Marcus Hawel/Gregor Kritidis (Hrsg.), Aufschrei der Utopie. Möglichkeiten einer anderen Welt, Offizin-Verlag, Hannover 2006, 304 S., 18,00 Euro
„Trotz objektiv technischer Möglichkeiten der Abschaffung von Armut und Elend verschärft der Marktradikalismus die gesellschaftlichen Strukturprobleme und blockiert das produktive Experimentieren mit alternativen Lösungsansätzen. Nichts aber ist wichtiger, als die schöpferischen Potentiale zur Überwindung der Probleme freizusetzen. Denn nur wenn gedanklich die bestehenden Grenzen überschritten werden, lassen sich die Kräfte mobilisieren, die für die materielle Überschreitung derselben notwendig sind.“
Dieser auf dem Klappentext formulierte – freilich nicht anspruchslose – Aufgabe, versuchen die Autoren gerecht zu werde. Wie das bei Sammelbänden so üblich ist, gelingt dies mal mehr, mal weniger. Insgesamt jedoch – um das Fazit vorwegzunehmen – ist das Buch eine äußerst anregende Intervention in die Diskussion zum Utopiebegriff und seine Fruchtbarmachung für die (real)politischen Kämpfe der systemkritischen bis antikapitalistischen Linken.
Konzeptionell fußt die Publikation auf der Hannoveraner-Veranstaltung „Die Möglichkeit einer anderen Welt. Kongress zu konkreter Utopie und realpolitischer Intervention“ aus dem Oktober 2005, die von dem Online-Magazin „Sozialistische Positionen“ und der Loccumer Initiative kritischer WissenschaftlerInnen“ organisiert wurde. Die dort gehaltenen Referate werden hier dokumentiert.
Beim Utopiebegriff herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass Ernst Bloch mit seinem Konzept der materialistisch realgeschichtlich bestimmten „konkreten Utopie“ das elaborierteste Konzept formuliert habe. Diesem zufolge stehe Utopie nicht – wie es nicht nur der alltagssprachliche Umgang oftmals nahelegt – für ein bloßes Wunschbild oder einen ahistorischen Luftschlossbau (Behrens, 88), sondern sei vielmehr ein gesellschaftskritischer Begriff, mit dem das uneingelöste „objektiv-real Mögliche“ einer Gesellschaft eben dieser als Gegenentwurf entgegengehalten werde. Eine Definition des Blochschen Utopiebegriffs zitiert Peter-Erwin Jansen in seinem Betrag „,Die Begierde nach Gesellschaft’. Herbert Marcuses Blick für die Unzulänglichkeiten staatlicher Utopien“. Marcuse als Gesellschaftstheoretiker mit politischem Praxisbezug war in fast all seinen Schriften auf der Suche nach einer Alternative zum Utopiebegriff, um einerseits zur Vermeidung des Utopismus-Vorwurfs den Terminus aus seiner ahistorischen Befangenheit zu lösen (38) und andererseits um eine Abgrenzung gegenüber der Verwendung bei Marx vorzunehmen. Denn dort sei der Utopiebegriff zu sehr dem „Begriff des Kontinuums des Fortschritts“ verhaftet (37). Nachdem Marcuse 1968 zum ersten Mal mit Bloch selbst über Utopie diskutiert und in seinem Begriff der „konkreten Utopie“ seine eigenen alternativen Überlegungen zu den „realen, aber blockierten Möglichkeiten“ am präzisesten begrifflich erfasst gesehen hatte, schrieb er 1977 zustimmend in „Ökologie und Gesellschaftskritik“: „Blochs Idee der konkreten Utopie bezieht sich auf eine Gesellschaft, in der die Menschen es nicht mehr länger nötig haben, unter Bedingungen der Entfremdung ihr Leben als Mittel zur Erringung des Lebensunterhalts zu leben.
Konkrete Utopie: ‚Utopie’, weil eine solche Gesellschaft bisher noch nirgendwo existiert; ‚konkret’, weil eine solche Gesellschaft eine reale historische Möglichkeit darstellt.“ (40)
Gregor Kritidis betont insofern in seinem einleitenden Beitrag „Konkrete Utopie und realpolitische Intervention“ die Doppelstellung des Begriffs: auf der einen Seite gegen „die noch nicht vollends reflektierten sozialen Gegenentwürfe“ gerichtet und auf der anderen „gegen diejenigen ‚Freunde der Realität’, welche die der widersprüchlichen historischen Dynamik innewohnenden Möglichkeiten negieren und wissenschaftliches Denken zur Apologie irrationaler Herrschaftsverhältnisse herabwürdigen“ (11). Er plädiert dafür, mit dem Begriff der „konkreten Utopie“ ein zentrales methodisches Element sozialistischen Denkens stark zu machen: dass gesellschaftliche Gegenentwürfe realitätstüchtig zu sein haben und insofern aus der Kritik des Bestehenden zu entwickeln sind.
Joachim Perels verdeutlicht die Gegenwartsbedeutung der 1918 erstmals publizierten Blochschen Schrift „Der Geist der Utopie“. Diese bestehe darin, zunächst einmal auf ein zentrales Problem in der Tradition Marxschen Denkens aufmerksam gemacht zu haben. Abstrakt formuliert geht es um das Verhältnis von geschichtlicher Notwendigkeit und zielbestimmenden Eingriffen in den Geschichtsprozess, das bei Marx selbst durchaus offen sei. Konkreter stelle sich die Frage, wie die „werbende Kraft der Befreiungsdimension einer besseren Gesellschaft für die alltäglich Arbeit fruchtbar zu machen“ ist? (20). Die konkrete Beantwortung dieser Frage bleibt bei Perels etwas vage; auf der abstrakteren Ebene arbeitet er hingegen in Auseinandersetzung mit den so genannten Anti-Utopisten – etwa in Gestalt des jüngst verstorbenen Joachim Fests –, die jegliches utopisches Denken als totalitär denunzieren, heraus, welchen Irrweg dieses ideologische Denken beschreitet: nämlich „die Vorstellung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen, die die Möglichkeit humaner geschichtlicher Veränderung ausschließt.“ (32)
Den avanciertesten Versuch der Vermittlung von (konkreter) Utopie und Realpolitik unternimmt Michael Jäger in seinem schlicht „Utopie und Realpolitik“ betitelten Essay. Jäger führt aus, dass es zur Verwirklichung von klassenloser Gesellschaft und ökonomischer Selbstbestimmung eines realpolitischen Vorlaufs bedürfe, der freilich paradox anmute, da das konkret utopische Programm an die schlechte ökonomische Wirklichkeit nicht anschlussfähig zu sein scheine. Dennoch solle es ihr entgegengesetzt werden – und das „auch noch bei äußerst ungünstigen Kräfteverhältnissen“ (117). Im Folgenden erörtert Jäger folgende drei realpolitischen Regeln: Erstens: Sich auf das einlassen, wovon die Rede ist. Zweitens: Sich auf das stützen, was vorhanden ist und drittens: Das Neue aus dem Alten entwickeln. Die Verknüpfung dieser Fragen ist seines Erachtens stark genug, einen Bund von Menschen zusammezukitten, sie ist zweitens „dem Kapitalismus absolut entgegengesetzt“, und „sie ist gleichwohl drittens eine Art, ans Vorhandene anzuschließen. Utopie und Realpolitik schließen einander nicht aus.“ (126)
Marcus Hawel nimmt sich unter dem Titel „Negative und bestimmte Kritik“. Zur praktischen Seite der kritischen Theorie“ einer ähnlichen Fragestellung wie Jäger an – dessen Thesen er im Übrigen diskutiert. Die Erörterung des Spannungsverhältnisses von radikaler und konstruktiver Kritik, des Problems des Subjekts von politischen Veränderungen führt ihn schließlich zu der Schlussfolgerung, „dass die Praxis erst eine ist, wenn sie sich an der Theorie orientiert, das heißt richtige Praxis ist, – und dass die Theorie praktisch ist, wenn sie sich vermittelt. Als kritische Theorie ist sie das – auch und vor allem, wenn sie ihre Kritik, ihren Kampf gegen das Unreife in der Utopie, gegen das abstrakte Utopisieren genauso richtet wie gegen die utopiefeindliche Realpolitik.“ (116)
Moshe Zuckermann schließt sich in seinem Vortrag „Aufschrei der Utopie als radikale Kritik von zweierlei Barbarei“ im Wesentlichen diesen Ausführungen zum Utopiebegriff an, gleichwohl geht es ihm weniger um die Frage der Utopie als solcher als um eine „rigorose, ganz radikale Kritik des Bestehenden“, wenngleich diese ohne „eine Folie des utopischen Horizonts eines radikal Anderen schlechterdings nicht zu haben ist“ (127). In Anschluss an Marx besteht für ihn der utopische Zustand darin, die Proportionen zwischen entfremdeter Arbeit und freier Zeit in Form eines Umschlagens von Quantität in Qualität zu verändern, sodass der Mensch möglichst viel freie Zeit zur Selbstentfaltung zur Verfügung hat und entfremdete Arbeit zur gesellschaftlichen Reproduktion auf ein Minimum reduziert wird (vgl. 129). Die in dem Titel angesprochenen zweierlei Formen der Barbarei betreffen nach Zuckermann erstens den makrosozialen Weltzustand. Demzufolge sei es barbarisch, dass Menschen gemessen an den historisch real gewordenen Möglichkeiten noch immer an Hunger sterben. Die zweite Form der Barbarei zielt auf die Tatsache, dass in den Gesellschaften der Ersten Welt die bereits existierende Möglichkeit der Überwindung bzw. der weitgehenden Reduzierung der entfremdeten Arbeitszeit ungenutzt bleibt. Warum, so fragt Zuckermann mit Marcuse, ist diese Barbarei vorherrschend, wenn es schon historisch möglich wäre, freie Zeit zur emanzipierten Entfaltung des Menschen strukturell zu schaffen? (136) Die Antwort sieht er auch darin begründet, dass die Gesellschaft die Menschen so sehr zugerichtet hat, „dass sie nicht einmal mehr imaginieren können, was sie mit ihrer freien, arbeitslosen Zeit anfangen sollen.“ (137)
Christoph Görg weist auf eine Schwachstelle der Diskussion hin, die in der mangelnden Berücksichtigung gesellschaftlicher Naturverhältnisse liegt. Er zeigt in Auseinandersetzung mit den Schriften von Marx, Benjamin, Horkheimer und Adorno in seinem Text „Kein Kommunismus jenseits der Natur“, dass für die bestimmte Negation des Bestehenden die kritische Reflexion eben jener absolut zentral ist.
Neben diesen knapp zusammengefassten Beiträgen, die sich im engeren Sinne mit dem Utopiebegriff auseinandersetzen, sind des Weiteren die von Sven Oliveira Cavalcanti, Stefan Meretz und Oliver Heins zu erwähnen. Sie widmen sich Aspekten der konkreteren technischen Möglichkeiten zur Verwirklichung einer befreiten Gesellschaft. Erstere beschäftigt sich mit der Ambivalenz der heutigen technischen Potenziale, die beiden letzteren diskutieren das Thema freie Software als Keimform einer neuen Form gesellschaftlicher Produktion. Heins zufolge vollzieht sich in der kollektiven Produktion freier Software, „wenn auch noch weitgehend unbewusst, bereits im Schoße der alten Gesellschaft ein Teil der universellen Aufhebung der überkommenen, privatkapitalistisch überformten Arbeitsteilung vermittels einer tatsächlich gesellschaftlichen Aneignung des Produktionsprozesses.“ (298)
Vor dem Hintergrund der in mancher Hinsicht im Wesentlichen auf realpolitische Aspekte fokussierten Debatten in der real existierenden politischen Linken, liefert der Band mit seinen Vermittlungsbemühungen von Realpolitik und (konkreter) Utopie wichtige Anregungen. Denn wie Ernst Bloch schrieb: „man braucht das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewusstseins, um gerade die nächste Nähe zu durchdringen.“
(aus: Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 71, September 2007)