Michael Klundt/Samuel Salzborn/Marc Schwietring/Gerd Wiegel, Erinnern, Verdrängen, Vergessen – Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert, NBKK, Schriften zur politischen Bildung, Kultur und Kommunikation, Giessen 2003, 180 Seiten, 10 EUR
Während Otto Normalbürger öffentliches Erinnern an den Nationalsozialismus eher als störend empfindet, bekennen sich deutsche PolitikerInnen problemlos zu ihrer „historischen Verantwortung“. Die Annahme einer abstrakten Täterschaft sei geradezu die „Bedingung einer selbstbewussten, nationalen Identität“ – so die These eines kritischen Sammelbandes über „geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert“. Denn erst das Eingeständnis eigener Schuld mache es möglich, auch als Opfer anerkannt zu werden. Diese „Normalisierung“ bedeutet gleichzeitig das Ende aller historisch begründeten (Selbst-)Beschränkungen deutscher Politik.
Seit Mitte Juli bahnt sich im deutschen Feuilleton eine neue geschichtspolitische Debatte an, die wohl auch in Zukunft noch einigen Konfliktstoff bergen wird. Es geht um die Errichtung eines geplanten „Zentrums gegen Vertreibung“ in Berlin oder Breslau. Die Lösung Berlin mit der nationalen Ausrichtung, wie auch das Projekt insgesamt, wird durch den Bund der Vertriebenen mit ihrer Präsidentin Erika Steinbach vorangetrieben. Zur Seite stehen ihr Otto Schily und der SPD-Multifunktionär Peter Glotz.
Kollektiver deutscher Opfermythos
Der SPD-Abgeordnete Markus Meckel sowie 65 Persönlichkeiten aus sechs Ländern bevorzugen eine europäische Orientierung mit Sitz in Breslau. In einem Appell warnen sie vor einer nationalen Ausrichtung des Zentrums und äußerten die Befürchtung, dies werde Misstrauen im Ausland hervorrufen. In Polen kritisierte Marek Edelmann, der letzte noch lebende Anführer des Warschauer Ghetto-Aufstands, dass durch ein rein deutsches Denkmal für die Vertriebenen „der Henker in die Rolle des Opfers schlüpfe.“
Spätestens seit Martin Walsers Paulskirchenrede ist ein neuer deutscher Opferdiskurs zu verzeichnen, der zum Ziel hat, die Nation von der Vergangenheit zu befreien und sie in die internationale Opfergemeinschaft einzureihen. Dies geschieht durch die zunehmende öffentliche Thematisierung der Leiden der vertriebenen Deutschen, aber auch der Deutschen, die Opfer der alliierten Bombenangriffen wurden. Die Neue Zürcher Zeitung bezeichnete dies als „mentalen Status quo der Berliner Republik im neuen Jahrhundert“.
Sekundärer Antisemitismus wird salonfähig
Insofern erscheint gerade zur rechten Zeit ein kritischer Sammelband über „geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert“. In fünf Beiträgen werden der deutsche Opferdiskurs, die Antisemitismusdebatte, die neue „Wehrmachtsausstellung“, die Universalisierung der NS-Erinnerung sowie der Wandel des Gedenkens an historischen Stätten der NS-Verbrechen reflektiert. Gemeinsam ist allen Aufsätzen, dass sie die geschichtspolitisch aufgeladenen Debatten als Feld der politischen Auseinandersetzung auffassen, mit denen politische Projekte der Zukunft legitimiert werden sollen.
Im ersten Beitrag, überschrieben „Opfer, Tabu, Kollektivschuld. Über Motive deutscher Obsession“, untersucht Samuel Salzborn die jüngsten öffentlichen Diskussionen über die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten. Mit den Serien in ARD und ZDF, der bereits erwähnten Diskussion über das „Zentrum gegen Vertreibung“ und nicht zuletzt mit dem Rummel um Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“ sei offenkundig geworden, so Salzborn, dass die deutsche Öffentlichkeit über die deutschen Opfer reden will, ohne den geschichtlichen Kontext Nationalsozialismus zu erwähnen. Die Volkstums- und Vernichtungspolitik des deutschen Faschismus als unabdingbare Voraussetzung der Vertreibungen gerate aus dem Blickfeld. Salzborn spricht von einer bewussten Entkontextualisierung der Vergangenheit. Eine Folge davon sei, dass nun alles vergleichbar werde, weil die Fakten bis zur Sinnleere entstellt seien. Damit einher gehe eine Moralisierung der politischen Debatten. Bestes Beispiel ist die Parallelisierung der zu Beginn der NATO-Bombardements einsetzenden Flüchtlingsströme aus dem Kosovo 1999 mit den Vertreibungen im Zweiten Weltkrieg. Dank der Bilder flüchtender Kosovo-AlbanerInnen gelang es den deutschen Vertriebenenverbänden, ihr Anliegen in die politische neue Mitte und die Medien zu bringen.
Wie der geschichtspolitische Opferdiskurs für aktuelle außenpolitische Projekte genutzt werde, zeigen die verbalen Angriffe auf die Benes-Dekrete vor dem Hintergrund des Beitritts Tschechiens zur EU.
Salzborn legt dar, dass ein Tabu, über die deutschen Opfer zu reden, nur scheinbar existierte: Eine Auseinandersetzung mit den individuellen Schicksalen und Traumatisierungen der Menschen, unabhängig von einer Kategorisierung des Opfer-Täter Verhältnisses, habe es immer gegeben. Das Thema war keineswegs tabu, sondern in den 1950ern Jahren „allgegenwärtig“. Unter Bezugnahme auf Freud führt Salzborn aus: „Man behauptet ein Tabu, das man in Wirklichkeit selbst errichten möchte – es soll ein Verbot geben, über Flucht und Vertreibung der Deutschen zu sprechen, allerdings erst, nachdem diese im kollektiven deutschen Opfermythos fest verankert sind.“ In den filmischen Beiträgen zu den Vertreibungen der Deutschen nach 1945 werde nicht deutlich, dass es ohne den Nationalsozialismus auch keine Vertreibung gegeben hätte. Zudem werde das individuelle Schicksal nicht als Illustration der historischen Interpretation, sondern als Beleg für die „generalisierende Wahrheit“ angeführt.
Der zweite Beitrag – „Antizivilisatorische Affektmobilisierung. Zur Normalisierung des sekundären Antisemitismus“ -, verfasst von Samuel Salzborn und Marc Schwietring, greift die Täter-Opfer-Umkehrung auf, nunmehr jedoch auf den sekundären Antisemitismus bezogen. Dieser sei ein Antisemitismus, der weitgehend auf traditionelle antijüdische Ressentiments verzichte, aber die Juden für die Folgen der Shoah – ein gestörtes nationales Selbstbild – verantwortlich mache. Der Wunsch, von der Vergangenheit entlastet zu werden, werde durch die Präsenz der Juden verhindert. Indem die Juden als zu einflussreich bezeichnet werden, kommen dann auch wieder traditionelle antisemitische Motive ins Spiel; allerdings resultiere daraus nicht wie im Nationalsozialismus eine Vernichtungsabsicht.
Die zentrale These des Aufsatzes ist, dass durch die Debatten um Walser und Möllemann der mühsam erarbeitete zivilisatorische Konsens, antisemitische Äußerungen in der Öffentlichkeit zurückzuweisen, aufgeweicht wurde. „Seither ist der sekundäre Antisemitismus in Deutschland salonfähig geworden, und es steht zu befürchten, dass sich die Überzeugungen der latenten Antisemiten in Zukunft manifestieren und sich damit das gesellschaftliche (nicht zwangsläufig auch das politische) Klima in Deutschland erheblich brutalisieren wird.“
Die Verfasser belegen ihre These durch einen gründlichen Überblick über die empirischen Untersuchungen zu Antisemitismus und latentem, sekundärem Antisemitismus. Das Ergebnis: Ein manifester und offen nazistischer Antisemitismus hat im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik kontinuierlich abgenommen, während der sekundäre konstant blieb und sich seit den letzten Jahren sogar wachsender Zustimmung erfreut. Nur eine der zahlreichen Untersuchungen soll dies veranschaulichen. Nach einer repräsentativen Erhebung aus dem April 2002 vertraten 28 Prozent der Deutschen die Auffassung, der Einfluss der Juden sei „zu groß“; die Zustimmung zu dieser These sei in den letzten vier Jahren vor allem in Westdeutschland gewachsen: von 14 Prozent im Jahre 1998 auf 31 Prozent im Jahre 2002. Auch die Zahl der Schändungen jüdischer Friedhöfe und Einrichtungen sowie der antisemitischen Straftaten insgesamt sei angestiegen.
„Normalisierung“ für „nationale Identität“
Gerd Wiegel leitet seinen Beitrag „Globalisierte Erinnerung? Die Universalisierung der NS-Erinnerung und ihre geschichtspolitische Funktion“ mit dem Paradox ein, dass das konkrete Wissen über die Zeit zwischen1933 und 1945 – entgegen der scheinbar ständigen Präsenz des Themas – immer weiter abnehme. Eine Untersuchung habe ergeben, dass zwar die NS-Zeit negativ bewertet wird; gleichzeitig findet man öffentliches Erinnern und Gedenken eher als störend. Mit Universalisierung der NS-Erinnerung meint Wiegel die Setzung des Nationalsozialismus als absoluten Negativmaßstab jenseits des nationalen Rahmens. Der Nationalsozialismus sei zu einer „moralischen Folie“ geworden, vor deren dunklen Hintergrund Politik und gesellschaftliche Verhältnisse weltweit beurteilt werden können. Wiegel verdeutlicht das beispielhaft sowohl an der Legitimierung des NATO-Krieges gegen Jugoslawien als auch an der Diskussion des Buches „Erinnern im globalen Zeitalter. Der Holocaust“ von Daniel Levy und Natan Sznaider.
Auf den Universalisierungsdiskurs im Land der Täter bezogen meint Wiegel, dass eine „Normalisierung“ nunmehr nicht mit der Verdrängung der Vergangenheit, sondern mit dem Bekenntnis zur NS-Vergangenheit erfolge. Die Bundesrepublik verstehe sich heute als Teil des westlichen Holocaustdiskurses, nicht mehr als dessen Objekt. Voraussetzung dafür sei die Annahme einer abstrakten Täterschaft durch die staatlichen RepräsentantInnen der BRD. „Die Annahme der Täterschaft wird somit zur Bedingung einer selbstbewussten, nationalen Identität, die wiederum als Voraussetzung für die Teilnahme an der universalisierten Erinnerungskultur verstanden wird.“ Wiegel ist jedoch der Ansicht, dass insbesondere, wenn die Annahme der Täterschaft zusammen mit dem neuen Opferdiskurs auftrete, Skepsis geboten sei. Denn: „Erst das Eingeständnis eigener Schuld macht es möglich, auch als Opfer anerkannt zu werden.“
Interessant ist Wiegels These, wonach die skizzierten Opfer- und Täterdiskurse sich in einen generellen Trend einfügten, „der Vorstellungen von gesellschaftlichen Strukturen, von überindividuellen Prozessen und gar von Klasseninteressen zutiefst misstrauisch gegenübersteht.“ Für die Interpretation des deutschen Faschismus bedeute dies, dass die Interessen der NS-Diktatur aus dem Blick geraten. An deren Stelle trete ein rein individuell-moralischer Diskurs über politische Konzepte. Es komme darauf an, die materialistischen, strukturalistischen Erklärungen mit der historischen Opfer- und Täterforschung zu verbinden, wie dies Christopher Browning bereits ansatzweise gemacht habe.
Die Attraktivität des Opferdiskurses bzw. der Identifikation mit den Juden bei einem Teil der antifaschistischen Linken, gemeint sind die Antideutschen, erklärt Wiegel – hier Thesen Reinhard Kühnls folgend – mit der Niederlage der Linken 1989/90. Diese sei mit dafür verantwortlich, dass eine Formulierung positiver Utopien oder eine Identifikation mit kämpfenden AntifaschistInnen kaum noch möglich ist. Die Antideutschen hätten zwar die Thematisierung der Hauptopfer des Nationalsozialismus innerhalb der Linken vorangetrieben, für die Analyse realer politischer Konflikte – bestes Beispiel ist der Nahost-Konflikt – sei ihre Holocaust-Erinnerung mit der dichotomischen Kategorisierung in „Gut“ und „Böse“ aber keineswegs dienlich.
Sämtliche Beiträge des Bandes „Erinnern, Verdrängen, Vergessen“ sind solide recherchiert, klar in ihrer Argumentation und gut lesbar. Mit den gewonnenen Erkenntnissen über die Motive und Legitimationsfunktionen von geschichtspolitischen Debatten ist man bestens für die Auseinandersetzung um das Zentrum gegen Vertreibung gewappnet.
(aus: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 475 / 15.8.2003)