Jürgen Elsässer, Der deutsche Sonderweg. Historische Last und politische Herausforderung, Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München 2003, 264 S. 19,90 Euro.
Jürgen Elsässer ist zweifellos einer der interessantesten und bekanntesten Publizisten der verbliebenen radikalen Restlinken. Mit den Organen, in denen er hauptsächlich publiziert, wechselt seine politische Positionierung. Als sich 1997 in der jungen Welt eine andere Strömung durchsetzte, stieg der „marxistische Part-Time Dandy“ (Spex) aus und gründete die Jungle World mit. Diese bezeichnet er heute als „Wochen-TAZ“. Bis Anfang dieses Jahres war er Redakteur bei Konkret. Jetzt schreibt er wieder in der jungen Welt. Dahinter verbirgt sich die Wandlung von einem der Vordenker der so genannten antideutschen Strömung zu einem ihrer schärfsten Kritiker. Meinte er vor Jahren, eine positive Bezugnahme auf die deutsche Linke sei aufgrund des in ihr verankerten Antisemitismus nicht mehr möglich, ist er in Folge des 11. Septembers und dessen Konsequenzen in kritischer Solidarität auf die Seite der Friedens- und Antiglobalisierungsbewegung gewechselt. Die Antideutschen bezichtigt er nun des Bellizismus.
In seinen letzten Publikationen beschäftigte er sich schwerpunktmäßig mit der Rolle des wiedervereinigten Deutschlands auf dem Balkan. Sein Buch „Kriegsverbrechen, Die tödlichen Lügen der Bundesregierung“ erschien in vier Auflagen und kann zu Recht als Standardwerk zum Jugoslawien-Krieg 1999 bezeichnet werden.
Jetzt hat er ein neues Buch vorgelegt: Der deutsche Sonderweg, Historische Last und politische Herausforderung.
Konkreter Anlass war die Proklamierung des Deutschen Weges durch Bundeskanzler Schröder im Bundestagswahlkampf 2002. Gemeint war damit die rhetorische Ablehnung des zu diesem Zeitpunkt sich schon klar abzeichnenden Kriegs der USA gegen den Irak. Im bürgerlichen Feuilleton und auf Seiten der Atlantiker wurde der SPD-geführten Regierung vorgeworfen, den unheilvollen deutschen Sonderweg, der mit dem Jahr 1945 sein Ende gefunden habe, erneut zu betreten.
Elsässer stellt nach einer Skizze der liberalen und marxistischen Sonderwegstheorien fest, dass das Spezifische des deutschen historischen Sonderweges nicht primär die Frontstellung gegen den Westen, insbesondere gegen die USA, gewesen sei, sondern die Frontstellung gegen die europäischen Nachbarn; vor allem aber die Nachbarn im Osten. Der Vernichtungskrieg wurde gegen die Sowjetunion geführt, der Holocaust wurde hauptsächlich in Polen durchgeführt. (9; 50)
Nach der Phase der Teilung Deutschlands und der Abkehr vom deutschen Sonderweg habe mit der Wiedervereinigung, die gegen den Widerstand der europäischen Siegermächte erfolgte, eine Renaissance des Sonderwegs begonnen. Mit einer entscheidenden Modifizierung: Der Sonderweg erfolgte zumindest bis Mitte der 1990er Jahre mit Duldung der USA. „Die Renaissance des Militarismus, der Aufbau einer interventionsfähigen Bundeswehrmacht, die zweite Zerschlagung Jugoslawiens, die Bedrohung Russlands durch die Ostverschiebung der NATO, schließlich der Krieg gegen Serbien – all dies war das Werk der Partners in Leadership“ (9). Bestimmte in der Phase bis Mitte der 90er Jahre Deutschland das Handeln auf dem Balkan, übernahmen die USA mit dem Bosnieneinsatz 1995 und den folgenden Einsätzen bzw. Kriegen die Initiative (211).
Die strukturellen Ursachen für diese Entwicklungen werden polit-ökonomisch erklärt: Auf Grund der „symbiotischen Verflechtung“ der beiden Volkswirtschaften seien die beiden Nationalstaaten – auf verschiedene Weise – stärker an Kriegen interessiert als andere Volkswirtschaften (10). Für die USA ergebe sich der verstärkte Drang zu Kriegen primär aus dem dramatischen Niedergang ihrer Wirtschaft im Jahre 1998. Elsässer macht dies an der inneren Wirtschaftskrise, der Krise im Außenhandel und dem Vormarsch ausländischer Konzerne fest (192). In einem Vorabdruck in der jungen Welt vom 25. April dieses Jahres, findet sich ein Zitat, das im Buch zwar so nicht mehr auftaucht, dessen These allerdings nicht revidiert wurde: „Der Aggressionsdrang der US-Monopole ist das Resultat ihrer höchst defizitären Situation, sie suchen – wie die deutsche Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg – nach Deckung ihrer fiktiven Kapitalmassen durch Herrschaft über Rohstoffe und Devisen.“ Dementsprechend wird der Irak-Krieg nicht primär als Krieg für Öl interpretiert, sondern als Krieg zur Verteidigung der Zahlungsfähigkeit der USA, worin sich die Kontrolle des Öls als eine Komponente einordne. In letzter Konsequenz werde aber kein Rohstoffkrieg geführt, sondern eine Weltwährungsschlacht – Dollar gegen Euro (200).
Die deutsche Wirtschaft tendiere aufgrund ihres enormen Exportüberschusses zu Krieg. Denn so Elsässer, „was passiert, wenn sich ein niederkonkurrierender Staat nicht wie die DDR freiwillig vom Sieger schlucken lässt? Was passiert, wenn er seine Autonomie verteidigt, beispielsweise über Schutzzölle, Kapitaleinfuhrkontrollen, Nationalisierung oder Stützung der eigenen Industrie gegen ausländische Übernahmen? Dann wird der Schurke mit militärischen Mitteln zur Räson gebracht und seine Ökonomie durch Krieg geknackt.“ (230) So sei es mit Jugoslawien und dem Irak geschehen und so könne es auch anderen Staaten geschehen.
Die bereits angesprochene symbiotische Verflechtung bestehe vor allem in der Rolle der USA als „Importstaubsauger“ für die rekordverdächtigen Exportüberschüsse der deutschen Waren (175). Die deutsche Wirtschaft sei durch eine künstliche Einengung des Binnenmarktes und durch eine aggressive Weltmarktorientierung gekennzeichnet. (179) Das mache die deutsche Wirtschaft zwangsläufig abhängig von der US-Wirtschaft. Sie sei die Lokomotive der Weltkonjunktur. Neben diesem Aufeinanderangewiesensein der beiden Volkswirtschaften gebe es jedoch auch divergierende Interessen. So z.B. in der Golf-Region: „Für die US-Industrie ist sie wegen des Imports billigen Öls unersetzlich, während sie für die deutsche Industrie als Exportmarkt teurer Maschinen interessant ist. Je billiger das Golf-Öl, um so besser für die sehr energieintensive Wirtschaft der USA, aber gleichzeitig um so schlechter für Deutschland, denn je geringer die Öleinnahmen der Golf-Staaten sind, um so geringer ist ihr Budget zum Kauf von High Tech made in Germany.“ (172)
Im letzten Kapitel des Buches diskutiert Elsässer drei Optionen bezüglich der weiteren Entwicklung der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Die erste, zugleich als realistischste angesehene, bestehe in einer Fortsetzung des Bündnisses mit den USA, da die gemeinsamen Interessen nach einer schnellen Beendigung des Irak-Krieges überwiegen. Rhetorische Ablehnung des amerikanischen Unilateralismus widerspreche dem nicht, denn so werde der Ruf Deutschlands in den arabischen Ländern gesteigert, was wiederum der Exportwirtschaft zugute käme. (232)
Eine zweite, nach dem Irak-Krieg wahrscheinlichere Option sieht Elsässer in einer Achse Paris-Berlin-Moskau. Entgegen der „Schönfärberei“ von Habermas und Derrida, die in einem Essay jüngst ein Kerneuropakonzept vertraten, würde es sich dabei allerdings nicht um ein friedliches Europa handeln. (233)
Die dritte, wünschenswerteste aber unwahrscheinlichste Option nennt Elsässer die Finnlandisierung oder besser Hellenisierung des Kontinents. Vorausgesetzt wäre ein Bruch mit den USA. Es handelt sich um eine Variation der zweiten Option, also der Liaison Paris-Berlin-Moskau, jedoch mit einer wesentlichen Veränderung: Eurasien fungiere hier nicht als Militärmacht, sondern als Friedenachse. „Keine Ankurbelung der Rüstung, sondern allgemeine Demilitarisierung. Keine weltweiten Interventionen, sondern Rückzug der Truppen. Die Friedensdividende wird für die zivile Wirtschaft sowie Bildung und Kultur verwendet. Das vom Krieg zerstörte Jugoslawien und die vom Neoliberalismus ins Elend gestoßenen Länder des Ostens werden wiederaufgebaut.“ (239) Dies sei wohl nur gegen die herrschende Wirtschaftsordnung möglich, so Elsässer, der jedoch vermeidet, diese als kapitalistisch zu benennen und stattdessen sein Buch mit der Attac-Losung „Eine andere Welt ist möglich“ beendet.
Elsässers Buch hat den Vorteil, die machtpolitischen Interessen Deutschlands polit-ökonomisch zu analysieren und die Friedensliebe der Bundesregierung gegenüber den Irak-Krieg, an die auch in Teile der Friedensbewegung geglaubt haben, als zeitweiliges Kalkül der tendenziell auf Expansion und Krieg ausgerichteten deutschen Wirtschaft zur Diskussion zu stellen. Die Herleitung des „Deutschen Weges“ im Wahlkampf und aus dem historischen deutschen Sonderweg wirkt dagegen etwas konstruiert und erweckt den Eindruck, als Füllmaterial zu dienen. Zudem sind die Ausführungen über die deutsche Rolle in den Balkan-Kriegen der 1990er Jahre aus anderen Publikationen des Autors bekannt. Der Wert des Buchs liegt demnach in seiner zweiten Hälfte.
(aus: Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 55, September 2003)