bzw. Steigerung eigener sozialer Privilegien durch Abwertung und Desintegration volkswirtschaftlich etikettierter Nutzloser sowie um die kulturelle Abwehr durch Abwertung (etwa hinsichtlich der Islamfeindlichkeit).
Insgesamt ergab die Befragung von 2.000 Personen, dass bei 20% von ihnen rechtspopulistische Einstellungen festzustellen seien. Unter rechtspopulistische Einstellungen werden dabei Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und autoritäre Aggression gefasst.
Der interessanten Frage, inwiefern die Krise sich auf die Verbreitung von z.B. rechtspopulistischen Einstellungen auswirkt, gehen die vornehmlich an der Uni Bielefeld tätigen Forscher schon seit der vorletzten Folge von »Deutsche Zustände« nach. Vor einem Jahr hatten sie als zentrales Fazit festgestellt, dass die Krise noch kaum negative Entwicklungen offenbart habe. So sei z.B. die Abwertung von Langzeitarbeitslosen – allerdings ausgehend von einem hohen Niveau – leicht rückläufig. Wie sieht es nun ein Jahr später bei weiter offiziell rückläufigen Arbeitslosenzahlen aus? Vor dem Hintergrund eines Krisenkonzeptes, welches vier Stadien (Finanz-, Wirtschafts-, Fiskal- und Gesellschaftskrise) und die drei Komponenten gesellschaftliche Entwicklungen, subjektive Verarbeitung und Auswirkungen auf schwache Gruppen differenziert, wird ein disparates Ergebnis in den drei Bereichen konstatiert. Konkreter: Die auf acht europäische Länder angewandte Forschungsfrage, ob Armut menschenfeindlich mache, ergibt den Befund, dass eine ungünstige wirtschaftliche Gesamtsituation allein nicht ausreiche, um einen Anstieg der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu erklären (102). Damit werden einmal mehr Ergebnisse bestätigt, die einen einfachen Zusammenhang von ökonomischen Entwicklungen und subjektiven Einstellungen infrage stellen.
Ein Schwerpunkt der neuesten Befragung liegt auf dem europäischem Vergleich. Untersucht wurde die Verbreitung von Ideologien der Ungleichwertigkeit in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Portugal, Polen und Ungarn. Die Ergebnisse sind teils sehr unterschiedlich, teils recht ähnlich. Auf ähnlich hohem Niveau liegen die Islamfeindlichkeit, die feindlichen Einstellungen gegenüber Einwanderern sowie die Abwertung von Obdachlosen. Deutliche Unterschiede gibt es bei Antisemitismus (hier weist Deutschland überdurchschnittliche Werte auf, allerdings liegen Polen, Ungarn und Portugal noch vor Deutschland), Sexismus und Homophobie. Mit Ausnahme der Vorurteile gegenüber behinderten Menschen werden in osteuropäischen Ländern und teilweise auch in Portugal und Italien stärker verbreitete Syndrome der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit festgestellt. Deutschland liegt bis auf die Ausnahme Antisemitismus im Mittelfeld (56f.) Bei diesem artikuliere sich die Abwertung zunehmend über den Umweg der Israelkritik.
Die »Deutschen Zustände« zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie in der Ökonomisierung der Gesellschaft einen Nährboden für Ressentiments sehen. Im neuen Band werden für diese These neue Belege insbesondere für die elitär motivierte Menschenfeindlichkeit dargelegt. Überdies ist hervorzuheben, dass die Darstellung der empirischen Umfrageergebnisse durch Fallgeschichten und journalistische Beispiele veranschaulicht werden. Ein besonderes Augenmerk legen die Autoren H. Prantl, A. von Lucke, M. Hartmann, M. Schobert sowie A. Köcher auf die Rolle der Eliten. Insgesamt bietet die Folge 9 der Langzeituntersuchung von Heitmeyer diesmal nicht nur einen guten – aber wenig erfreulichen – Einblick in die deutschen, sondern darüber hinaus in die europäischen »Zustände«. Sie zeigt, dass (extrem) rechte Einstellungen sich unabhängig von wirtschaftlichen Konjunkturen in der Mitte festgesetzt haben.
(aus: Sozialismus 2/2011)