„Wo hat man eigentlich jemals in der Welt eine Nation gesehen, die Mahnmale zur Verewigung der eigenen Schande errichtet hat?“ Diese Frage stellte der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, während einer Veranstaltung im thüringischen Landtag anlässlich des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar.
Der diesjährige Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz fällt zeitnah zusammen mit dem Jahrestag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar vor 75 Jahren. Das war und wird Anlass für diverse Rückblicke wie für Resümees des Umgangs mit dieser Historie sein.
Mit seinem Lob der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland bringt Primor auf den Punkt, was für die Identitätsbildung der Bundesrepublik nach der so genannten Wiedervereinigung immer prägender wurde: die öffentliche Reflexion der historischen Schuld – nunmehr materialisiert im Berliner Holocaustmahnmal, von dem der Schriftsteller Martin Walser eine „Dauerrepräsentation unserer Schande“ befürchtete, während Ex-Kanzler Gerhard Schröder sich einen netten Familienausflugsort wünschte.
Das Lob der deutschen Vergangenheitsbewältigung freilich verkennt mehreres. Zunächst einmal, dass es mehrere Jahrzehnte dauerte, dass von einer solchen überhaupt die Rede sein konnte. Die Frühphase der Bundesrepublik zeichnete sich vielmehr durch das Gegenteil aus. Der konservative Philosoph Hermann Lübbe nannte es das „kommunikative Beschweigen“ der Vergangenheit. Eine Voraussetzung nicht nur für die Integration der Nazi-Täter in die Bundesrepublik, sondern auch für die nahezu ungebrochen Elitenkontinuität vom deutschen Faschismus zur BRD. Abgesichert wurde diese Integration und Elitenkontinuität durch ein Bündel von politischen Maßnahmen und Amnestien der Nazi-Verbrecher.
Diese „Politik der Milde“ hat Norbert Frei in seinem Buch „Vergangenheitspolitik“ beeindruckend beschrieben. Überdies war der frühe öffentliche Diskurs über den Nationalsozialismus zwar von einer normativen Abgrenzung charakterisiert, die jedoch im Zeichen des Antitotalitarismus auch antikommunistisch ausgerichtet war. So konnte ein Ideologieelement des Nazismus aufgegriffen werden. Infolgedessen hielten die meisten Deutschen einer Umfrage Anfang der 1960er Jahre zufolge das „SED-Regime“ für schlimmer als die NS-Diktatur.
Des Weiteren zeichnete sich die öffentliche Erinnerung durch eine aus heutiger Sicht erschreckenden Empathielosigkeit gegenüber den Opfern – ausgenommen den eigenen – aus, wobei manche wie die Sinti und Roma bis heute kaum im Bewusstsein präsent sind. Darüber hinaus gab es eine Solidarität mit den von den Alliierten angeklagten Kriegsverbrechern, die wie eine „sekundäre Bestätigung der NS-Volksgemeinschaft“ (Frei) wirkte. Und Schuld schien sowieso nur eine übermächtige Person gehabt zu haben: Hitler.
Erst Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre, anlässlich von mehreren Prozessen gegen Kriegsverbrechen und vor allem dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt, setzte der Prozess ein, der für die heutige Erinnerungskultur so prägend ist: der negative Bezug auf den Holocaust. Schließlich wurde erst mit der 68er-Bewegung die stillschweigende Eingliederung der NS-Verbrecher kritisiert.
Zudem weiß jeder, der sich ein wenig mit der Geschichte der Gedenkstätten in der Bundesrepublik beschäftigt hat, dass es hartnäckiger und beharrlicher Arbeit der Organisationen der ehemaligen Häftlinge (wie der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ u.a.), von Jugendverbänden und Gewerkschaften bedurfte, die nicht selten auf heftige Widerstände der lokalen Behörden stieß, um ein würdiges Andenken und nachhaltige Aufklärung zu erreichen. Die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg, die in diversen Publikationen nachzulesen ist, markiert hier nur die Spitze des Eisbergs.
Mit der geistig-moralischen Wende unter Kanzler Helmut Kohl freilich setzte eine Gegentendenz ein. Hier seien die Stichworte „Normalisierung“ und „Ziehen eines Schlussstrichs“ genannt, die Ausdruck in der wohl berühmtesten vergangenheitspolitischen Debatte fanden: dem Historikerstreit. In dieser ging es im Kern um die so genannte Singularitätsthese des Holocaust, die – berechtigterweise – relativierenden Vergleichen vorbeugen sollte. Doch ging mit der Postulierung derselben die Gefahr einher, dass der Judenmord aus dem geschichtlichen Fluss herausgelöst bzw. vermieden wird, etwa über das Verhältnis von Schattenseiten und Errungenschaften der kapitalistischen Moderne nachzudenken.
Der Zusammenbruch des Realsozialismus 1989/90 veränderte dann die Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus fundamental. Denn nun sah sich die Bundesrepublik mit zwei Kapiteln einer dunklen Vergangenheit konfrontiert. Zwar blieb die Erinnerung an den Nationalsozialismus trotz weiterer Schlussstrichbemühungen – man denke an Martin Walsers Paulskirchenrede – und trotz deutscher Opferdiskurse weiterhin prägend. Doch mit der leichtfertigen und durch seriöse Betrachtungen nicht zu rechtfertigenden Parallelisierung des Nazi-Faschismus mit der untergegangene DDR (sechs Millionen ermordeter Juden sind eben nicht mit sechs Millionen Stasiakten zu vergleichen) vermischte sich die öffentliche Erinnerung. Somit war stets die Gefahr der Relativierung der Nazi-Verbreuchen gegeben. Dies hatte Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates der Sinti und Roma, im Sinne, als er in seiner Stellungnahme zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus anmahnte, stärker zwischen Unrecht in der DDR und Nazi-Verbrechen zu unterscheiden.
Und noch eine Konsequenz ergab sich, worauf Franziska Augstein hingewiesen hat. Dadurch dass im Diskurs der Bundesrepublik der Faschismus mit der DDR auf eine Stufe gestellt wird, wird die Überlegenheit der Bundesrepublik über die DDR zementiert und die Erinnerung an den Nazi-Faschismus entschärft. Augstein hat das pointiert in folgende Worte gefasst: „Die Bundesrepublik braucht die DDR, um sich über sie vom Nationalsozialismus abzustoßen.“
Auf diese Weise setzte eine Normalisierung des deutschen Staates ein. Außenpolitisch agiert man wie ein gewöhnlicher Staat – Kriegseinsätze einer rot-grünen Regierung, eben mit dem Verweis auf „Nie wieder Auschwitz“, eingeschlossen. Somit hat die „Inkorporierung der Erinnerung“ in das nationale Selbstverständnis keineswegs die „Dauerrepräsentation unserer Schande“ zur Folge, sondern wird mit dem Verweis auf die angeblich so gelungene und immer großspuriger daherkommende Vergangenheitsbewältigung selbst Quelle eines neuen nationalen Selbstbewusstseins. Es hat den Charakter eines abschließende Rituals, welches mal implizit oder explizit mit dem Verweis auf die nun jahrzehntelange demokratische und rechtsstaatliche Tradition der Bundesrepublik durch die Übernahme „westlicher Werte“ einhergeht.
Das Bekenntnis zur Täterschaft und die Mahnung, die Verbrechen nicht zu vergessen, geschieht auf einer moralisch-abstrakten Ebene, die das Geschehene weitgehend enthistorisiert, entkontextualisiert und entkonkretisiert. Übersehen wird dabei, dass die westliche Moderne gerade nicht alleiniger Garant für Frieden und Freiheit ist, sondern gerade ihre Elemente den Weg in die Katastrophe wiesen. Der Holocaust war kein Bruch mit der kapitalistischen Moderne, sondern ihre Schattenseite. Ausgeschlossen werden somit Kontinuitätsbezüge, die eine Verbindung von Vergangenem und Gegenwärtigen herstellen.
Das Lob der deutschen Vergangenheitsbewältigung erscheint insofern als etwas verfrüht. Es käme darauf an, eben gerade kontinuitätstheoretische Bezüge stark zu machen und parallel dazu ihre Vermittlung in die öffentliche Diskussion zu fördern.
(aus: www.sozialismus.de)