Seit wenigen Jahren wächst das Unbehagen an der ritualisierten NS-Erinnerung: Warum?
Eigentlich sollte man als Linker ja froh sein. Endlich erinnert die politische Elite Deutschlands nach jahrzehntelangem Schweigen in der Nachkriegszeit nunmehr ausgiebig an Auschwitz, Holocaust und Weltkriegsschuld. Und mahnt, die Verbrechen des von ihr Nationalsozialismus genannten deutschen Faschismus nicht zu vergessen.
So geschehen erst kürzlich anlässlich der 70. Jahrestage der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz und der Bombardierung Dresdens. Man könnte vor allem auch erfreut über das NS-Erinnerungsgebot sein, weil dieses in großen Teilen der Bevölkerung nicht auf Akzeptanz stößt. Ende Januar veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie, wonach fast 60 Prozent der Deutschen unter der Last der Vergangenheit einen »Schlussstrich« ziehen möchten.
Doch zu fragen wäre, ob es nicht auch an der Art und Weise des offiziellen Erinnerns liegt, warum dieses nicht mit entsprechenden Einstellungen in der Breite der Bevölkerung einhergeht. Ist es denkbar, dass die Erinnerung an den Holocaust, die ohne Zweifel die Form eines Rituals angenommen hat, eine abschreckende Wirkung hat? Wird möglicherweise der moralisierende Impetus der Politiker, der in Sonntagsreden Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Konsequenz aus den Naziverbrechen beschwört als Widerspruch zum Alltagshandeln derselben Repräsentanten empfunden? Stichwort Flüchtlingspolitik, Abschottung der EU-Grenzen etc.
Das auch in mehreren Buchpublikationen der letzten Jahre thematisierte Unbehagen an der gegenwärtigen Erinnerungskultur speist sich aus mehreren Quellen. Sie kommt mit dem Unterton der stolzgeschwellten Brust daher. Das ostentative Erinnern, so scheint es, dient den Repräsentanten als Ausweis der Läuterung. Endlich geht Deutschland in hervorragender Weise mit seiner Vergangenheit um; in anderen Ländern wird die deutsche NS-Aufarbeitung sogar als Vorbild angesehen. Vor sieben Jahren lobte Avi Primor, ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland, mit Blick auf das Holocaustmahnmal: »Wo hat man eigentlich jemals in der Welt eine Nation gesehen, die Mahnmale zur Verewigung der eigenen Schande errichtet hat?« Mit der öffentlichen Reflexion der Schuld kann man besser Außenpolitik betreiben. Zunehmend agiert Deutschland wie ein gewöhnlicher Staat – Kriegseinsätze einer rot-grünen Regierung eingeschlossen, pikanterweise 1999 mit dem Slogan »Nie wieder Auschwitz« legitimiert. Auf diese Weise hat die »Inkorporierung der Erinnerung« in das nationale Selbstverständnis keineswegs die von Martin Walser befürchtete »Dauerrepräsentation unserer Schande« zur Folge. Sie wird vielmehr Quelle eines neuen nationalen Selbstbewusstseins. Und sie hat den Charakter eines abschließenden Rituals (Das Problem des ritualisierten Gedenkens immerhin sprach Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede am 27. Januar im Bundestag an.)
Des Weiteren, auch darauf wies Gauck hin, gründet sich das Unbehagen an der Erinnerung darin, dass die Fixierung auf die Vergangenheit blind für Unrecht in der Gegenwart machen könnte. Das klingt zunächst paradox, soll doch erinnert werden, um Verbrechen wie die Schoah in Zukunft zu verhindern. Gauck zitiert Thomas Buergenthal, einen Überlebenden des Todesmarsches von Auschwitz nach Sachsenhausen: »Was ist es wert, dieses ›Nie wieder‹, das zentrale Versprechen nach Auschwitz?« »Gab es nicht«, so die Buergenthal-Wiedergabe von Gauck, »damals Kambodscha, Ruanda, Darfur?« Und Gauck stellt auch die Frage nach den Kriegen und Verbrechen in Syrien, Irak und an anderen Schreckensorten, wenngleich diese Verbrechen nicht die Dimension des NS-Mordens erreichen würden. Es sei doch schrecklich entmutigend, erklärte Buergenthal, wenn die Welt »Nie wieder« erkläre, aber »die Augen vor dem nächsten Genozid« verschließe.
Polemisch hat Henryk M. Broder dieses Argument auf den Punkt gebracht: »Vergesst Auschwitz!« hieß sein Buch von 2012, in dem er den »deutschen Erinnerungswahn« kritisierte. Die Erinnerungsrituale seien oft nicht mehr als eine leere Geste, eine Ablenkung von der Gegenwart. Differenzierter, aber durchaus vergleichbar argumentieren die Wissenschaftler Harald Welzer und Dana Giesecke in ihrem Plädoyer für eine Renovierung der Erinnerungskultur: Die »abgestandene« und »muffige« Erinnerung sei auf vergangenen Phänomene fixiert und lenke von den sich gegenwärtig abspielenden Ausgrenzungsprozessen ab, die schon morgen neue Verbrechen ermöglichen könnten.
Warum aber bleiben die Reden von Gauck, Merkel und anderen – obwohl zumindest Gauck die richtige Fragen stellt – so unbefriedigend? Es ist nicht nur Gaucks extremismustheoretischer Ansatz wie in seiner Rede Mitte Februar in Dresden, in der er von der Instrumentalisierung des Gedenkens an die Luftangriffe sprach: »Die Verfälschung der Geschichte begann schon unter nationalsozialistischer Herrschaft, setzte sich fort in Zeiten der DDR und wird selbst heute noch von einigen Unverbesserlichen weitergeführt.« Und die heutigen Unverbesserlichen fänden sich mal rechts, mal links außen. Der Bundespräsident entlastet damit die bürgerliche Mitte und die Dresden-Erinnerung der BRD. Unter den Tisch fällt, dass das bürgerliche Gedenken und das der Nazis einen gemeinsamen Kern hat(te), nämlich die Erinnerung an die deutschen Opfer. Übergangen wird zudem, dass die Kritik von Links dazu beitrug, dass die bürgerliche Mitte ihr Gedenken anders ausrichtete. Es sollte nicht erneut zu so unschönen Szenen kommen wie vor fünf Jahren, als bei der offiziellen Kranzniederlegung der Dresdener Elite auch 60 Nazis zugegen waren.
Das Hauptproblem des offiziellen Erinnerns ist indes, dass das Bekenntnis zur Täterschaft und die Mahnung, die Verbrechen nicht zu vergessen, auf einer moralisch-abstrakten Ebene erfolgt, die zu metaphysischen Metaphern neigt. So sprach Gauck unlängst von den »dunklen Nächten der Diktatur« – so als ob Diktaturen, damit scheint er auch die DDR zu meinen, wie Naturgewalten über die Menschheit hereinbrechen. Der Nazifaschismus wird somit seiner historischen Gewordenheit entkleidet. Das läuft, so argumentiert der italienische Historiker Enzo Traverso, auf eine »negative Legitimation des liberalen Westens« hinaus. Die Erinnerung an die Judenvernichtung als das absolut Böse diene dazu, uns von dem gegenwärtigen System als das absolut Gute zu überzeugen. Übersehen werde dabei, dass der Westen aus mehr als Rechtsstaat und parlamentarisch-liberaler Demokratie besteht. Der liberale Westen des 19. Jahrhunderts war zum Beispiel auch Urheber von Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus, modernem Antisemitismus, technischer Moderne und Eugenik. Elemente, die verdichtet im Nazifaschismus zu finden waren – und auch heute noch existieren. Davon indes schweigen Gauck und Merkel. Sie entlasten die Gegenwart und lullen ein im Guten und Richtigen.
aus: neues deutschland, 25.02.2015