Bereits vor 13 Jahren schrieb Oskar Negt „im Zorn und gegen das Vergessen“ über die sich selbst als 1968er bezeichnenden Intellektuellen. Sein Zorn richtete sich gegen sie, weil sie nunmehr meinten, alles abwerten zu können, wofür sie sich einst hätten schlagen lassen. Für Negt ließ das nur einen Schluss zu: „Der Opportunismus ist die eigentliche Geisteskrankheit der Intellektuellen.“[1] Und weiter: „Wo diese ihren Eigensinn, die bohrende und widerständige Kraft ihrer Entwurfsphantasien einbüßen, werden sie zu abrufbaren Legitimationsproduzenten mit beschleunigten Häutungen, und am Ende bleibt nur die Haut übrig, die man selbst zu Markte tragen muß.“
Welche Worte würde Oskar Negt wohl finden, um die neueste publizistische Intervention desjenigen zu beschreiben, der das Haut-zu-Markte-Tragen seit einigen Jahren beherrscht wie kein zweiter? Nämlich Götz Aly, der einstige 68er- und Rote Hilfe-Aktivist, das Berufsverbotsopfer und der heute bekannte Historiker. Im Februar erschien sein Buch „Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück“, in dem er die Parallelisierung von 68er- und Nazi-Bewegung konstruiert. Vorab durfte Aly seine Thesen ausgerechnet in der einstmals linksliberalen Frankfurter Rundschau (v. 30. Januar 2008) vorstellen. Darüber hinaus brachte das Online-Magazin „Perlentaucher“ einen vierteiligen Vorabdruck aus Alys – nennen wir es ruhig – Machwerk. Vierzig Jahre nach den weltweiten Ereignissen von 1968 ist es somit Aly gelungen, die deutsche Diskussion über 1968 maßgeblich zu prägen.
Deutungshoheit über „68“
Nun könnte man Alys Thesen als das bezeichnen, was sie in der Tat auch sind: nämlich eine polemische Abrechnung eines Ex-68ers mit seiner Vergangenheit – und damit hat sich die Sache. Doch lässt dies zweierlei unberücksichtigt: Erstens das Faktum, dass hinter Alys Überspitzung nur zum Vorschein kommt, was als hegemoniales Deutungsmuster bis weit in den linksliberalen feuilletonistischen wie wissenschaftlichen Mainstream hineinreicht: die Interpretation der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Vokabular der Totalitarismustheorie. Und zweitens die Bedeutung der politisch-kulturellen Hegemonie für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Dabei geht es im Wesentlichen auch um die Besetzung von Begriffen, was treffend Heiner Geissler auf den Punkt gebracht hat: „Revolutionen werden heute nicht mehr herbeigeführt, indem man Telegraphenämter und Bahnhöfe besetzt, sondern indem man Begriffe besetzt.“[2]
Die Frage ist also: Mit welchem Inhalt wird das „Chiffre 1968“ oder „der Assoziationsraum 1968 gesellschaftlicher Zuschreibungen und auktorialer Selbstdeutungen“ (Norbert Frei) besetzt. Denn „auch nach vier Jahrzehnten ist ‚68’ noch nicht ausgedeutet, sondern weiter in Bewegung, noch immer eher Gegenwart als Geschichte.“[3]
Einige Interpretationen seien hier nur angedeutet, um den Kontext zu skizzieren, in welche die Debatte um Alys Deutung einzuordnen ist: Ist 1968 zum Beispiel nach Jürgen Habermas als Fundamentalliberalisierung – obzwar entgegen den Intentionen der damaligen Akteure – aufzufassen? War es lediglich ein romantischer Aufstand im jugendlichen Überschwang, wie etwa Marion Gräfin Dönhoff und Richard Löwenthal meinten (und nun auch Wolfgang Kraushaar meint)? Oder waren die Ereignisse von 1967/68 lediglich „das Betriebsgeräusch“ eines Prozesses, welches dadurch entstand, dass eine neue Massenschicht – die Intelligenz sich auf ihren Platz im politischen und gesellschaftlichen System drängelte, wie Georg Fülberth schreibt? War die APO weniger der Katalysator einer umfassenden Liberalisierung, Demokratisierung oder gar Verwestlichung der bundesdeutschen Gesellschaft als vielmehr ein durch den zuvor einsetzenden sozialen Wandel selbst geschaffenes, ja überhaupt erst ermöglichtes Phänomen. Zugespitzt: War der Studentenprotest, wie die jüngere sozialgeschichtliche Forschung – z.B. von Detlef Siegfried zeigt – lediglich ein Nachhutgefecht?
Oder trifft mit Kraushaar zu, dass die Jugendrevolte als eine soziokulturelle Nachgründung der Bundesrepublik zu verstehen ist, gleichzeitig aber auch einen Flirt mit dem Totalitarismus darstellte, der zwangsläufig in den Terror der RAF münden musste? Oder aber muss vor allem mit Immanuel Wallerstein ihr globaler Charakter unterstrichen werden, für den 1968 eine Weltrevolution darstellt, in welcher die Forderung der vergessenen Völker der Welt nach ihrem rechtmäßigen Platz in der Machtstruktur des Weltsystems zum Ausdruck gekommen sei.[4]
Schließlich: Waren die Studentenproteste der Anfang vom Verfall bürgerlicher Werte, wie die Konservativen meinen beklagen zu müssen. Und wie steht es mit der These, wonach die 68er-Bewegung mit ihrer „Künstlerkritik“ (Boltanski/Ciapello) – wenngleich unfreiwillig – Schützenhilfe für die Durchsetzung des Neoliberalismus leistete?
Alys Thesen
Diesen Interpretationen fügt Aly nun seine über die Ähnlichkeiten von Nazi- und 68er-Bewegung hinzu. Bereits in einer Rezension zu Wolfgang Kraushaars Buch „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“ hatte er in der konservativen Die Welt vom 16.7.2005 geschrieben: „Die deutschen Achtundsechziger waren ihren Eltern auf elende Weise ähnlich – vor allem im Antisemitismus.“ Ebenfalls in der Rezension ist bereits in deutlichen Worten formuliert, welchen Seitenwechsel Aly vollzogen hat. Er verortet sich ex post auf Seiten des von ihm damals noch bekämpften repressiven Staates und legitimiert die konservativen Zeitungskampagnen, die nicht davor zurückschreckten, ähnliche Analogien herzustellen (Dutschke in Hitlerpose etc.) wie heute Aly: „Wenn es langfristig überhaupt positive Auswirkungen des Achtundsechziger-Protests gegeben haben sollte, dann nur deshalb, weil es den Gegenkräften gelang, diese zutiefst intolerante und antidemokratische Bewegung mit Hilfe der Staatsgewalt und einer entschlossenen Publizistik zu stoppen.“
„Unser Kampf“ führt diese Argumentation fort, die im Übrigen bereits vor zehn Jahren der CSU-Rechtsaußen Peter Gauweiler vertrat und bereits 1965 der Publizist und Historiker Joachim Fest im Gespräch mit Ulrike Meinhof in ähnlicher Form formulierte. Anhand der Analysen der damaligen Gegner, das Bundeskanzleramt das Innenministerium und konservative Intellektuelle, wird die 68er-Bewegung – so eine Kernaussage – „als sehr deutscher Spätausläufer des Totalitarismus“ interpretiert.[5]
Erwähnter Text in der FR – ganz im Sinne seiner totalitarismustheoretischen Gleichsetzung von NS- und 68er-Bewegung symbolisch am Tag der Machtübertragung an Hitler unter der Überschrift „Die Väter der 68er“ publiziert – fasst die angeblichen Parallelen zusammen, die zwischen den „politischen Sturm- und Drangjahren“ der „tatendurstigen Gefolgsleute der NSDAP“ und ihren Töchtern und Söhnen der 68-Bewegung bestünden.
Aly offenbart sich folgende Analogie: Beide sahen sich selbst als „Bewegung“ an, die das „System“ der Republik als historisch überholt erachteten und infolgedessen die Macht im Staat ergreifen wollten. Das ist nicht ganz falsch, allerdings ist mit einer negativen Abgrenzung von etwas noch gar nichts über das positiv angestrebte Ziel ausgesagt. Es macht schon einen Unterschied, die Republik durch ein rassistisch-antisemitisches, auf Eroberungskrieg und Holocaust drängendes Regime oder etwa durch eine Rätedemokratie ersetzen zu wollen. Und worin besteht der Aussagewert, dass es beiden Bewegungen um die Macht gegangen sei? Worin geht es in der Politik sonst? Mit diesem Argument könnte man auch die SPD oder die CDU mit der NS-Bewegung vergleichen.
Des Weiteren macht Aly eine generationenspezifische antibürgerliche Haltung aus, die sowohl die Mehrheit der 33er- als auch den 68er-Studierenden zu eigen gewesen sei. So hätten beide Studentenbewegungen „gegen den Muff von tausend Jahren“ protestiert und dabei die Konfrontation mit der Staatsgewalt gesucht. Erneut ist damit noch gar nichts über die gesellschaftlichen Ziele oder über die Motivation ausgesagt, aus der heraus die politischen Kämpfe aufgenommen wurden. Die Demokratisierung der Hochschulen oder die Errichtung rassekundlicher Lehrstühle einzufordern, macht denn doch einen nicht ganz unerheblichen Unterschied.
Götz Aly schreibt selbst von „Ähnlichkeiten in den politischen Ausdrucksformen“ (Hervorhebung, d. Verf.), nicht also von Ähnlichkeiten den politischen Inhalt betreffend. Doch eine inhaltliche Bestimmung der bislang referierten formalen Parallelen führt Aly dann doch ins Feld. Und zwar mit Rekurs auf Kurt Georg Kiesinger, ehemaliges NSDAP-Mitglied und Mitarbeiter im Goebbelschen Propagandaministeriums, späterer Bundeskanzler der Großen Koalition von 1966-69. „An die Stelle des extrem schuldbehafteten Nationalismus der Eltern setzten sie den Internationalismus.“ Ebenso gut könnte man aber, wie im Freitag (8.2.2008) zu lesen war, eine Parallele zwischen einem Mordkommando und einem Krankenwagen ziehen. Beide haben es nämlich mit dem Verhältnis von Leben und Tod zu tun, wenn auch in umgekehrter Richtung. Wenn man Alys Argument konsequent zu Ende denkt, läuft es darauf hinaus, die angeblich „rassische“ und wirtschaftliche Überlegenheit einer Nation inklusive der in ihr potenziell angelegten kriegerischen Aggressionsbereitschaft mit dem gerade als Konsequenz aus eben jenem Nationalismus gezogenen Internationalismus gleichzusetzen, der die Überwindung von Chauvinismus und internationalen Ausbeutungsstrukturen anstrebt.
Immerhin: Ein Unterschied zwischen 68er- und Nazibewegung ist Aly auch aufgefallen: „Die Revolte der einen führte rasch zur Macht, zu furchterregenden Karrieren und Konsequenzen; die der anderen endete ebenso rasch in der Niederlage, zumindest in der Zersplitterung. … Verglichen mit der NS-Zeit sind die Folgen der 68er-(Un-)Taten belanglos.“
Konsequenterweise lässt sich Aly nicht über die gänzlich verschiedenen historisch-konkreten Kontexte aus, so darüber, dass die NS-Bewegung allein durch ein Bündnis mit den traditionellen Eliten aus Konservatismus, Beamtentum, Reichswehr und Kapital in die Lage versetzt wurde, die Macht im Staat zu übernehmen und zu behaupten, während die 68er-Bewegung hingegen von den traditionellen Eliten bekämpft wurde. Bis in die Wortwahl ist bei Aly die Machtübertragung an Hitler aus seinem historischen Zusammenhang gelöst. So etwa wenn er schreibt, die „Möglichkeit zur Machtübernahme war der NSDAP im Frühjahr 1933 … zugefallen.“ Alys Argumentation folgend ist es dann wohl reiner Zufall, dass der 68er-Bewegung die Macht nicht zugefallen ist.
Insgesamt gesehen handelt es sich bei Alys Thesen um eine typische totalitarismustheoretische Argumentationsweise. Deren Mangel ist es ja gerade, lediglich formale Ähnlichkeiten der Herrschaftsausübung oder einer Bewegung zu beschreiben, nicht jedoch solche, die Aussagen über die Ziele, den sozialen Inhalt oder den historischen Gesamtzusammenhang treffen. Eine Komponente der Dichotomie Inhalt/Form wird völlig vernachlässigt, nämlich Inhalt, Zweck und Intention, um gleichzeitig die andere Komponente umso stärker hervorzuheben: Form, Mittel und Umsetzung von Herrschaftsprinzipien. Das Niveau wissenschaftlicher Analyse und Erklärung wird somit nicht erreicht, da die Aufgabe von Wissenschaft die Erklärung von Kausalbeziehungen und historischen Prozessen sein sollte. Ein Blick in die Geschichte der Totalitarismustheorie zeigt zudem, dass ihre Verbreitung in erster Linie auf ihrer politischen Instrumentalisierung als antikommunistische Waffe im Kalten Krieg beruht.
Der Renegat
Aly indes dient die Totalitarismustheorie als Mittel, um mit seiner eigenen Vergangenheit abzurechnen, daher auch sein (g)eifernder Ton. Einem Journalisten erzählte er, dass er einem totalitären Glauben verfallen gewesen sei. Wenn er sich mit dem totalitären Glauben seiner Eltern beschäftige, forsche er auch über sich. Er wolle den Totalitarismus verstehen, ob von rechts oder von links (Die Zeit 19.5.2005). Anlass des Gesprächs war sein vorheriges – ebenfalls intensiv diskutiertes – Buch „Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“. In ihm hatte Aly, damals noch subtiler argumentierend und durchaus bislang vernachlässigte Gesichtspunkte ins Licht rückend, den deutschen Faschismus quasi als sozialdemokratische „Gefälligkeitsdiktatur“ beschrieben, in dem die Integration der Lohnabhängigen durch sozialpolitische Maßnahmen erkauft worden sei. Nicht die herrschende Klasse, insbesondere das Kapital, seien Nutznießer und Förderer des Hitlerfaschismus gewesen, sondern die abhängig Beschäftigten. Der Holocaust müsse insofern als der größte Massenraub in der Geschichte gedeutet werden. Nicht im Buch selbst, sondern in Interviews sprach er explizit aus, welche politische, gleichsam „antifaschistische“ Schlussfolgerung aus diesen Erkenntnissen zu ziehen sei: Der Abbau des Sozialstaates müsse als Beseitigung der letzten Überreste der NS-Vergangenheit interpretiert werden. Thomas Kuczynski sprach daher in seiner Rezension zu „Hitlers Volksstaat“ von einer modernisierten Totalitarismustheorie (Jungle World 20.4.2005).
Nun zeichnet sich die Geschichte linker Intelligenz im Gegensatz zur rechten durch nur wenig Konsequenz und Kontinuität aus. „Viele, die als linke Intellektuelle beginnen, enden, nach den erstaunlichsten Wandlungsprozessen, nicht selten sogar am entgegengesetzten Pol des ideologischen Spektrums.“[6] Ein Grund für diese Häutungen wurde bereits eingangs erwähnt: der Opportunismus, meist hervorgerufen durch ein kurzfristiges, aber umso intensiveres Mystifizieren revolutionärer Ziele, welchem auf dem Fuß die Enttäuschung, Desillusionierung und Resignation folgt. Vermutlich ist diese Erklärung im Wesentlichen zutreffend. Das würde auch erklären, warum es für rechte Intellektuelle bislang wenig Anlass gab, die politischen Fronten zu wechseln. Wovon sollten sie auch enttäuscht werden? Es läuft doch im Großen und Ganzen gut für sie.
Das Phänomen des Konvertitentums bzw. – um einen Begriff aus der kommunistischen Propaganda aufzunehmen – des Renegaten hat mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der darauf hin einsetzenden Renaissance der Totalitarismustheorie „zur hegemonialen Ideologie der BRD“[7] eine neue Komponente erfahren. Der Begriff Renegat wird nunmehr von den Vertretern des Totalitarismuskonzeptes, wie auch von ehemaligen Linken wie Wolfgang Kraushaar, Gerd Koenen, Jan Philipp Reemtsma und eben Götz Aly, positiv zur Charakterisierung eines Emanzipationsprozess benutzt.[8] Mit diesem Gestus tritt auch Aly auf. Dabei gilt nicht nur für ihn, was bereits Anfang der 1990er Wolfgang Pohrt treffend über die ehemaligen Marxisten schrieb: „Deshalb legen die Konformisten Wert darauf, als Ketzer zu erscheinen. Je lauter einer mit den Wölfen heult, desto lieber mag er sich dabei als Tabubrecher und Querdenker bewundern. Je älter das Rezept, desto penetranter spielt sich sein Anpreiser als Neuerer auf.“[9]
Weitere Beispiele: Kraushaar und Reemtsma
Das Hamburger Institut für Sozialforschung, vor allem in Gestalt des „Chronisten der 68er-Bewegung“ Wolfgang Kraushaar, ist hierfür ein weiteres Beispiel. Bereits Ende der 1990er analysierte Karl-Heinz Roth anhand des „Projektes 1995“, welches den Zusammenhang von Zivilisation und Gewalt am Beispiel von Auschwitz, Gulag und Hiroshima zu klären beabsichtigte, „wie die zunächst aus reiner methodologischer Aporie aufgegriffene Totalitarismusdoktrin auch zu einem Vehikel wurde, um im Zeichen des allgemeinen Wertewandels unter die bisherige höchstpersönlich politische Sozialisationsgeschichte einen Schlussstrich zu setzen.“[10] Sein Fazit lautet: „Die im Hamburger Institut für Sozialforschung mit nicht wenigen ehemaligen Kommunisten koexistierenden Präzeptoren einer totalitarismusgesättigten neokonservativen Wende auf der inneren Linie der Rest-Linken sind mit ihrem Anliegen – zumindest im Kontext dieser Rest-Linken – weitgehend unter sich geblieben.“[11]
Für die Rest-Linke mag das auch heute noch zutreffen, doch wie steht es mit dem (links)liberalen Mainstream – vor allem vor dem Hintergrund, dass das Hamburger Institut seit Mitte der 1990er Jahre eine Reihe von weiteren Studien publizierte? Wolfgang Kraushaar etwa gefällt sich seit längerem in der Rolle des Mythen-Zerstörers von 68. In zahlreichen Publikationen versucht er, die linke Protestbewegung zu diskreditieren. Sei es, indem er sie als Produkt der Stasi denunziert, oder ihr Antisemitismus und Nationalismus unterstellt, oder aber Rudi Dutschkes Gewaltverständnis problematisiert. Freilich geschieht auch das mit totalitarismustheoretischen Bezügen. So auch in seinem aktuellen Buch „Achtundsechzig. Eine Bilanz“.[12] Dort ist von einem hartnäckigem Flirt mit dem kommunistischen Totalitarismus, von totalitärem Größenwahn und von stalinistisch-totalitären Positionen die Rede. Am Beispiel Horst Mahlers wird ausgeführt, dass seine Person „ein Symptom für einen lange Zeit verdeckt gebliebenen Transmissionszusammenhang dar[stellt], der mit seiner Trias Antiamerikanismus, Antisemitismus und Antiparlamentarismus ein Schlaglicht auf mehr als nur eine Addition bestimmter Namen aus dem Kontext der Achtundsechzigerbewegung wirft.“[13]
Vermeintliche Übereinstimmungen zwischen rechts und links hat Kraushaar auch im Auge, wenn er dem Mentor der Studierendenbewegung, Johannes Agnoli, eine Kontinuität seines antiparlamentarischen Denkens von seiner faschistischen Jugend bis hin zum marxistischen Verfasser der 68er-Bibel „Die Transformation der Demokratie“ vorwirft. Kern dieses Vorwurfs ist dabei weniger die Wandlung vom Faschisten zum radikalen Sozialisten, sondern, dass die Parlamentarismuskritik der APO (prä)faschistische Wurzeln habe und ihr Inhalt politisch sozusagen nur die Seite gewechselt habe.[14] In Übereinstimmung mit totalitarismustheoretischen Argumenten gilt Kraushaar somit jegliche Kritik an Liberalismus und Parlamentarismus als totalitäre Abweichung von einer vermeintlichen „gesunden“ Mitte.
Sein Förderer Jan Philipp Reemtsma schlägt in eine ähnliche Kerbe. In einem Beitrag für den von Kraushaar herausgegebenen Band „Die RAF und der linke Terrorismus“ schreibt Reemtsma, man verstehe nichts von der Geschichte der RAF, wenn man nicht insbesondere die Gewaltlockung erkenne, die in der Idee eines nicht entfremdeten, authentischen Lebens liege. „Solidarität respektive Kameradschaft […] sind für solche, die das bürgerliche Leben nicht aushalten, weil es sie überfordert.“[15] In seiner treffenden Kommentierung arbeitet Franz Schandl den Kern von Reemtsmas Argumentation heraus: „Das bürgerliche Leben ist auszuhalten. Wer mit Markt und Staat, Arbeit und Geld nicht klarkommt, ist selber schuld, ‚überfordert’, letztlich ein pathologischer Fall. Unbehagen, Aufbegehren, Widerstand werden somit zum persönlichen Manko. Was die Gesellschaft verlangt, wird hingegen idealisiert. Jeder ist doch seines Glückes Schmied, sagt der gemeine Menschenverstand, und Reemtsma als wendiger wie gewendeter Ideologe übersetzt die marktliberalen Plattheiten ins Akademische.“[16] Die strikte Personalisierung der Tat fungiere somit als Freispruch für das gesellschaftliche System.
Die Totalitarismustheorie
Dass das Totalitarismus-Konzept bzw. positiv bestimmt der antitotalitäre Konsens der Konformismus unserer Tage ist, erkannte bereits 1992 der rechte Historiker Ernst Nolte. Mit Genugtuung stellte er fest: „Nie hat eine scheinbar theoretische Konzeption einen so überwältigenden Sieg im alltäglichen Leben errungen wie der Begriff des Totalitarismus, denn er taucht in allen relevanten Äußerungen auf, die im ehemaligen Ostblock bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gemacht werden.“ Heute hat sich an diesem Befund nur insofern etwas geändert, als das Totalitarismus-Konzept nun auch für die Auseinandersetzung mit dem islamischen Fundamentalismus genutzt wird. Dabei steht die exzessive Benutzung des Wortes „totalitär“ im umgekehrten Verhältnis zur Reflexion darüber, was die Totalitarismustheorie eigentlich als Theorie leistet bzw., ob sie überhaupt als solche bezeichnet werden kann.
Bezeichnenderweise – man ist geneigt zu sagen, kurioserweise – stellen ihr gerade jene Vertreter, die sich in ernstzunehmender Weise mit der von ihr vertretenen Theorie beschäftigt haben, ein erstaunlich schlechtes Zeugnis aus. So zum Beispiel Clemens Vollnhals, Mitarbeiter des mit üppigen öffentlichen Finanzmitteln ausgestatteten Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung. Er konstatiert das Fehlen einer theoretisch befriedigenden, die historischen Unterschiede nicht verwischenden Totalitarismustheorie.[17] Oder Gerhard Besier, seines Zeichens Professor für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden und Direktor des Hannah-Arendt-Instituts. Quintessenz seines Interviews mit der „Welt“ lautete: „Die Totalitarismustheorie ist gescheitert“ (1.11.2006). Oder schließlich Wolfgang Kraushaar. Sein Fall ist insofern ein besonderer, weil er sich in seinem Buch „Linke Geisterfahrer. Denkanstöße für eine antitotalitäre Linke“ in der Tat auf hohem Niveau mit verschiedenen Totalitarismustheorien beschäftigt. Und insbesondere ist er einer der wenigen, die die fundamentale Kritik von Hans J. Lietzmann an dem bekanntesten Modell des Totalitarismus, dem von Carl Joachim Friedrich, ernst nimmt. Lietzmann hatte nachweisen können, dass gerade die Entgegensetzung von parlamentarischer Demokratie und totalitärer Herrschaft sich eben nicht auf Friedrich berufen könne. Denn, so Lietzmann: „Friedrich zeichnet sein Bild der ‚totalitären Diktatur vielmehr aus der Perspektive seiner Option für eine ‚konstitutionelle’ Diktatur. Seiner Kerntheorie eines ‚benevolent despotism’ liegt aber gerade keine Demokratietheorie zugrunde.“[18] Sein Fazit lautet infolgedessen, dass „eine pluralistische Theorie der Demokratie – die umgangssprachlich als Alternative des Totalitarismus gemeint wird – auf ihrer Basis nicht zu haben (ist). Sie hat einen durch und durch autoritären Kern.“[19] Antitotalitarismus kann somit per se nicht demokratisch sein.
Resümierend schreibt Wolfgang Kraushaar, dass „zumindest im deutschsprachigen Raum die Ansätze zu einer Reformulierung der Totalitarismustheorien eher in eine Sackgasse geführt [haben].“[20] Freilich jedoch hält auch er am Totalitarismus-Begriff fest, was mehr mit politischen denn mit wissenschaftlichen Gründen zu tun haben dürfte.
Den Befürwortern der Totalitarismustheorie ist die Schwäche ihrer „Theorie“ auch deshalb bewusst, weil sie für die Hochkonjunktur ihres Ansatzes nach 1990 eben nicht theoretische oder empirische Fortschritte verantwortlich machen, sondern veränderte politisch-gesellschaftliche Rahmenbedingen: nämlich das Verschwinden einer realen gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus. Welche Funktion fällt der Totalitarismustheorie dadurch zu? Ihr antikommunistischer Kern hat sie für den kapitalistischen Westen als Legitimationsideologie jahrzehntelang unverzichtbar gemacht. Mit dem Ende des Realsozialismus schien aber dem „Wir“ des „Westens“ das „Andere“ als Projektionsfläche abhanden gekommen zu sein. Nur noch zur ideologischen Absicherung der Abwicklung der DDR und ihrer Eliten in der Berliner Republik und zur prophylaktischen Diskreditierung jedweder Systemalternative fand der Totalitarismus-Begriff nun noch Verwendung. Fehlt jedoch das „Andere“, droht eine Lücke in der Selbstbeschreibung des „Wir“. Spätestens seit dem 11. September 2001 schließt sich diese Lücke wieder. Der „totalitäre Islamismus“, der „Fundamentalismus“ übernimmt nun die Funktion des früheren Kommunismus. „Der Islam wird nun nicht nur als ideologische Antithese gegriffen, sondern als gesamtkulturelle Antithese zum „Westen“ und zu seinem universalistischen Anspruch. Der Islam gerät so zur Begründung des Gegen-Westens, zur Gegen-Moderne, ja zur Gegen-Zivilisation“, sah Reinhard Schulze bereits 1991 diese Entwicklung voraus.[21]
Neue Bürgerlichkeit
Diese Reformulierung der Totalitarismustheorie ordnet sich in den Kampf über die Deutung von „68“ in Deutschland ein, der wiederum in einen längeren Prozess der Verschiebungen im politisch-kulturellen Überbau betrachtet werden muss, der für die vergangenen Jahrzehnte an dieser Stelle lediglich mit den Stichworten geistig-moralische Wende, Historikerstreit, „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) und Ende des utopischen Zeitalters (Joachim Fest) angedeutet werden kann. Ein zentraler Gedanke dieser Diskussionen war, dass jegliche Alternative zum Kapitalismus und zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, jegliches Festhalten an einer (konkreten) Utopie quasi zwangsläufig in totalitäre Gewalt und Terror münden müsse. Die tendenzielle Gleichsetzung von Gewalt und Protest negiert auf diese Weise pauschal jeglichen gesellschafts- und systemkritischen Impuls. In den 1970er hatten dies nur rechtskonservative Politiker und Intellektuelle vertreten.
Oskar Negt und Alexander Kluge hatten die Verschiebungen Anfang der 1990er Jahre folgendermaßen pointiert auf den Punkt gebracht: „Vieles von dem, was man in den letzten Jahrzehnten der Vergangenheit zuzuschlagen entschlossen und bereit war, erlebt plötzlich eine gewaltige Aufwertung und einen geradezu erdrückenden Realitätszuwachs: Staat, Nation, Kapital, Religion und Geld assoziieren sich nun in einer Weise mit Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie, als hätte es die Blutlinie dieser Begriffe im 20. Jahrhundert nie gegeben. Dem Bedeutungs- und Erklärungsgewinn dieser Worte der herrschenden Gruppen entspricht die Entleerung von Begriffen wie Solidarität, Gemeinwesen, Gemeinwirtschaft, vernünftige gesellschaftliche Organisation.“[22]
Dieser Wandel der kulturellen Hegemonie, in dem sich noch zusätzlich neoliberale Deutungsmuster einschreiben, fand in den letzten Jahren seine Fortsetzung in der Debatte über die so genannte neue Bürgerlichkeit. Albrecht von Lucke z.B. beschreibt die derzeitige Auseinandersetzung über 1968 vor dem Hintergrund der zunehmenden sozialen Polarisierung (Hartz IV etc.) und der damit einhergehenden Unterschichts- und Prekariats-Diskussionen, kurz: vor dem Hintergrund einer neuen Klassengesellschaft.[23] Damit korrespondiere in bürgerlichen Schichten ein bemerkenswerter Wertewandel, der seit geraumer Zeit unter dem Stichwort „Neue Bürgerlichkeit“ firmiere und sich explizit gegen „68“ richte. Der Kern des Wertewandels bestehe in einem Comeback der Familie, mithin in der Entpolitisierung des Privaten, also gerade der Umkehrung der Politisierung des Privaten den 1970er Jahre, und der Renaissance bürgerlicher respektive konservativer Werte. Protagonisten dieser sich vornehmlich im Feuilleton abspielenden Debatte sind etwa Paul Nolte, Udo di Fabio, Frank Schirrmacher, Arnulf Baring, Bernhard Bueb und Eva Herman.
Hinter dieser Diskussion verbirgt sich von Lucke zufolge ein Streit über den Stellenwert der Trias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.[24] Da allerdings die historische Schuld des deutschen Bürgertums – nur mit ihm kam Hitler an die Macht – unbestritten sei, kommen in letzter Zeit Bestrebungen zum Ausdruck, die eben jene Komplizenschaft des Bürgertums mit dem Dritten Reiches durch die Konstruierung einer Kontinuitätsthese einer angeblich verhängnisvollen Bewegungspolitik von 1933 bis 1968 gegen das Bürgertum zu relativieren suche. Von Lucke zeigt dies vor allem anhand der Diskussion über Günter Grass Bekenntnis, in jungen Jahren Mitglieder der Waffen-SS gewesen zu sein. Den „Zeit“-Autor Jens Jessen verleitete Grass positive Schilderung des angeblich „Antibürgerlichen“ des Nationalsozialismus zu der Frage, „ob dieser sich von dem Hokuspokus der nationalsozialistischen Propaganda befreit“ habe, um diesen Gedanken sogleich gegen 68 zu wenden. „Und in der Tat war das ja die Verheißung der Studentenbewegung nach 1968, die sich gegen die Spießigkeit der Elterngeneration wandte, genauso wie Grass es seinerzeit tat, als er sich zum Wehrdienst meldete.“[25]
Götz Alys Abrechnungsschrift spitzt diese Lesart, wonach 1933 und 1968 dieselben antibürgerlichen Wurzeln haben, lediglich zu. Wenn das Bürgertum somit von rechts wie links in die Zange genommen wird, nimmt es nicht wunder, wenn parallel Argumentationen auftauchen, die das Bürgertum als immun gegen diese Extreme erscheinen lassen, die kleinbürgerlichen und proletarischen Massen hingegen nicht. So verlief etwa die Rezeption von Joachim Fests autobiografischen Buch mit dem programmatischen Titel „Ich nicht. Erinnerungen an Kindheit und Jugend“. In einem Kommentar der Welt (30.8.2006) hieß es: „Joachim Fest steht kurz davor, von den Propagandisten der ‚neuen Bürgerlichkeit’ als Galionsfigur vereinnahmt zu werden…“
Das Aufkommen des citoyen in Deutschland Ende der 1960er Jahre, so Albrecht von Lucke, „speiste sich also gerade aus dem Entsetzen über das deutsche Jahrhundertverbrechen und sein gesellschaftliches wie habituelles Fortwirken.“ Von einer direkten Kontinuität zwischen 1933 und 1968 könne schon deshalb keine Rede sein. „Doch dieser moralisch-republikanische Ursprung der Studentenbewegung sollte in der Grass-Debatte vernebelt werden, eben durch Konstruktion einer verbrecherischen, ja mörderischen antibürgerlichen Traditionslinie.“[26] Eine Fortsetzung findet diese Argumentation in Alys Abrechnungsschrift.
In der Debatte über die neue Bürgerlichkeit – und hier zeigt sich insbesondere auch ihre neoliberale Komponente – steht vor allem eins unter Generalverdacht: der Egalitarismus. Erneut wird zur Diskreditierung des Anspruchs auf soziale Gerechtigkeit oder Gleichheit „eine erstaunliche Kontinuitätsthese gezogen, und zwar wiederum unter dem Label der antibürgerlichen ‚Bewegung’: von der völkischen Gleichmacherei des Dritten Reiches über die sozialistische Gleichmacherei des real-existierenden Sozialismus der DDR bis hin zur angeblichen Gleichmacherei des bundesrepublikanischen Sozialstaates.“[27] Wiederum war Götz Aly hier einer der ersten ehemaligen Linken, der dieses Argument vorbrachte. Was hier durchschimmert und wo klassische Konservative, 68er-Renegaten und Neoliberale trotz sonstiger erheblicher Unterschiede eine gemeinsame Schnittmenge bilden ist das uralte konservative Ressentiment gegenüber dem Versprechen der bürgerlichen Revolution von liberté, égalité, fraternité sowie gegenüber der Massengesellschaft. Die konservativ-neoliberale Krisendiagnostik lautet wie folgt: Die BRD leide im Gegensatz zu anderen modernen Staaten an einem zuviel an Egalitarismus, habe einen „gleichmacherischen Umverteilungsstaat“, der breite Bevölkerungsschichten alimentiere. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit werde infolgedesen eingeschränkt. Um dieser indessen erneut zum Durchbruch zu verschaffen, sei eben mehr Ungleichheit und Differenz das Gebot der Stunde. Die alte Klassengesellschaft werde gleichsam von rechts wieder eingeführt, um damit das bundesrepublikanische System der Umverteilung zu delegitimieren, so Albrecht von Lucke.[28] Am prononciertesten hat dieses Argument der ehemalige BDI-Vorsitzende Hans-Olaf Henkel vorgetragen, dem das Motto der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ bereits als Ursprung totalitärer Pervertierung gilt. Forderungen nach Gleichheit münden ihm zufolge stets im totalitären Terror. Der Kampf um die Deutung von „68“ kreist insofern um die Alternative „Freiheit versus Gleichheit“ oder „Freiheit und Gleichheit“. Ist 1968 in erster Linie als ein Ereignis der Individualisierung, ja der romantischen Anti- und Asozialität im Sinne der Selbstentfaltung und -befreiung zu verstehen? Oder aber als ein Ereignis der Solidarisierung, das auf soziale und globale Gerechtigkeit abzielte? Eine ästhetisch-kulturrevolutionäre, die aktuell die Oberhand gewinnt, steht einer politischen Lesart von 1968 entgegen.[29]
Zurück zu Aly und den anderen Renegaten: Ihre spezifische Funktion besteht darin, dass sie unter den Bedingungen einer fehlenden Systemalternative zum Kapitalismus einen weitaus bedeutenderen Beitrag für die Durchsetzung des „stillen Siegs“ des Totalitarismus-Begriffs leisten, der im Kern die Aufgabe von sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit impliziert, als die herkömmlichen konservativen Intellektuellen. Denn nichts ist für eine Theorie überzeugender, als wenn sich ehemalige (linke) Kritiker zu ihr bekennen. Aly und Co. fungieren somit als Kronzeugen gegen die Linke. Es bleibt die Frage, die ein rechter Publizist mit Bezug auf die Häutungen von Joseph Fischer in folgende Worte fasste: „Weshalb [wird] plötzlich als neue Einsicht verkündet, was wir ›Rechten‹ schon immer wußten… Was sollen wir eigentlich von der Urteilsfähigkeit eines Politikers halten, dessen bisherige Analysen alle falsch waren und der dem verdutzten Publikum nunmehr die Positionen des politischen Gegners als neueste Einsichten anpreist?“[30]
Herausforderungen
Für die Linke stellen sich infolgedessen mehrere Herausforderungen: Zum einen gilt es, die zeitgeschichtlichen Symptome einer geistig-moralischen Wende, die bereits seit Anfang der 1980er Jahre immer stärker auf eine politische Neuorientierung nach rechts drängt, ideologiekritisch zu hinterfragen.
Des Weiteren ist die Struktur, in der sich solche Entwicklungen vom übereifrigen Revolutionär zum Renegaten immer wieder vollziehen, zu analysieren. Überdies stellt sich die Aufgabe, – in Abgrenzung zur traditionellen Vorgehensweise der Diskreditierung des Renegaten als Verräter – sich mit seiner Autokritik ernsthaft auseinanderzusetzen. Und schließlich vor allem muss sie durch eine Beschäftigung mit der Geschichte herauszuarbeiten, welches grenzüberschreitende Denken, welche vorerst gescheiterte Utopie die Akteure von 1968 antrieb. Mit Walter Benjamin geht es darum, die Vorstellung eines wie auch immer verschütteten, entstellten revolutionären Moments wach zu halten, an dem gerade im Bewusstsein des Scheiterns aller Utopien und einer ständigen Antastbarkeit der Würde des Menschen festzuhalten ist. Anderenfalls droht das, was bereits Adorno als drückende Hypothek empfand, und was Oskar Negt in seiner Auseinandersetzung mit den 68-er-Renegaten als äußerst bedrohlich empfand: eine Menschheit ohne gesellschaftliche Erinnerungsfähigkeit, die eben ohne Aufbewahrung ihrer wenn auch historisch gescheiterten Befreiungsversuche nur schwerlich einen neuen wird beschreiten können.
Anmerkungen
[1] Oskar Negt, Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995, S. 9
[2] Zit. nach Oskar Negt/Alexander Kluge, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. 1992, S. 61.
[3] Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, S. 210.
[4] Vgl. auch Joscha Schmierer, Wider die Provinzialisierung und Verdeutschung von 68, in: Kommune 4/2007, der ebenfalls den globalen Aspekt herausstreicht: „Die Bündelung der Stoßkraft all dieser verschiedenen Bewegungen in Richtung Emanzipation und letztlich Sozialismus war das Metaereignis des rund um den Globus äußerst ereignisreichen Jahres.“
[5] Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – Ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008, S. 8. Vgl. auch die gründliche Kritik von Joachim Bischoff/Christoph Lieber, Mythos 68 – eine Deutung unter dem Blickwinkel des bundesdeutschen Spießers. Zu Götz Alys Vergangenheitsbewältigung, in: Sozialismus 2008/4, S. 51-56.
[6] Gilbert Ziebura, Über das Chamäleonhafte linker Intellektueller, in: Prokla 70, 18. Jg., März 1988, S. 23.
[7] Karl Heinz Roth, Geschichtsrevisionismus. Die Wiedergeburt der Totalitarismustheorie, Hamburg 1999, S. 101
[8] Vgl. Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien, Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997, S. 58.
[9] Wolfgang Pohrt, Kommunismus oder Barbarei, in: konkret 02/1993, S. 22ff.
[10] Karl Heinz Roth, „Sich aufs Eis wagen. Zur Wiederbelebung der Totalitarismustheorie des Hamburger Instituts für Sozialforschung, in: Roth, a.a.O., S. 123.
[11] Ebd., S. 127.
[12] Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008.
[13] Ebd., S. 252. 109 Mit Norbert Frei ist in Bezug auf diese Frage festzuhalten: „Die transatlantische Beziehungsgeschichte dieses linken Pazifismus und Antikapitalismus steht im übrigen der Vorstellung eines pauschalen Antiamerikanismus in der deutschen Studentenbewegung entgegen – politisch und mehr noch kulturell.“ Und: „Aber sie war weder per se antisemitisch noch in jenem kulturellen Sinne antiamerikanisch, wie das für die deutsche Rechte zum Teil auch über 1945 hinaus gesagt werden kann.“ Frei, a.a.O., S. 109 u. 222.
[14] Vgl. Seitenwechsel und Veränderung, in: FAZ vom 12.12.2006. Vgl. auch Wolfgang Kraushaar, Agnoli, die Apo und der konstitutive Illiberalismus seiner Parlamentarismuskritik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1/2007. Kritisch dazu: Clemens Nachtmann, Der Langweiler als Denunziant, in: Jungle World vom 3.1.2007.
[15] Jan Philipp Reemtsma, Was heißt „die Geschichte der RAF verstehen“? in: Wolfgang Kraushaar, Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bd., Hamburg 2006, S. 1368.
[16] Franz Schandl, Fratze statt Mythos, in: Freitag vom 9.2.2007. Schandl plädiert übrigens nicht für eine Rehabilitierung der RAF oder von 1968, sondern lediglich für eine Realisierung des Kontextes und den Respekt vor den Motiven. „Die Fragen, die damals aufgeworfen wurden, sind ja mitnichten erledigt. Da mögen sich die ersten Antworten noch so blamiert, ja desavouiert haben.“
[17] Clemens Vollnhals, Die Totalitarismustheorie im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 39/2006, S. 27.
[18] Hans J. Lietzmann, Politikwissenschaft im „Zeitalter der Diktaturen“. Die Entwicklung der Totalitarismustheorie Carl Joachim Friedrichs, Opladen 1999, S. 299.
[19] Ebd., S. 303.
[20] Wolfgang Kraushaar, Linke Geisterfahrer. Denkanstösse für eine antitotalitäre Linke, Frankfurt/Main 2001, S. 242.
[21] Reinhard Schulze, Vom Antikommunismus zum Antiislamismus. Der Kuwait-Krieg als Fortschreibung des Ost-West-Konflikts, in: Peripherie Nr. 41, S. 7.
[22] Negt/Kluge, a.a.O., S. 62f.
[23] Albrecht von Lucke, 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Berlin 2008.
[24] Von Lucke, a.a.O., S. 51.
[25] Jens Jessen, ‚Und Grass wundert sich’, in: Die Zeit, Nr. 34, 17.8.2006. Vgl. auch Guido Speckmann, Aus der Geschichte lernen? Grass-Debatte und Götz Alys Bestandsaufnahme des Historikerstreits, in: Sozialismus 2006/9.
[26] Von Lucke, a.a.O., S. 61.
[27] Ebd., S. 66.
[28] Ebd., S. 67.
[29] Vgl. Ebd. S. 68.
[30] Zit. nach Pohrt, a.a.O.
(aus Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 74, Juni 2008; eine gekürzte Vorfassung erschien in junge Welt, 15.4.2008)