Zum Tode Raul Hilbergs
Raul Hilberg, der am 4.8. verstorben ist, ging es in seinem wissenschaftlichen Werk nicht um das Verurteilen des deutschen Faschismus. Das verstand sich für ihn, der 1938 mit seinen jüdischen Eltern vor den Nazis aus Wien über Kuba in die USA geflohen war, von selbst. Er wollte, wie Arno Widmann in einem der interessanteren Nachrufe schreibt (FR vom 7.8.2007), begreifen, die Untaten verstehen, wissen, wie es funktionierte. Die Erforschung der Judenvernichtung sollte sein Lebensinhalt werden.
Doch sah Hilberg sich durch sein „Verstehen-Wollen“ Vorwürfen der mangelnden Empathie mit den Opfern ausgesetzt. Noch 1993 wurde ihm im „Spiegel“ vorgeworfen, die Toten „mit Tonnen von Akten und Mörder“ zugedeckt zu haben. Denn die Frage nach einer rationalen wissenschaftlichen Erklärung der Judenvernichtung auf der einen Seite und der (freilich notwendigen und selbstverständlichen) moralischen Ächtung auf der anderen durchzieht als ein immer wiederkehrendes zentrales Motiv die Diskussionen über die Vernichtung der europäischen Juden. Hilberg jedoch beschloss ganz bewusst, „über die deutschen Täter zu schreiben“, wie er in seinen Memoiren „Unerbetene Erinnerung“ ausführt: „Die Judenvernichtung war ein deutsches Werk, ausgedacht in deutschen Amtsstuben, in einer deutschen Kultur. Für mich stand von Anfang an fest, dass man diese Geschichte nicht in allen ihren Ausmaßen begreifen konnte, ohne die Maßnahmen der Täter nachzuvollziehen.“
Der Politik- und Geschichtswissenschaftler Raul Hiberg war ein Schüler des aus dem Umkreis der Frankfurter Kritischen Theorie stammenden und ebenfalls in die USA emigrierten Franz Neumanns. Dieser hatte bereits während der Nazi-Herrschaft seine auch heute noch als profunden Gesamtüberblick geschätzte Studie „Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus“ verfasst, die Hilberg als Student „mehrmals von vorne bis hinten“ las. Aus dieser Faschismusanalyse übernahm er die These, dass sich die deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus „in vier festgefügte, zentralistisch organisierte Blöcke mit Führerprinzip und je eigener Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit untergliederte.“
Diese Blöcke – Staatsapparat, Armee, Industrie und Partei -, so Hilberg, „konnten unabhängig voneinander arbeiten“, sodass die Gesellschaft im Prinzip ein organisiertes Chaos war, „jedoch mit der Freiheit, in völlig unerforschte Handlungsräume vorzustoßen.“ Mit diesen Grundannahmen im Gepäck machte sich Hilberg an die Arbeit, den „Behemoth“ der Judenvernichtung zu schreiben. Geplant als Dissertation, die Neumann mit den Worten kommentierte „Das ist Ihr Untergang“, wuchs sein Vorhaben weit darüber hinaus.
Und sein Lehrer schien zunächst recht zu behalten: Zwar konnte sich Hilberg mit der Arbeit für den akademischen Dienst qualifizieren – er übernahm eine Professur in der Provinzstadt Burlington – doch blieb er akademischer Außenseiter, zumal Neumann 1954 bei einem Autounfall verstarb. Hinzu kam, dass er für seine Arbeit zunächst keinen Verlag finden konnte, da die USA im Kalten Krieg die Westdeutschen als Verbündete gegen die Sowjetunion betrachteten und das Interesse der amerikanischen Juden sich auf Israel und die Araber richtete. Erst 1962, acht Jahre nach Einreichung der Dissertation, erschien sie in einem unbedeutenden Kleinverlag. Bis etwa eine deutsche Übersetzung publiziert wurde und Hilberg breite Anerkennung erfuhr, strichen noch einmal zwei bzw. bis zu drei Jahrzehnte ins Land.
Die Publikationsgeschichte seines Hauptwerkes „Die Vernichtung der europäischen Juden“ ist somit eine Auseinandersetzung um die Auseinandersetzung mit dem Holocaust – ein Begriff übrigens, den Hilberg distanziert gegenüberstand -, in dem sich „stets gesellschaftliche Tabus oder Bedürfnisse“ wiederspiegeln. Das lässt sich insbesondere anhand der deutschen Übersetzung und der Tatsache, dass eine hebräische nicht erschienen ist, erkennen. Ein entscheidender Grund für die Ignoranz gegenüber Hilbergs opus magnum hängt in Deutschland mit der Tatsache zusammen, dass er die „gesamte organisierte Gesellschaft Deutschlands“ für die Verbrechen verantwortlich macht. Insbesondere in der Betonung der Rolle der Bürokratie für die Vernichtungspolitik der Nazis werden Kontinuitäten über den deutschen Faschismus hinaus sichtbar. Erklärungen, die für die herrschenden Kreise der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, deren Historiker mehrheitlich einer hitlerzentristischen intentionalistischen und/oder totalitarismustheoretischen Schule zuzurechnen waren (bzw. noch sind) nicht gerade angenehm waren, da sie dem Bedürfnis nach Verdrängung durch Schuldprojektion auf die Person Hitlers und wenige Nazigrößen entgegenstanden.
Dass die erste deutsche Übersetzung 1982 in dem linken Verlag Olle & Wolter erschien, dürfte eben auch in dieser kontinuitätstheoretischen Bürokratiekritik begründet liegen, wenngleich der Verleger Ulf Wolter schlicht angab, alle seine Bücher kreisten um das Thema Ungerechtigkeit, da dürfe das von Hilberg doch nicht fehlen.
Der Grund für die bis dato nicht erfolgte Publikation in Israel ist auf Hilbergs Fokussierung auf die deutschen Täterstrukturen und der damit einhergehenden Geringschätzung der Rolle des jüdischen Widerstands zurückzuführen. Für den Staat Israel ist indes gerade der Bezug auf den jüdischen Widerstand und die Empathie mit den Opfern zentrale Legitimationsquelle. Verbittert kommentierte Hilberg die Ablehnung seines Manuskriptes durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem aus dem Jahr 1958: „Hier war das erste negative Urteil über mein Manuskript, und diese Kugeln kamen aus Jerusalem. Zehn Jahre lang hatte ich gehofft, dass Juden und gerade Juden meinen Text lesen würden. […] Und dann so etwas.“ In diesem Kontext ist auch Hilbergs spätere Parteinahme für den (nicht zu Unrecht) umstrittenen Norman Finkelstein zu sehen, der die „Instrumentalisierung“ des Holocaust seitens US-amerikanischer jüdischer Organisationen für Entschädigungszahlen scharf kritisierte.
Heutzutage gilt „Die Vernichtung der europäischen Juden“ als Standardwerk und erfuhr, nachdem es der Fischer Verlag 1990 in einer dreibändigen Taschenbuchausgabe herausgab – als Voraussetzung hatte Hilberg im Übrigen gemacht, dass auch Neumanns „Behemoth“ neupubliziert wurde – hohe Auflagen. Hilberg selbst gibt als Grund für das späte aufkeimende Interesse an, dass die Täter nunmehr tot oder in Altersheimen saßen, sodass die nachfolgenden Generationen unbefangener Fragen nach der Nazizeit stellen konnten.
Die zunehmende Akzeptanz des funktionalistischen oder strukturalistischen Ansatzes von Historikern wie Hans Mommsen, Martin Broszat u.a. dürfte ferner ihren Teil beigetragen haben. Hilbergs folgende Zusammenfassung seiner Deutung des Holocaust weist Parallelen zu genannten Historikern auf: „Aber was 1941 begann, war kein im Voraus geplanter, von einem Amt zentral organisierter Vernichtungskrieg. Es gab keine Pläne und kein Budget für diese Vernichtungsmaßnahmen. Sie erfolgt Schritt für Schritt, einer nach dem anderen. Dies geschah daher nicht etwa durch die Ausführung eines Planes, sondern durch ein unglaubliches Zusammentreffen der Absichten, ein übereinstimmendes Gedankenlesen einer weit ausgreifenden Bürokratie.“
Hilbergs Streben, Gründe für die Ingangsetzung der Shoah zu finden, wenngleich er betonte, dass bislang nur etwa 20% über die Geschichte des Judenmords bekannt seien, rückt ihn in die Nähe von jüngeren Forschern, die, wie etwa Götz Aly („Vordenker der Vernichtung“) oder Christian Gerlach, ebenfalls einem rationalistischen Paradigma verpflichtet sind – sprich bevölkerungsökonomische und wirtschaftliche Faktoren als eine wesentliche Ursache betrachten und damit die alte marxismustheoretische Frage nach dem Verhältnis von Faschismus und Kapitalismus berühren. Hilbergs Thesen könnten somit der gerade beginnenden Diskussion um Adam Toozes Buch „Ökonomie der Zerstörung“ Impulse geben, welches „das seit langem heftig umstrittene Problem des Verhältnisses von kapitalistischer Wirtschaft zum NS-Regime auf denkbar breiter empirischer Basis und in ein eindringlichen Analyse souverän“ klärt (Hans-Ulrich Wehler).
Nachdem sich Hilberg in „Die Vernichtung der europäischen Juden“ in erster Linie den strukturellen Voraussetzungen der nazistischen Vernichtungspolitik gewidmet hatte, rückte er in seinem Buch „Täter, Opfer, Zuschauer“ (1992) nun die Personen und Gruppen in den Vordergrund, die aktiv oder passiv am Vernichtungsprozess beteiligt waren. Diese Erweiterung der Perspektive wirft insbesondere ein Licht auf die sich heute wieder ausbreitende „Bystander-Mentalität“ in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft, ohne die eine sich radikalisierende Ausgrenzungs- und „Ausmerzungspolitik“ nicht möglich gewesen wäre.
Bis auf weiteres wird Hilbergs Beschreibung der Vernichtungsprozesse maßgeblich sein. Nach seinem Tod am 4. August 2007 sind nunmehr jüngere Forscher gefragt, in Hilbergs Sinne das Wissen über die Judenvernichtung der Nazis zu vervollständigen. Gerade seine bürokratietheoretische Kontinuitätsthese bietet für marxistische Forschungen wichtige Anregungen. Seine Analyse, dass die Vernichtung der Juden „ein nationaler Akt“ gewesen sei, in den die Deutschen „als Volk verstrick waren“, wie ein Rezensent die Grundthese der Hilbergschen Analyse zusammenfasste, ist vor dem Hintergrund der aktuellen Tendenzen in Deutschland, in der „Erinnerung“ die deutschen Opfer von Bombenkrieg und Flucht in das Zentrum rücken, umso wichtiger geworden.
(aus: www.sozialismus.de)