Hochfrequenzhandel ist das neueste Extrem des Finanzmarktkapitalismus. Unvorstellbar schnell handeln komplexe Computerprogramme automatisch Wertpapiere
Es ist eine merkwürdige Welt: Immer wenn der Börsenhändler Brad Katsuyama eine Order ausgibt, ändert sich der Kurs der Aktie. Er ist nicht in der Lage, zu dem Kurs zu kaufen, den er auf seinem Monitor sieht. Es ist auch eine streng geheime Welt: Ein Händler, der zuvor im Pentagon beschäftigt war und nun für eine Handelsfirma arbeitet, sagt: »Um ins Pentagon und in meine Abteilung zu gelangen, musste man zweimal die Magnetkarte durchziehen, erst um ins Gebäude zu kommen, dann um meine Abteilung zu betreten. Und jetzt rate mal, wie oft ich die Magnetkarte zücken musste, um an meinen Schreibtisch bei Citadel zu kommen? Fünfmal.« Und es ist eine gefährliche Welt: Selbst ihre Schöpfer, die Programmierer, haben Angst vor der Macht der Maschinen und Programme: »Als größtes Risiko sehen wir die Abhängigkeit von der Technik«, zitiert die FAZ Paul Hilgers, den Chef von Optiver, Europas Branchenprimus.
Die Rede ist vom Hochfrequenzhandel (HFH) – jenes vollautomatischen Wertpapierhandels mit superschnellen Computern und komplizierten Algorithmen, der in den letzten zehn Jahren rasante Verbreitung gefunden hat. Während dem Fernsehzuschauer allabendlich immer noch die Börsennachrichten vor der Kulisse der Frankfurter Börse gezeigt werden, ist ein Großteil des realen Geschehens längst nicht mehr darstellbar. Es hat sich verflüchtigt in Bits und Bytes und findet statt in so genannten Dark Pools – oft von großen Banken gegründeten, außerbörslichen Handelsplätzen.
Einer Schätzung zufolge wurden 2013 bis zu 60 Prozent aller DAX-Aktien in Dark Pools gehandelt. In den Vereinigten Staaten, dem Vorreiter des Phänomens, ist der Anteil ähnlich hoch. 2009 soll er sogar bei 78 Prozent gelegen haben, genaue Schätzungen des Umfangs sind schwierig. Auch die Rohstoffterminmärkte sind bereits vom Hochfrequenzhandel erfasst. So soll ein Drittel des gesamten Volumens des außerbörslichen US-Energiehandels 2011 auf den Hochfrequenzhandel zurückgehen.
Dass das Thema in den letzten Monaten etwas mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist, liegt an Michael Lewis. Der US-amerikanische Bestsellerautor, einst selbst beschäftigt an der Wall Street, hat mit seinem im Frühjahr veröffentlichten Buch »Flash Boys. Revolte an der Wall Street« die Wellen in der Finanzbranche mächtig hochschlagen lassen.
Worauf stützen sich Lewis’ Vorwürfe im Einzelnen? Im Grunde sei der HFH eine legalisierte Form des Insiderhandels und eine systematische Manipulation der Märkte. Um zu verstehen, wie diese konkret aussieht, brauchte der eingangs genannte Börsenhändler Brad Katsuyama, einer der Hauptfiguren in Lewis’ Buch, drei bis vier Jahre und die Hilfe von Dutzenden Experten. Dann kam er dahinter, dass sein am Anfang erwähntes Problem, Aktien- oder Anleihekäufe zu dem Preis abzuwickeln, der ihm auf seinem Monitor angezeigt wird, mit dem HFH zusammenhängt. Wenn er eine Order erteilt, wird diese von Computeralgorithmen abgefangen, bevor sie bei den einzelnen Handelsplätzen angelangt. Automatisch kaufen die Computerprogramme darauf hin entsprechende Wertpapiere und verkaufen sie umgehend wieder zu einem etwas höheren Preis. Das ganze geschieht vollautomatisch und im Bruchteil einer Sekunde. Die Blitzhändler erzielen dadurch Gewinne, die auf Kosten eines normalen Händlers wie Brad bzw. seines Auftraggebers gehen. Bei einer einzelnen Aktion ist der Profit zwar nur gering, durch die Geschwindigkeit und Masse addieren sich die Gewinne des HFH aber zu Millionen.
Der Wall-Street-Jargon hat dafür einen hübschen und einen technischen Begriff parat: skalpieren und Front Running. Dies ist jedoch nur eine Form, wie der Sekundenhandel die Märkte manipuliert – und die Manipulation wird als wichtiger angesehen als die abgeschöpften Profite, zumal sie jüngst auch etwas zurückgingen. Andere Manipulationsverfahren hören auf so illustre Namen wie Spoofing (Vortäuschen), Layering oder Quote Stuffing (Angebots-Flutung). Es geht darum, dem Markt falsche Signale zu geben und daraus Mikrosekunden später Gewinne zu erzielen. Beispiel Quote Stuffing: Hier werden Tausende unwichtig erscheinende Angebote erzeugt, um andere Programme abzulenken. So verlieren diese Zeit und reagieren zu spät auf relevante Angebote.
»Zeit ist Geld« – das Sprichwort bekommt somit im Hochfrequenzhandel eine völlig neue Dimension. Mikro- und Nanosekunden sind Zeiteinheiten, die für den menschlichen Verstand nicht fassbar sind. Eine Sekunde ist gleich 1000 Milli- und gleich eine Million Mikrosekunden. Eine Nanosekunde ist ein Milliardstel einer Sekunde. Diese Einheiten sind das, was im Blitzhandel zählt oder in Kürze zählen wird. Damit die Computer und Algorithmen diese Geschwindigkeiten überhaupt verarbeiten können, kommt es auf etwas an, was man eigentlich in der digital vernetzten Welt für irrelevant gehalten hatte: den physischen Ort des Computers. Von enormer Bedeutung ist dessen Entfernung zu den Handelsplätzen sowie die Länge der Kabel. Je dichter dran, desto mehr Millisekunden eher kommt man an die gewünschten Informationen. Das hat absurde Konsequenzen. Michael Lewis beschreibt, wie von Chicago nach New York eine neue Glasfaserleitung gelegt wird. Und zwar nicht wie bereits bestehende entlang von Eisenbahnlinien und von Stadt zu Stadt, sondern schnurstracks und unabhängig von geografischen Begebenheiten wie Bergen, Flüssen oder Farmland. Die auf diese Weise eingesparten etwas mehr als hundert Meilen Kabellänge bedeuten, dass die Daten drei Millisekunden schneller zwischen Chicago und New York hin und her sausen. Berichten zufolge ist das Verlegen von neuen Glasfaserkabeln bereits wieder veraltet. Noch schneller geht die Datenübertragung mit Lasertechnik. Erste Handelsplätze sind bereits mit dieser aus dem Militär stammenden Technologie verbunden. Schon ist die Rede von einem technologischen Wettrüsten. Zudem ist es üblich, dass Computerplätze in unmittelbarer Nähe der neuen Handelsplätze gegen hohe Gebühren vermietet werden.
Aus diesem Grund sprechen einige bereits von einem technologiegesteuerten Feudalismus, Lewis selbst von einem Klassensystem. Bis vor kurzem indes sind sich manche Akteure am Finanzmarkt nicht einmal bewusst gewesen, dass sie auf der niedrigsten Stufe dieses Klassensystems stehen. Lewis schreibt: »Der US-Aktienmarkt war nun ein Klassensystem aus Habenden und Habenichtsen, nur dass die Habenden nicht Geld hatten, sondern Geschwindigkeit (die zum Geld führte). Sie kauften sich Nanosekunden; die Habenichtse wussten nicht einmal, dass Nanosekunden einen Wert hatten. Die Habenden genossen den perfekten Marktüberblick, während die Habenichtse nie den wirklichen Markt sahen.«
Spätestens seit der Aufregung um Michael Lewis’ Buch werden sie Klassenbewusstsein entwickelt haben. Vielleicht dämmerte es ihnen aber auch schon am 6. Mai 2010. An diesem Tag stürzte der Dow Jones innerhalb von wenigen Minuten um fast 1000 Punkte ab. Selbst die Kurseinbrüche nach dem 11. September 2001 oder der Lehman-Pleite waren nicht so drastisch gewesen. Zwar erholte sich der Dow Jones im Mai 2010 nach einigen Minuten wieder. Doch es war zunächst ein Rätsel, was die Ursache für diese extreme Kursschwankung war. Für den Börsenguru und ehemaligen Hedgefonds-Manager Jim Cramer hatten die Maschinen die Macht übernommen. Später wurde ein einzelner fehlerhafter Verkaufsauftrag als Urheber ausfindig gemacht. In einer Kettenreaktion spielten die Computerprogramme verrückt. Kein Einzelfall, immer wieder lassen sich sogenannte Mini-Flash-Crashes beobachten. Das Phänomen war auch Anlass, über die Regulierung des neuen Handels nachzudenken, in den USA wie in Europa. Doch wie es mit Regulierungen auch in anderen Bereichen des Finanzmarktes ist, sie greifen zu kurz. In Deutschland zum Beispiel ist seit Mai 2013 vorgeschrieben, dass sich die Blitzhändler bei der Finanzaufsicht Bafin registrieren sollen. Doch da die Händler ihren Sitz zumeist im Ausland haben, können sie laut EU-Regeln weiter in Deutschland am HFH teilnehmen. Auf europäischer Ebene wird noch über Regulierungen diskutiert, die 2016 auf nationaler Ebene greifen sollen.
Nicht nur kritische Nichtregierungsorganisationen wie Weed warnen daher vor den Auswirkungen des Hochfrequenzhandels auf die sogenannte Realwirtschaft. Markus Henn sagt: »Durch Hochfrequenzhändler erhöht sich das Risiko für drastische Kurssprünge. Das schadet nicht nur Anlegern und Anlegerinnen, sondern macht die Börse auch unbrauchbar für die Unternehmen.« Die Börse, die ja schon immer viele irrationale Entwicklungen hervorgebracht habe, werde dadurch endgültig zum bloßen Casino. Yvonne Hofstetter, die selbst als Unternehmerin im Big-Data-Geschäft ihr Geld verdient, spricht von nicht abschätzbaren Risiken für die globale Wirtschaft durch den algorithmisch getriebenen Handel. Und selbst der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler fand im Juni deutliche Worte: »Der Hochfrequenzhandel hat nichts mit konkreten Ideen, Plänen und Wünschen konkreter Menschen zu tun, sondern verkündet die Herrschaft des Geldes mit Maschinen.«
Letzterer Aspekt ist mit das Beunruhigendste: Selbst die Schöpfer der Algo-Trade-Programme fürchten die Abhängigkeit von der Technik und auch die meisten Menschen in der Finanzwirtschaft verstehen die komplexen Systeme nicht, in denen sie agieren. Diese »unglaubliche Unwissenheit« bezeichnet Michael Lewis als eine Metapher für unsere moderne Existenz.
Natürlich gibt es auch Akteure, die Vorteile des Hochfrequenzhandels anführen. Demnach solle dieser Liquidität bereitstellen. Doch beweisen konnte das noch niemand. Manche sprechen von einer Scheinliquidität, andere argumentieren, dass HF-Händler wie andere Marktteilnehmer auch ein Herdenverhalten an den Tag legen, das bei entsprechenden Entwicklungen im Gegenteil zu einem Kapitalabfluss, zur Austrocknung von Liquidität, führen könne.
Der Hochfrequenzhandel ist somit die logische Konsequenz eines Finanzmarktkapitalismus, der sich die Errungenschaften der modernsten Computertechnik zunutze macht. Profiteure sind, wie Lewis klar sagt, die Reichen. Zu präzisieren wäre: eine kleine Schicht der Superreichen, weil langfristig denkende Anleger und Firmen in der Realwirtschaft dem HFH kritisch gegenüberstehen. Insgesamt birgt der Sekundenhandel als unregulierter Teil der Dark Pools und allgemein des Schattenbankensystems, in dem laut IWF-Studie 25 Prozent aller Finanzanlagen liegen, ungeheure Risiken. Doch wäre es verfehlt, das Problem nur als eines der Technik oder als das ungenügender Regulierung zu begreifen. Es fügt sich ein in eine politökonomische Grundstruktur, die auf Umverteilung und Privatisierung gründet und dem längerfristigen Problem der Überakkumulation von Kapital Vorschub leistet. Nicht einmal nach der Finanzkrise von 2008 hat sich an dieser wesentlich etwas geändert, wie der verstorbene marxistische Finanzökonom Jörg Huffschmid in einem seiner letzten Texte 2009 hellsichtig feststellte.
aus: neues deutschland, 13.12.2014