Die Popmusik droht durch Big Data, Algorithmen und die Beliebtheit von Apps wie Shazam immer einheitlicher zu werden
Die Musikindustrie war das erste Opfer der Digitalisierung. Illegale Tauschbörsen sorgten für enorme Einnahmeeinbrüche der großen Plattenfirmen. Von Big Data und Algorithmen könnte die Musikindustrie indes profitieren – auf Kosten der Vielfältigkeit der Musik, befürchtet Derek Thompson.
Er hat im US-Magazin »Atlantic« unlängst den viel diskutierten Artikel »The Shazam Effect« veröffentlicht, der die Auswirkungen von Big Data und Algorithmen auf die Popmusik beschreibt. Titelgebend ist die Applikation Shazam. Mit dieser können Musikstücke, die zum Beispiel in einem Café laufen, mit dem Smartphone oder dem Tabletcomputer identifiziert werden. Nach wenigen Sekunden erscheinen Name des Interpreten, Song- und Albumtitel sowie – wie praktisch – ein Verlinkungen auf Streaming-Dienste, wo man den Song abspielen kann, oder auf Seiten, wo er gegen Gebühr heruntergeladen werden kann. Shazam ist sogar in der Lage, Musik aus einem Geräuschumfeld herauszufiltern und zu erkennen. Etwa wenn ein Song nur Hintergrundkulisse eines Films ist.
Die tägliche Zahl der Anfragen ist immens hoch. 20 Millionen Mal soll Shazam täglich benutzt werden, um ein Musikstück zu identifizieren. Das sind eine Menge Daten, die die Firma natürlich nicht sogleich wieder löscht. Mithilfe dieser Daten und Softwareprogramme kann die Firma genau erkennen, wo welcher Song am meisten gespielt wird. »Manchmal können wir erkennen, wann ein Song seinen Durchbruch haben wird, Monate bevor die meisten überhaupt von ihm gehört haben«, zitiert Thompson einen ehemaligen Chef von Shazam. Dieses Wissen enthält freilich ungeahnte Möglichkeiten für die Plattenfirmen. Ganz gezielt kann nun die Musik produziert werden, die gemäß Big Data beispielsweise in Europa ein Hit zu werden verspricht. Tatsächlich hat Shazam im Februar letzten Jahres angekündigt, in Kooperation mit der Warner Music Group Musik herauszubringen. Ein Imprint unter dem Dach des Major-Labels soll in erster Linie Künstler unter Vertrag nehmen, die durch die App entdeckt wurden.
Shazam ist dabei vermutlich nur das wichtigste Instrument einer allgemeineren Entwicklung. Dass mathematische Algorithmen ersetzen, was sogenannte Artists and Repertoire-Manager in der Vergangenheit taten – neue Künstler entdecken – ist ein Phänomen, das bereits seit ein paar Jahren existiert. In seinem Buch »Automate this. How Algorithms Came to Rule Our World« (2012) berichtet Christopher Steiner von Mike McCready, der die Musikanalysefirma Polyphonic HMI gründete und 2008 MusicXRay. Beide Firmen funktionieren im Kern so: Auf ihren Homepages kann man einen Song hochladen, der dann von einem Computerprogramm in Hinblick auf seine Hittauglichkeit analysiert wird. McCready prägte dafür den Begriff Hit Song Science (Hitsongwissenschaft). Dass das funktioniert, zeigen die Erfolge von Musikern wie Norah Jones, Anastacia und Maroon 5. Sie sollen Polyphonic HMI in Anspruch genommen haben, um ihre Stücke einem Hittest zu unterziehen.
Inzwischen nutzen Labels die Software und die Dienste von Musikanalysefirmen, um neue Künstler zu finden. Früher mussten sie sich durch Berge von Demotapes oder CDs hören oder zu Konzerten in kleinen Clubs gehen. Heute präsentiert ihnen das Smartphone oder das Tablet die besten Bewertungen der diversen Musikanalysefirmen. Diese preisen ihre Dienste mit einem Freiheitsversprechen an.
Insbesondere richtet sich dieses an die zahllosen Musiker und Bands, die zwar bereits Musik aufgenommen und im Internet veröffentlicht haben, aber noch nicht unter Vertrag stehen. Auf der Website von McCreadys Firma MusicXRay heißt es »Get deals. Get fans. Get better.« In der Tat hat die Firma seit 2010 mehr als 5000 Künstlern geholfen, Plattenverträge an Land zu ziehen. Ende 2011 benutzten 1500 Labels und andere in der Musik-Akquise Beschäftigte MusicXray. Darunter fast alle großen Plattenfirmen wie Columbia, Warner, Geffen und EMI, schreibt Steiner.
Nun mag es sein, dass Big Data und Algorithmen Musikern helfen, Verträge zu ergattern. Doch damit ist noch nichts darüber gesagt, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Vielfältigkeit und Qualität der aktuellen Musikproduktion hat. Algorithmen basieren im Wesentlichen auf der Analyse von bereits bekannten Songs und nehmen anhand dieser Bewertungen vor. Daher ist der Verdacht nicht unbegründet, dass es zu einer Homogenisierung der Popmusik kommt. Steiner vermutet, dass das wegweisende Album »Nevermind« von Nirvana durch das Raster der Computerprogramme gefallen wäre. Und Thompson berichtet von Sorgen von Leuten in der Musikindustrie, dass Big Data und Algorithmen zu einer »entmutigenden Gleichheit« in der Popmusik führen werde.
Im Grunde aber läuft die Musikakquise und Produktion mit Programmen wie Shazam, MusicXRay und anderen nur darauf hinaus, was in der Vergangenheit auch ohne das umfangreiche Datenmaterial der Fall war: Es wird immer mehr von dem produziert, was nach kommerziellen Gesichtspunkten bereits erfolgreich war. Und in der Tat hat sich einer Studie des spanischen Nationalen Forschungsrats zufolge die Vielfalt von Notenkombinationen verringert. Melodien und der Klang der Instrumente hätten sich mehr als zuvor angeglichen. Eine halbe Million Aufnahmen aus den Jahren von 1955 bis 2010 haben die Spanier analysiert. Dazu gehörten auch Punk-, Metal- und Electronicstücke.
Dereck Thompson gießt in seinem Essay auch Wasser in den Wein der sogenannten »The Long Tail«-These. Der zufolge können Anbieter im Internet mit einem großen Angebot an Nischenmusik Gewinn machen. Vielmehr würden heute dieselben Hits immer länger gehört. »Weil die populärsten Songs heute für Monate in den Charts bleiben, ist der relative Wert eines Hits explodiert«, schreibt Thompson. Das eine Prozent der Bands und Solokünstler beziehe heute somit 77 Prozent aller Einkünfte aus der aufgenommenen Musik. Zwar mag also in der digitalen Ära der Eintritt der kleinen Do-it-yourself-Musiker das Angebot vergrößert haben, doch die Konzentration an der Spitze nimmt weiter zu.
Indes: Innovative und aufregende Musik wird auch weiterhin aufgenommen werden. Denn es gibt immer Musiker, die ihr Produkt als Kunst und nicht als kulturindustrielle Ware betrachten, d.h. während des Musikmachens Warencharakter und Verkäuflichkeit nicht mitdenken. Nur wird man diese Musik kaum in den Charts oder im Radio hören und auch weniger in den meisten Musikmagazinen besprochen finden.
(aus: neues deutschland, 13.01.2015)