Das deutsche Zentralorgan des Konservatismus, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), hatte es im letzten halben Jahr nicht leicht: Allenthalben sah man sich mit einem Linksruck konfrontiert, der selbst vor der CDU/CSU nicht haltmachte. „Ist die Union noch konservativ?“ fragte besorgt Wulf Schmiese, um die Frage umgehend selbst zu beantworten. „Vielen fehlt heute auf der Rechten das Klare und Kantige.“ (28.7.2007) Bedauernd stellte Stefan Dietrich in seinem überaus interessanten Kommentar „Die Systemfrage“ fest, dass das Thema „soziale Gerechtigkeit“ die Arbeitslosigkeit von der Spitze der Agenda verdrängt habe. Man dürfe, wolle man verhindern, „dass auch noch das zweite Drittel der Gesellschaft die Grundlagen unseres politischen und wirtschaftlichen Systems in Frage stellt“, das Thema keineswegs als eingebildetes Problem abtun (2.1.2008). In einem unfreiwillig komischen Text schließlich durfte der ehemalige BDI-Vorsitzende Hans-Olaf Henkel beklagend konstatieren: „Die Mitte liegt links. Mindestlöhne, Managergehälter, Migranten. In der Politik geht es fast nur noch um soziale Gerechtigkeit. Mit fatalen Folgen.“ (FAS, 30.12.2007)
Und nun auch noch dies: Die „letzte Bastion der Konservativen in der CDU“, Roland Koch, der Anker, von dem man sich erhoffte, dass sich die CDU nicht allzu schnell den Strömungen des Zeitgeistes – sprich dem angeblichen Linksdrift – ergebe (FAZ, 26.1.2008), hat bei den hessischen Landtagswahlen eine vernichtende Niederlage erlitten.
Dabei hatte man sich doch redlich bemüht, Koch Schützenhilfe zu leisten – auf das das „Klare und Kantige“ im deutschen Konservatismus wieder wahrnehmbar werde. Und zunächst – eben bis zur Wahl – sah es ja auch gar nicht so schlecht aus. Robert Kochs Forderung anlässlich eines Überfalls von Jugendlichen mit nichtdeutschem Pass auf einen Münchener Rentner, das Jugendstrafrecht zu verschärfen, hatte augenblicklich das Thema soziale Gerechtigkeit in den Hintergrund und klassische konservative Themen in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gespielt: innere Sicherheit, härtere Strafen und – hier trifft sich der Konservatismus mit der extremen Rechten – Ressentiments gegenüber Migranten.
Offenbar beflügelt von Kochs erneutem Ausspielen der rassistischen Karte – man danke an seine Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft – legte Frank Schirrmacher, seines Zeichen Mitherausgeber der FAZ, nach. Unter der Überschrift „Junge Männer auf Feindfahrt“ (15.1.2008) sprach er sich, so der Vorspann, für das Führen der Debatte über ausländische Jugendkriminalität aus. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass aus den Gewalttaten eine Ideologie erwachse. So weit, so gut. Doch der eigentliche Text wartete mit Behauptungen auf, die Roland Koch bei weitem übertrafen.
Nachdem Schirrmacher – einem typischen konservativen Argumentationsmuster folgend – das (von einer angeblichen linken Hegemonie ausgeübte) Redeverbot über ausländische Jugendkriminalität für Geschichte erklärt hat, macht er auf eine historische Novität aufmerksam: „Uns war historisch unbekannt, dass eine Mehrheit zum rassistischen Hassobjekt einer Minderheit werden kann.“ Als Indiz für diese These, die im Übrigen in abgeschwächter Form auch Angela Merkel formuliert hatte, gilt ihm ein Vorfall in Berlin. Dort hatten türkisch- und libanesischstämmige Jugendliche einen Busfahrer mit den Worten „Alles nur Scheiß-Deutsche überall!“ angegriffen. Ähnliche Vorfälle sollen sich Aussagen der Polizei zufolge häufen. Nunmehr also sieht Schirrmacher die nächste Phase der Nicht-Integration der Zuwanderer erreicht: „die Desintegration der Mehrheit durch punktuelles Totschlagen Einzelner.“
Diese Schirrmachersche Konstruktion einer Deutschenfeindlichkeit, darauf hat Albrecht von Lucke in der taz (23.1.2007) zu Recht hingewiesen, läuft letzten Endes auf ein Freund-Feind-Schema nach Car Schmitt hinaus. Freilich kommt sie ohne empirische Grundlage aus, denn verwundert fragt man sich, wer bislang wen totgeschlagen hat? Die Zahl der Todesopfer von Neonazis, die sich oftmals als Vollstrecker einer rassistischen relevanten Meinung fühlen, liegt seit der Wiedervereinigung bei über 100. Von Todesopfern vermeintlicher deutschenfeindlicher Übergriffe ist indes bislang noch nichts bekannt geworden, wie nebenbei bemerkt alle empirischen Studien, die natürlich auch die FAZ in sachlicheren Artikeln anführt, weder von einer Zunahme der Jugendgewalt im Allgemeinen noch von einer migrantischen im Besonderen ausgehen. Im Gegenteil: Viele Untersuchungen belegen eine Abnahme und betonen, dass nicht der Migrationshintergrund, sondern eine Vielzahl von ökonomischen, sozialen, individuellen und situativen Faktoren für die Kriminalität verantwortlich ist. „Jugendkriminalität ist kein Ausländerthema, sondern ein Unterschichtenthema“, so Christian Pfeiffers, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens (FAZ, 10.1.2008).
Weiter geht es in Schirrmachers Text mit dem, was im Feuilleton ungerechtfertigterweise – weil eher ein Nebenaspekt – für Aufregung sorgte und die BILD-Zeitung veranlasste, Schirrmachers Text auszugsweise nachzudrucken: Schirrmachers harsche Kritik am Videoblog seines früheren Kollegen und jetzigen ZEIT-Feuilleton-Chefs Jens Jessen. Dieser hatte versucht, den Blick einmal umzudrehen und die Frage aufgeworfen, ob es „nicht zu viele besserwisserische deutsche Rentner gibt, die den Ausländern hier das Leben zur Hölle machen und den Deutschen auch“. Zugegeben: der Fokus auf die spießigen Rentner erscheint diskussionswürdig, die Frage an sich nicht. Bezeichnend ist indes, dass die Erregung von Schirrmacher, BILD und taz sich auf diesen Aspekt beschränkte, Jessens viel wichtigeren Aussagen dagegen unter den Tisch fielen. Seine Empörung über die Grenzüberschreitung zum Rassismus in der Debatte über Jugendkriminalität etwa. Oder der Hinweis, dass es viel mehr Opfer deutscher Kriminalität gebe. Stichwort Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen etc.
Nun versteht sich Schirrmacher offenbar als jemand, der auf latent vorhandene Gefahren hinweisen möchte. Seine abschließende Forderung an den Staat lautet daher, dass dieser doch aussprechen solle, dass „die Mischung aus Jugendkriminalität und muslimischem Fundamentalismus potenziell das ist, was heute den tödlichen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts am nächsten kommt.“ Das ist nun in der Tat eine Kante, wie man sie sich klarer kaum vorstellen kann. Bislang ist noch niemand auf die Idee gekommen – und dafür gibt es gut Gründe – die Jugendkriminalität von muslimischen Migranten zumindest dem Potenzial nach mit dem Nazi-Faschismus und dem Stalinismus zu vergleichen. „Willkommen daheim im Weltbürgerkrieg!“, kommentierte immerhin die gleichfalls konservative WELT (17.1.2008). Und weiter heißt es: „Aber diesmal sind die Deutschen als potenzielle Opfer auf der richtigen Seite. Man kann schließlich nicht ewig als Tätervolk durch die Weltgeschichte humpeln.“
Unlängst wurden die zehn besten Feuilleton-Artikel des Jahres 2007 gekürt. Das Jahr 2008 ist noch jung, doch schon jetzt sei Schirrmachers Deutschenfeindlichkeits-Artikel für die Top Ten dieses Jahres empfohlen. Nicht weil er so gut geschrieben, sondern weil er unfassbar bemerkenswert ist. Und weil Schirrmacher nicht zum ersten Mal sein sensorisches Gespür für zukünftige Diskussionen unter Beweis gestellt hat.
Nachdem die letzte Bastion des konservativen Flügels in der Union gefallen ist, ist derweil ein Streit über den zukünftigen Kurs der Union entbrannt. In der ZEIT warnten 17 mehr oder minder prominente Unionspolitiker davor, die Integrationspolitik zum Wahlkampfthema zu machen. Das war natürlich – auch wenn man einen Tag später zurückruderte – eine harsche Kritik an Kochs Wahlkampf. Angela Merkel hingegen ließ verlautbaren, die Thematisierung der Jugendkriminalität sei richtig gewesen. Damit ging sie geschickt über den Kern der hessischen CDU-Kampagne – den Rassismus – hinweg.
Auf der anderen Seite war der Kern von Kochs Wahlkampf womöglich ein ganz anderer: nämlich seine Forderung, das Jugendstrafrecht auf Kinder ab zwölf auszuweiten. Damit hatte er den Bogen überspannt. Denn im Gegensatz zu Ausländern mögen viele Deutsche Kinder ja durchaus. Und insofern ist das Gerede vom Sieg der politischen Kultur in Deutschland nicht ganz so hoch zu veranschlagen.