Gespannt sieht ein Teil der Weltöffentlichkeit den Beschlüssen des kommenden EU-Gipfels in Brüssel zur Verschuldungskrise entgegen. Gespannt deshalb, weil die hohe Verschuldung der Staatshaushalte unter anderem infolge der Rettungsprogramme für die kollabierenden Finanzhäuser 2008 erneut in eine Bankenkrise umzuschlagen droht.
Womit wiederum das Damoklesschwert Rezession über der Weltwirtschaft schwebt. So unangenehm die damit verbundenen sozialen Folgen für den potenziellen Kurzzeitarbeiter bei VW oder Opel, den auf einem Schuldenberg sitzenden US-Bürger oder die junge arbeitslose Akademikerin in Madrid auch sein mögen: Hunger leiden müssen sie (noch) nicht.
Von der Geißel des Hungers sind infolge der Preisexplosion der Lebensmittelpreise im Frühjahr 2008 vor allem die Menschen in Asien und Afrika betroffen. Auf knapp eine Milliarde wird ihre Zahl geschätzt. Schätzungen der Weltbank zufolge seien allein im Jahr 2010 die Nahrungspreise um ca. ein Drittel gestiegen, was rund 40 Millionen Menschen zusätzlich in absolute Armut gestürzt habe. Weltbank-Chef Robert Zoellick warnt daher vor dem Hintergrund der Befürchtung, dass sich die Preise für Mais, Weizen und Soja um ein weiteres Drittel erhöhen werden, vor einem »tipping point«: Hungerrevolten könnten vergleichbar mit den Ereignissen von 2008 ganze Staaten erschüttern.
Nicht nur die Krise an den Finanzmärkten, sondern allgemein die Überakkumulation von Kapital und die durch Deregulierung erfolgte Finanzialisierung von immer weiteren Märkten, stehen dabei mit der zunehmenden Zahl der Hungernden in Zusammenhang. Das verdeutlicht zum Beispiel die jüngst von der Nichtregierungsorganisation Foodwatch veröffentlichte Broschüre »Die Hungermacher: Wie Deutsche Bank, Goldman Sachs & Co. auf Kosten der Ärmsten mit Lebensmitteln spekulieren.«
Der Grundmechanismus ist dabei folgender: Unter dem Einfluss von Lobbyisten der Finanzindustrie wurde ab den 2000er Jahren die 1936 von US-Präsident Roosevelt nach der ersten Weltwirtschaftskrise eingeführte Regulierung der Rohstoffmärkte zurückgenommen. Das eröffnete dem nach profitablen Anlagemöglichkeiten suchenden und in Überfülle vorhandenem Kapital neue Verwertungschancen – was auch deshalb notwendig wurde, weil die New-Economy-Blase geplatzt war. So haben bis Ende März 2011 Kapitalanleger mehr als 600 Milliarden US-Dollar in Wertpapieren investiert, mit denen sie vom Anstieg der Rohstoffpreise zu profitieren hoffen. Das ist im Vergleich mit dem Jahr 2000 40 Mal so viel. Der spekulative Anteil des hier angelegten Kapitals schnellte von 30 auf 80% empor.
Zu Recht wird also von einem globalen Rohstoff-Kasino gesprochen. Die Preise für Agrarrohstoffe folgten nunmehr nicht mehr den so genannten Fundamentaldaten, sondern wurden zunehmend spekulativ beeinflusst. Dieser Umstand freilich wird von den FinanzvertreterInnen und ihnen nahestehenden WirtschaftswissenschaftlerInnen bestritten: Kein Wunder, denn sich dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, auf Kosten von Millionen Menschen Profite zu erzielen, stecken nicht einmal die sonst so kaltschnäuzigen Manager von Hedgefonds und anderen Kapitalsammelstellen weg.
Der Studie von Foodwatch gebührt der Verdienst, diesen Zusammenhang von spekulationsbedingtem Anstieg der Lebensmittelpreise und Hunger im Detail (unter Auswertung einer Vielzahl von wissenschaftlichen Studien) darzulegen. Natürlich ist die Spekulation nicht der einzige Faktor, doch wird deren Anteil auf 10 bis 15% geschätzt. Für lange Phasen waren die anwachsenden Kapitalanlagen auf den Rohstoffmärkten sogar um bis zu 25% für die Teuerungen verantwortlich.
Entscheidend ist vielmehr, dass der Rohstoffhandel Teil des globalisierten und deregulierten Kapitalmarktes wurde. »In der Konsequenz«, so der Foodwatch-Report, »wurden daher Zinsänderungen, Wechselkurse, Bankenkrisen und der generelle Herdentrieb der Kapitalverwalter die zentralen Faktoren, nach denen sich die Preisentwicklung richtet, weil sie eben auch das Anlageverhalten der Spekulanten auf den Rohstoffmärkten steuern.«
Infolge der Lehman-Pleite und dem Crash an den Finanzmärkten ist viel über so genannte Over the Counter-Geschäfte von Banken gesprochen worden, das heißt, von Geschäften, die jenseits von Börsen und damit von staatlicher Aufsicht erfolgen. Diese Praxis setzte auf den Rohstoffmärkten ab 2000 im Zuge der erwähnten Deregulierung ein. Die ehemalige Chefin der Commodity Futures Trading Commission (CFTC), Brooksley Born, hatte 1998 hellsichtig davor gewarnt: Diese könne die regulierte, ja sogar die ganze Wirtschaft bedrohen. Gegenwärtig ist Schätzungen zufolge das Volumen des OTC-Geschäfts mit Rohstoffderivaten sieben Mal größer als jenes über die regulierten und transparenten Terminbörsen.
Des Weiteren hat sich die sogenannte Volatilität, also die Spanne der Preisschwankungen, von Rohstoffderivaten, -zertifikaten und -futures deutlich erhöht, was für die unmittelbaren Produzenten von Agrarrohstoffen Planungsunsicherheit bzw. den Verzicht auf den Anbau generell, für die Akteure an den Finanzmärkten indes eine erträgliche Einnahmequelle bedeutet. So nämlich gewinnt die Absicherung von Rohstoffpreisen, das so genannte Hedging (das der ursprüngliche Sinn der Rohstoff-Futures war) an Bedeutung.
Was aber bedeuten diese Erkenntnisse für die sich drohende Zuspitzung der wirtschaftlichen Krisensituation? Falls es zu einem ähnlichen Einbruch der Realwirtschaft wie 2009 kommt, ist durchaus mit einem kurzfristigen Preisrückgang der Agrarpreise und damit der Lebensmittelpreise zu rechnen. Das hat zwei Gründe. Erstens sinkt in einer Rezession die Nachfrage nach dem Schmierstoff der Weltwirtschaft Rohöl – und somit dessen Preis. Der Rohölpreis jedoch ist durch sogenannte Rohstoff-Indexfonds mit Agrarrohstoffen verkoppelt. Zweitens wird Rohöl für den Anbau von Lebensmitteln (Dünger, Treibstoffe) und für ihren Transport benötigt.
Da diese Faktoren ungefähr zu einem Viertel in die Agrarrohstoffpreise einfließen, würden bei einem erneuten Abschwung der Weltwirtschaft auch diese Preise sinken. Das war 2008/2009 so, und im Übrigen weisen Ölpreis- und Lebensmittelindex über die letzen zehn Jahre einen parallelen Verlauf auf.
Allerdings dürfte es erneut nur ein kurzfristiger Preisausschlag nach unten sein. Langfristig, so die Befürchtung der Experten, wird sich das Preisniveau für Rohstoffe weiterhin auf einem hohen bzw. noch höheren Niveau bewegen. Gerade in Krisenzeiten nämlich gelten Rohstoffe als lukrative Anlagemöglichkeit. Insofern spricht viel für die Befürchtung der Welthungerhilfe, dass die Welt mit Vollgas in die nächste Hungerkrise fährt.
(aus: www.sozialismus.de)