Zur neuen »Mitte«-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung
Als eine »ausgesprochene linke Kampfschrift gegen liberale und konservative Auffassungen und die hiesige Gesellschaftsordnung« bezeichnete der Politikwissenschaftler und Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat, Klaus Schroeder, die Studie »Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010« (Tagesspiegel, 21.10.2010). Andere Reaktionen auf die von der Friedrich Ebert-Stiftung herausgegebene Erhebung stellten die gestiegene Verbreitung von ausländerfeindlichen Einstellungen und die mehrheitsfähige Islamfeindlichkeit heraus (vgl. dazu auch den Kasten). Während Schroeder durch die Untersuchung von Oliver Decker, Marliese Weißmann, Johannes Kiess und Elmar Brähler wohl seine eigene politische Weltanschauung diskreditiert sieht und mit Beißreflexen und schwachen Gegenargumenten – zu diesen später – reagiert, stellen die anderen Berichte zwar zu Recht neben den bereits erwähnten Aspekten die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Politikverdrossenheit, das Potenzial für eine Partei rechts der Union etc. ins Zentrum. Unberücksichtigt bleiben indes Aspekte wie Nationalismus, völkischer Antikapitalismus sowie die Herausforderung, dass die im Oktober veröffentlichte Studie sich durch eine theoretische Reflexion zentraler Begrifflichkeiten und einer größeren Einordnung (Prekarisierung, Krise der Arbeitsgesellschaft, Warenfetischismus) ihrer Befunde auszeichnet. Und das vor allem auch im Vergleich zu den beiden Vorgängerstudien »Vom Rand zur Mitte« (2006) und »Ein Blick in die Mitte« (2008).[1]
Die empirischen Ergebnisse interessieren freilich auch hier und sollen kurz zusammengefasst werden.
Die Befunde
Die früheren »Mitte«-Studien hatten gezeigt, dass rechtsextreme Einstellung in allen gesellschaftlichen Gruppen, in allen Altersgruppen sowie im Westen und Osten zu finden sind – eben bis in die Mitte der Gesellschaft hinein (24). Rechtsextreme Denkmuster machen die Leipziger Forscher an Zustimmungswerten zu folgenden Themen fest: Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus (übersteigertes Nationalgefühl), Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus sowie Verharmlosung des Nationalsozialismus.
Wie sehen nun die Ergebnisse für das Jahr 2010 aus? Hohe Werte fanden die Aussagen zur Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur mit völkischer Begründung: So stimmten 13,2% der befragten Deutschen der Aussage zu, »Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert«, und 23,6% dem Satz, »Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.« (76)
Mut zu einem starken Nationalgefühl wünschen sich 37,6%, nur wenige Prozentpunkte geringer liegt die Zustimmung zu der Aussage, »was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland«. Die Aufwertung der eigenen Gruppe geht mit einer Abwertung von Fremdgruppen einher: Fast die Hälfte der Ostdeutschen und 34,3% der Westdeutschen sind der Ansicht, dass die »Ausländer nur hierher kommen, um unseren Sozialstaat auszunutzen. Die Bundesrepublik als gefährlich überfremdet bezeichnen 43,3 der Ost- und 35,6 der Westdeutschen. In puncto Ausländerfeindlichkeit weichen die Zustimmungswerte deutlich zuungunsten der Ostdeutschen ab, in Sachen Antisemitismus – jede/r zehnte Deutsche stimmt antisemitischen Vorurteilen zu – und Verharmlosung des Nationalsozialismus (3,7 bzw. 1,8%) weisen die Bewohner der neuen Bundesländer geringfügig weniger Zustimmung auf. Doch insgesamt seien die Unterschiede zwischen Ost und West kleiner als innerhalb der jeweiligen Gruppe, und genauso könne man Stadtstaaten und Flächenstaaten unterscheiden (81).
Tabelle 1 (82: Tabelle 3.1.3) fasst die Verbreitung von rechtsextremen Einstellungen in West- und Ostdeutschland 2010 zusammen:
Tabelle 1: Rechtsextreme Einstellungen in West- und Ostdeutschland, 2010 (in %)
Gesamt (N = 2.411) | West (N = 1.907) | Ost (N = 504) | |
Befürwortung Diktatur | 5,1 | 4,6 | 6,8 |
Chauvinismus | 19,3 | 19,6 | 19,8 |
Ausländerfeindlichkeit | 24,7 | 21,9 | 35 |
Antisemitismus | 9,7 | 9 | 7,7 |
Sozialdarwinismus | 4 | 3,4 | 6,2 |
Verharmlosung Nationalsozialismus | * 3,3 | 3,7 | 1,8 |
Der hinlänglich bekannte Einfluss des Faktors Bildung wird auch in »Die Mitte in der Krise« bestätigt: Je gebildeter, desto weniger ist die Neigung vorhanden, (extrem) rechten Aussagen zuzustimmen (die immunisierende Wirkung von Bildung wird indes in der neuen Heitmeyer-Studie relativiert, vgl. Kasten). Insbesondere für Linke interessant sind überdies zwei weitere Ergebnisse: Gewerkschaftsmitglieder unterscheiden sich hinsichtlich der Verbreitung von rechtsextremen Einstellungen nicht von Nichtmitgliedern, wie es noch in den 1980er Jahren der Fall war.[2] Das dürfte nach der Untersuchung »Gewerkschaften und Rechtsextremismus« von Bodo Zeuner u.a. nicht mehr überraschen. Und auch das Faktum, dass die Anhänger (nicht die Mitglieder) der Partei DIE LINKE sich im Westen zu 20% und im Osten gar zu einem Viertel als ausländerfeindlich eingestellt zeigen, wurde bereits in den Vorgängerstudien festgestellt. Die Differenzierung nach Parteien zeigt im übrigen, warum eine Partei rechts der Union (noch) kaum eine Chance auf Wahlerfolge hat. CDU und SPD integrieren das ausländerfeindliche Potenzial vorzüglich (vgl. 85).
Das Fazit lautet: »Die hier vorgestellten Befunde sind rein beschreibend. Sie illustrieren, dass die rechtsextreme Einstellung in allen gesellschaftlichen Gruppen, in allen Altersstufen, unabhängig vom Erwerbsstatus und Bildungsgrad und bei beiden Geschlechtern in hohem Maße zu finden ist.« (89).
Nun zu einem Vorwurf des eingangs erwähnten Klaus Schroeder, der aber auch von anderen in Bezug auf ähnliche Untersuchungen immer wieder erhoben wird: Die Fragen seien doch suggestiv, würden den Befragten die Antworten in den Mund legen. Natürlich sind Decker u.a. nicht so naiv, diesen Vorwurf nicht zu reflektieren. Sie haben in ihren Fragebögen eine »teils-teils-Antwort« aufgenommen, die den Befragten durchaus die Möglichkeit gibt, sich der Stimme zu enthalten – wie sie überdies ihre völlige oder überwiegende Ablehnung vermerken können (Schroder behauptet stattdessen wahrheitswidrig, man habe nur mit »Ja« oder »Nein« antworten können). Bemerkenswert ist, wie diese »teils-teils-Antworten«, die mitunter einen großen Anteil ausmachen, im Sinne der sozialen Erwünschtheit interpretiert werden. Das heißt, ein nicht »näher zu beziffernder, aber auch kam zu überschätzender Anteil dieser Antworten muss als verdeckte Zustimmung gewertet werden« (75). Bestätigung für diese These fanden die Autoren in den qualitativen Interviews der Studie »Ein Blick in die Mitte«: Nicht nur diejenigen, die in den Fragebögen teils-teils-Antworten gegeben hatten, sondern auch jene, die bspw. ausländerfeindlichen Aussagen ablehnend gegenüberstanden, äußerten sich in den Interviews ausländerfeindlich.
Welche Veränderungen stellt die Studie »Die Mitte in der Krise« im Vergleich zu vor zwei Jahren fest? Kurz gesagt: Die Werte in Bezug auf Befürwortung einer Diktatur, Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit haben sich leicht erhöht, was als erste Reaktion auf die wirtschaftliche Krise gedeutet wird. Die Zustimmungswerte zu Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus seien hingegen in etwa gleich geblieben.
Die Tabelle 2 (96) fasst die Entwicklung des geschlossenen rechtsextremen Weltbildes von 2002-2010 zusammen:
Tabelle 2: Geschlossenes rechtsextremes Weltbild von 2002-2010 (in Prozent)
Geschlossenes rechtsextremes Weltbild | 2002 | 2004 | 2006 | 2008 | 2010 |
Gesamt | 9,7 | 9,8 | 8,6 | 7,6 | 8,2 |
Ost | 8,1 | 8,3 | 6,6 | 7,9 | 10,5 |
West | 11,3 | 10,1 | 9,1 | 7,5 | 7,6 |
Nachdem es von 2004 bis 2008 eine leichte Abnahme gegeben hat, so ist im Zeitraum von 2008 bis 2010 eine leichte Zunahme des geschlossenen rechtsextremen Weltbildes zu verzeichnen. Diese Trendwende ist im wesentlichen auf die Entwicklung in Ostdeutschland zurückzuführen, wo es einen Anstieg von 7,9 auf 10,5% gab, während die Entwicklung in den alten Bundesländern stagnierte.[3] Die Frage stellt sich jedoch, wie diese Aussage mit der Relativierung des Ost-West-Unterschiedes an anderer Stelle (80) zusammengeht.
Sozioökonomische und politische Faktoren
In einem weiteren Schritt stellen die Autoren ihre Ergebnisse zum Zusammenhang von sozioökonomischen Faktoren und rechtsextremen Denkmustern dar. Untersucht wurde sowohl die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage der Einzelnen wie auch die allgemeine der Bundesrepublik Deutschland. Überdies wurde nach der subjektiven politischen, wirtschaftlichen und sozialen Deprivation (Lebenszufriedenheit, Arbeitslosigkeit, Sorge um den Arbeitsplatz, Zustimmung zur Demokratie) gefragt. In Bezug auf die politische Deprivation stellt die Studie erneut ein erschreckendes Ausmaß fest: Nur fast jeder/e Zehnte findet es lohnend, sich politisch zu engagieren. Die Werte hätten sich seit 2006 kaum verändert. Adornos Befund von 1959, wonach sich Demokratie nicht derart eingebürgert habe, dass die Menschen diese wirklich als ihre eigene Sache erfahren, werde, wie die Verfasser bereits in der Einleitung betonen, erneut bestätigt. Festgestellt wird ein grundsätzliches Unverständnis gegenüber der Funktionsweise der Demokratie. Auch mehr Partizipation »bringe« es nicht, da es an einem Grundverständnis mangele (99) bzw. die Befragten sich nicht als Subjekt politischer Prozesse betrachten. Gleichwohl wird der Demokratie als Idee und ihre Verankerung in der Verfassung der BRD eine hohe Zustimmung entgegengebracht.
Wirtschaftliche Benachteiligung: Die Ergebnisse zu diesem Aspekt sind m.E. die wichtigsten und interessantesten: Zwar lässt sich allgemein eine deutliche Korrelation von Arbeitslosigkeitserfahrung und rechtsextremen Einstellungen feststellen, die individuelle ökonomische Deprivation hat im Jahr 2010 jedoch deutlich abgenommen. Dieses Ergebnis verwundert, sollte man doch annehmen, dass die wirtschaftliche Krisensituation ihre Spuren hinterlassen hat. Doch die Zufriedenheit mit den Einkommen sowie der beruflichen Situation stieg sogar – und das, obwohl die Einkommen objektiv gesunken sind. Dieser Befund des Widerspruchs zwischen objektiver ökonomischer Entwicklung und subjektiver Wahrnehmung verlangt nach einer Erklärung. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass immer wieder ein schlichter kausaler Zusammenhang von wirtschaftlich schlechter Lage und der Verbreitung von rechtsextremen Einstellungen hergestellt wird. Die Autoren bieten folgende verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten an: »Zum einen scheint sich die objektive, individuelle wirtschaftliche Lage nicht direkt auf die subjektive Wahrnehmung auszuwirken. Zum anderen machen sich Einschränkungen in Lebensbereichen bemerkbar, die nicht unmittelbar mit ökonomischem Wohlstand verbunden sind. Diese Diskontinuität kann als eine verschobene Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen interpretiert werden, deren Verrechnungskosten nicht am Ort des Geschehens, dafür aber im privaten Lebensbereich bezahlt werden.« (104)
Das zentrale Ergebnis zum Zusammenhang von Ökonomie und rechtsextremen Einstellungen lautet infolgedessen, dass weder die individuelle wirtschaftliche Situation noch das Gefühl persönlicher wirtschaftlicher Benachteiligung noch die Sorge um den Arbeitsplatz auf die Ausbildung rechtsextremer Anschauungen einen signifikanten Einfluss habe, sondern dass andere Faktoren moderierend wirken (116, 119). Welcher Faktor aber hat einen signifikanten Einfluss auf die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen? Es ist die »gefühlte Deprivation für die gesamte Wirtschaft Deutschlands, die rechtsextreme Einstellung signifikant erhöht…« Somit scheine »die Wahrnehmung eines Verlustes des Wohlstandes auf der nationalen Ebene Deutschlands relevanter zu sein als Verluste auf individueller Ebene.« (119)
Allein, der Teufel steckt bekanntlich im Detail: Im Osten verhält es sich anders als im Westen, denn dort spiele die individuelle Situation eine größere Rolle als im Westen der Republik. An dieser Stelle nun muss der zentrale Begriff der »narzisstischen Plombe« erläutert werden, wird doch dieser Sachverhalt damit erklärt, dass »die zwei Seiten der narzisstischen Plombe sich in Ost und West ungleich verteilt darstellen. So heißt es: »Während die Verfügung über Güter, also der individuelle Wohlstand, im Osten stärker mit der Gesellschaft verbindet, ist es im Westen die Identifikation mit dem funktionierenden Wirtschaftssystem.« (121) Mit narzisstischer Plombe ist die Gratifikation durch Wohlstand gemeint, die die narzisstische Kränkung des verlorenen Krieges und die in der Figur des »Führers« verdichtete Größenfantasie kompensierte. Auf diese Weise trug die Wohlstandserfahrung im Wirtschaftswunderdeutschland dazu bei, die Anerkennung von Schuld und Scham wegen der Nazi-Verbrechen zu verhindern.
Der Zusammenhang von Identifizierung mit der deutschen Wirtschaft und der Verbreitung von rechtsextremen Denkmustern wird auch durch die Dissertation »Prekarisierung und Ressentiments« von Bernd Sommer unterstützt.[4] Dieser stützt sich zwar nicht auf eigene empirische Forschungen, sondern auf eine Sekundäranalyse anderer Studien unter der Fragestellung, ob und inwieweit die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen zu rechtsextremen Einstellungen führt. Seine re-analysierten Forschungen sind die Publikationen des europäischen Forschungsprojekts Socio-Economic Change, Individual Reactions and the Appeal of the Extreme Right (SIREN), die vom Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation (FIAB) an der Ruhruniversität Bochum durchgeführte qualitative Untersuchung »Prekäre Beschäftigungsverhältnisse – Ursache von sozialer Desintegration und Rechtsextremismus?«, die Langzeituntersuchung zur Erforschung Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) unter der Leitung von Wilhelm Heitmeyer sowie die Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS). Als Ergebnis seiner Re-Interpretation hält Sommer fest, dass »entgegen der populären Annahme in den hier ausgewerteten quantitativen Studien mehrheitlich kein besonders ausgeprägter statistischer Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit oder der Angst vor Arbeitslosigkeit und dem Niveau rechtsextremer Einstellungen gemessen werden konnte« (288) – eine Aussage übrigens, die im Widerspruch zum Ergebnis der FES-Studie steht. Vielmehr sei bemerkenswert, dass Personen mit einer fremdenfeindlichen oder rechtsextremen Orientierung vor allem die (wirtschaftliche) Lage Deutschlands negativ einschätzen (227). Sommer macht des weiteren ein Gefühl der sozioökonomischen Verwundbarkeit, für das Hartz IV steht, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, eine allgemeine Orientierungslosigkeit sowie ein Gefühl der Machtlosigkeit für die Ausbreitung von extrem rechten Einstellungen verantwortlich.
Kurzum und in eigenen Worten: Die nationale und damit Interessengegensätze ignorierende Identifizierung mit der deutschen Wirtschaft, dem Modell oder Standort Deutschland scheint in weitaus größerem Maße mit (extrem) rechten Denkmustern zusammenzuhängen als die eigene ökonomische Situation.
Volksgemeinschaftlicher Antikapitalismus
Kommen wir zu einem weiteren höchst interessanten Ergebnis der »Mitte«-Studie: der hohen Verbreitung von kapitalismus- und globalisierungskritischen, ja gar antikapitalistischen Meinungen in der Bevölkerung. Diese sind so hoch, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem in Deutschland infrage gestellt wird. So sind, um nur wenige Beispiele zu nennen, 72,2% der Befragten West- und 77% der Ostdeutschen der Meinung, dass die internationalen Finanzmärkte Schuld an der weltweit wachsenden sozialen Ungleichheit sind. Dem Satz »Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde« stimmen 43,4% der Bewohner der alten und 55,6% der neuen Bundesländer zu. Insgesamt stellen die Autoren einen Anteil von 63,2% Kapitalismuskritiker/innen, 83,6% Globalisierungskritiker/innen und von 42,6% Antikapitalist/innen fest (126). Dies sind in der Tat »irritierend« hohe Werte und für Linke scheint das auf den ersten Blick recht erfreulich zu sein. Doch der zweite Blick zeigt Ernüchterndes. So verbreitet die kapitalismuskritischen und antikapitalistischen Stimmungen sind, so wenig ist eine Alternative zu den realen kapitalistischen Verhältnissen im emanzipatorischen Sinne in Sicht. Im Gegenteil: Vieles deutet darauf hin, dass der Kapitalismus von rechts infrage gestellt wird, dass wir es mit einem volksgemeinschaftlichen Antikapitalismus zu tun haben (128). Daher wurden in der Studie, »um den Zusammenhang von Rechtsextremismus, Kapitalismuskritik und Globalisierungsgegnerschaft abzubilden, der Zusammenhang mit der rechtsextremen Einstellung mittels »Produkt-Moment-Korrelationen« untersucht. Das Ergebnis: Es gibt eine hohe Korrelation, lediglich die Dimension Antiamerikanismus korreliert wenig mit (extrem) rechten Einstellungen. Die Autoren schlussfolgern, dass sowohl die zunehmende Beurteilung von »Fremden« nach Nützlichkeitskriterien, aber auch die Diskreditierung von angeblich »Arbeitsscheuen« für die Vermutung einer völkischen Alternative als Referenz hinter diesem Antikapitalismus spreche (vgl. 129). Darüber hinaus wird ein enger Zusammenhang zwischen Antisemitismus und antikapitalistischen Stimmungen ermittelt. Die Verfasser beobachten eine Verdichtung antidemokratischer Einstellungen in der Kapitalismuskritik, die auch deutlich von antisemitischen Ressentiments getragen werde. Scheinbar werde gegenwärtig das Bild zwischen einem guten »schaffenden« Kapital mit nationalen Wurzeln und einem schlechten, »raffenden« Kapital der internationalen Finanzmärkte wiederbelebt (148). Kritisch anzumerken bleibt, dass der Begriff volksgemeinschaftlicher oder völkischer Antikapitalismus die Assoziationen zum Nationalsozialismus weckt; dieser kann aber nicht mit heute vorherrschenden Einstellungen in eins gesetzt werden. Eine genauere Herausarbeitung der Kontinuitäten und Brüche wäre somit wünschenswert gewesen.[5]
Korrelationen – aber was ist mit den Ursachen?
Wenn also der Einfluss von sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren nur wenig mit rechten Einstellungen korreliert, was ist dann den Verfassern der Mitte-Studien zufolge für die Ausbildung von rechtsextremen Einstellungen verantwortlich? Die Ursache sehen sie in autoritären Orientierungen, wie sie es bereits in ihrer ersten Untersuchung von 2006 dargelegt hatten. Hier reflektieren sie nun theoretisch den von Adorno und Horkheimer geprägten Begriff des Autoritären Charakters, den die Exponenten der Kritischen Theorie wie folgt definiert hatten: »Diese Autoritätsgebundenheit bedeutet … die bedingungslose Anerkennung dessen, was ist und Macht hat, und den irrationalen Nachdruck auf konventionelle Werte … und entsprechend auf konventionelles, unkritisches Verhalten« (zit. nach 29). Nun bezieht sich Adornos und Horkheimers Begriff der autoritären Persönlichkeit nicht unwesentlich auf die Freudsche Psychoanalyse, was kritisiert wird, weil sie zu sehr auf die Kindheit fixiert sei und neue Sozialisationsinstanzen, wie z.B. die Schule, Peer-Groups und Medien, unberücksichtigt lasse (36). Deshalb sei der Begriffswandel weg vom psychoanalytisch fundierten Begriff des Autoritären Charakters hin zum beschreibenden Begriff des Autoritarismus zu Recht erfolgt, schreiben die Autoren. Der Begriff sei somit zugleich veraltet und immer noch gültig, indem der Mechanismus der Identifizierung mit einer mächtigen Autorität für die erfahrene Unterwerfung entschädige. Bereits Herbert Marcuse sei der Ansicht gewesen, dass Identifikation mit dem Führer in einer autoritären Gesellschaft durch etwas Abstrakteres – Nationalstolz, starke D-Mark oder Kapitalismus – ersetzt werden kann. »Genau diese Entwicklung«, so heißt es, »haben wir in unserer Studie 2008 dokumentiert und mit der Denkfigur vom Wohlstand als ›narzisstischer Plombe‹ beschrieben. Erledigt hat sich der Autoritäre Charakter damit also nicht, die Identifikation mit einer Autorität stabilisiert und entschädigt für die tägliche Anerkennung der Fremdbestimmtheit.« (40) Wenn jedoch wirtschaftlicher Wohlstand eine narzisstische Plombe sei, so werde die Ambivalenz gegenüber der Gesellschaft, »die die Unterwerfung unter ihre Prinzipien mit dieser Identifikation entlohnt, in dem Moment sichtbar, im dem dieser Lohn nicht mehr ausgezahlt wird« (ebd.).
Die Zentralität der autoritären Einstellungen als Erklärung für rechtsextremes Denken findet sich auch in vergleichbaren Forschungen. So heißt es in einem Beitrag der Folge 7 der von Wilhelm Heitmeyer herausgegebenen »Deutschen Zustände«, dass der Autoritarismus ein wesentliches Erklärungskonzept für das so genannte Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ist.[6] Auf der anderen Seite sollte das Konzept in seiner Erklärungskraft nicht überschätzt werden, in dem Sinne, dass von direkten Kausalketten auszugehen ist.[7]
Kapitalismustheoretische Fundierung
Ein weiteres Novum der neuen »Mitte«-Studie der FES ist ihre ambitionierte und durchaus kapitalismuskritische Fundierung. Allerdings verharrt diese ähnlich wie in der Kritischen Theorie auf der Ebene der Kritik des Warenfetischismus bzw. des Konsums. Den Autoren zufolge entscheidet der Konsum von Waren über »Wohl und Wehe« der Verfasstheit einer demokratischen Gesellschaft. Insbesondere in der BRD nach 1945 habe die Integrationskraft der Demokratie in dem Aufstiegsversprechen, symbolisiert im Konsum, bestanden. Auf die Kurzformel gebracht: Die Demokratie wurde akzeptiert, weil sie florierte. Den Konsum, und in dessen Zentrum die Waren, bezeichnen die Autoren als narzisstisches Regulativ. Mit Rekurs auf Max Weber beschreiben sie die kapitalistische Ökonomie als säkularisierte Gnadenwahl. »Die Verfügung über die Warenwelt wurde so zur Versicherung der Erwähltheit, zunächst jener durch den christlichen Gott« (53) und dann über den akkumulierten Reichtum. In der Waren produzierende Gesellschaft und der scheinbaren Diesseitigkeit der Gnadenwahl übernehme nun der Markt gleichsam die Funktion eines Gottes, der erwählen und verstoßen kann. Nicht mehr die Identifikation und die Unterwerfung unter eine Autorität gewähren Schutz, sondern der Markt als einzig verbliebene Autorität lasse als Schutz scheinbar nur noch die Aggression gegen jene zu, die nicht mehr dazugehören (55).
Wenn aber seit Jahrzehnten bereits, so das Argument, der gesellschaftliche Inklusionsmechanismen der Gesellschaft – im Kapitalismus der gelungene Verkauf der Ware Arbeitskraft – zunehmend versagt (ob er je funktionierte, ist eine andere Frage), gleichzeitig aber die Anerkennung weiterhin über das in Lohn- und Brot-Stehen erfolgt, setzt folgender von Jan Weyand beschriebene Prozess ein: »Erzwingen die Erfordernisse der Selbsterhaltung unter Bedingungen kapitalistischer Produktion die übermäßige narzisstische Besetzung der eigenen Person, so wird diese durch die Unsicherheit der gesellschaftlichen Bedingungen der Selbsterhaltung beschädigt, und zwar permanent beschädigt …« Darin bestehe die Dialektik des Narzissmus. »Die Unmöglichkeit, die Bedingungen der eigenen Existenz zu kontrollieren, weil diese in der bestehenden Gesellschaft nicht von den Subjekten, sondern in einer in jedem Einzelfall undurchschaubaren Weise von einem ihnen fremden gesellschaftlichen Zusammenhang abhängen, erzeugt Angst, Existenzangst.« Und mit der Angst, so Weyand in seinem Text über den Zusammenhang von Autoritarismus und kapitalistischer Produktionsweise weiter, gehe die reale Erfahrung der Ohnmacht einher, die sich in das Gefühl der Ohnmacht übersetze und so in Widerspruch zur narzisstischen Besetzung der eigenen Person trete. Und darin bestehe das Gesetz des beschädigten Narzissmus: Er impliziere die Frage nach den Schuldigen. »Befriedigung wie Schuldige findet er im kollektiven Narzissmus der nationalen Glaubensgemeinschaft, in der sich noch der größte Taugenichts, ohne irgend etwas dafür tun zu müssen, von der verkrachten Existenz zum Mitglied eines geschichtsmächtigen Kollektivs erheben kann«.[8]
Politische Konsequenzen
Die politischen Konsequenzen, die die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zieht, sind mitunter etwas vage. Ziel ist die Förderung von sozialer Solidarität und Demokratie. Dem entgegen stehen die Gefahr der Ressentiments, welche sich logischen Argumenten widersetzen, das herrschende Bild der Nation als Interessengemeinschaft mit den dazugehörigen chauvinistischen und rassistischen Einstellungen sowie die keine Alternative zulassende ökonomische Rationalität. Um dem Ziel näherzukommen, schlagen die Autoren »Mehr Demokratie wagen«, neue Formen der politischen Partizipation und mehr Bildung vor, sodass sich die Menschen als Subjekte demokratischer Prozesse erfahren können. In Bezug auf die ökonomische Dimension wird das Grundeinkommen ins Spiel gebracht, weil auf diese Weise die Anerkennung ausschließlich über die Lohnarbeit und die damit verbundene repressive Verteilung von Almosen überwunden werden könne. Überdies wird eine Selbstverpflichtung der Medien, sich nicht an Diskriminierungen zu beteiligen, eine Stärkung der Politik gegenüber der Ökonomie sowie eine Stärkung der Zivilgesellschaft gefordert. Soweit so gut und bekannt. Interessanter wird es bei der Frage, wie der Surrogatcharakter der Ware als Ersatz für die nicht vollständig erfolgte Ablösung vom Gedanken der religiösen Erwähltheit überwunden werden kann, denn hier nähert man sich dem »Wurzelgrund der kapitalistischen Ökonomie«. Und tatsächlich wird kurz mit explizitem Bezug auf Marx dessen Fetisch- und Arbeitswerttheorie referiert. Das Fazit daraus lautet: die Utopie einer Gesellschaft von Freien und Gleichen starkzumachen, eine nachholende Aufklärung zu vollziehen und eine demokratische Gesellschaft zu verwirklichen, die auf Anerkennung und der politischen Aushandlung von Interessengegensätzen basiere. Freilich: Für eine der SPD nahestehenden Stiftung und für die Gepflogenheiten des wissenschaftlichen Feldes ist das schon etwas. Andererseits bleiben Fragen bestehen: etwa die nach der Klassenzugehörigkeit und dem Autoritarismus,[9] oder die nach einer kapitalismuskritischen Sichtweise, die neben dem Phänomen des Warenfetischismus auch Kategorien wie Macht, Herrschaft, Eigentum und Klassen berücksichtigt. Dann nämlich wäre besser herauszuarbeiten – Bernd Sommer deutet das an –, dass und wie soziale Praxen, wie die des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts und die damit verbundene institutionelle Spaltung in Deutsche und Ausländer, und nicht eine Ideologie der Minderwertigkeit der Abwertung und Ausgrenzung zugrunde liegen. Als politische Konsequenz stehen infolgedessen dann andere Aspekte im Vordergrund: eine grundsätzliche Kritik von Nation, Nationalismus und Kapitalismus und vor allem die Frage nach einer demokratisch-emanzipatorischen Alternative, die für die Individuen die Gestaltbarkeit ihrer sozioökonomischen und politischen Verhältnisse erfahrbar macht. Freilich stellt sich – wie zuletzt die Debatte über den Kommunismus-Artikel von Gesine Lötzsch zeigte – das Problem, wie die als Alternative zum Kapitalismus verstandenen Begriffe »Sozialismus« und »Kommunismus« ihrer Kontaminierung durch die reale Geschichte entledigt werden können. Und die Kapitalismuskritik müsste dabei eine Kritik des idealen Durchschnitts des Kapitalismus mit der konkreten historischen Kritik seines finanzdominierten Entwicklungsstandes verbinden.
So gewendet ist die Studie in der Tat »eine linke Kampfschrift« und Klaus Schroeders Kritik ein Kompliment.
[1] Alle drei Studien sind als pdf-Dokument im Internet unter www.fes-gegen-rechtsextremismus.de erhältlich. Im folgenden beziehen sich die Seitenangaben in () auf die jüngste Studie von 2010.
[2] Vgl. Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 2005, S. 62
[3]In Bezug auf die Entwicklung der Verbreitung von rechtsextremen Einstellungen in Ostdeutschland seit dem Jahr der Wiedervereinigung bis heute lässt sich zeigen, dass die gerne geäußerte Ansicht, wonach »die vom realen Sozialismus geprägten Ostdeutschen schon am Vorabend der Wiedervereinigung ausländerfeindlicher als die Westdeutschen eingestellt waren« (Schroeder), ein Vorurteil ist. Denn durch mehre Studien wurde belegt, dass die Ostdeutschen noch bis ca. Mitte der 1990er Jahre weniger ausländerfeindlich eingestellt waren als die Westdeutschen. Erst durch die Enttäuschung der im Zuge der Wiedervereinigung gemachten Versprechen kam es zu einem massiven Anstieg. Vgl. dazu Stöss, a.a.O., S. 62ff.; Detlef Oesterreich, Flucht in die Sicherheit. Zur Theorie des Autoritarismus und der autoritären Reaktion, Opladen 1996, S. 173.
[4] Bernd Sommer, Prekarisierung und Ressentiments. Soziale Unsicherheit und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland«, Wiesbaden 2010.
[5] Zu diskutieren wäre z.B., ob und inwiefern die Gefahr eines völkischen Antikapitalismus nicht besser mit dem Begriff des »reaktiven Nationalismus« beschrieben werden könnte. Vgl. dazu Klaus Dörre, Marktsteuerung und Prekarisierung von Arbeit – Nährboden für rechtspopulistische Orientierungen? Hypothese und empirische Befunde, in: J. Bischoff/K. Dörre u.a., Moderner Rechtspopulismus. Ursachen, Wirkungen, Gegenstrategien, Hamburg 2004, S. 78-118, hier, S. 111f.
[6]Andreas Zick/P.J. Henry: Nach oben buckeln, nach unten treten. Der deutsch-deutsche Autoritarismus, in: W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 7, Frankfurt/M. 2009, S. 190.
[7]J. Bischoff/B. Müller, Moderner Rechtspopulismus, in: Bischoff/Dörre u.a., a.a.O., S. 27.
[8]Jan Weyand. Zur Aktualität der Theorie des autoritären Charakters, in: jour fixe initiative berlin (Hrsg.), Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft, Münster 2000, S. 71. Vgl. auch Oesterreich, a.a.O., S. 173, der die autoritäre Persönlichkeit nach wie vor als ein Grundtypus der kapitalistisch geprägten Industriegesellschaft ansieht.
[9] Vgl. dazu Michael Vester, Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit, in: Alex Demirovic, Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie, Stuttgart/Weimar 2003, S. 195-224.
(aus: Sozialismus 2/2011)