Unlängst kamen die Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, Jens Beckert und Wolfgang Streeck, in einem bemerkenswerten Beitrag (FAZ, 20.8.2011) zu folgender Schlussfolgerung: „Nachdem die Zuwächse des Sozialprodukts während der vergangenen dreißig Jahre vornehmlich den oberen Bevölkerungsschichten zugutekamen, stellt sich in der Schuldenkrise die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen.“
Ihrer Vermutung nach ist es nicht wahrscheinlich, dass die Vermögenden dieser Welt die „Schrift an der Wand“ verstehen wollen. Und sie haben Recht: Zwar gibt es mittlerweile Vermögende wie Warren Buffet und Initiativen von Millionären, die eine höhere Besteuerung ihrer Vermögen fordern – doch fällt dies nicht ins Gewicht. Auf der politischen Ebene scheint keinerlei Bereitschaft zu bestehen, der Umverteilung von unten nach oben Einhalt gebieten zu wollen. Im Gegenteil: Staaten wie Griechenland, Spanien, Irland und Italien werden Austeritätsprogramme aufgeherrscht, die eine dramatische Verringerung der Einkommen der breiten Bevölkerungsschichten zur Folge haben – von den Konsequenzen für die angestrebte Haushaltskonsolidierung ganz zu schweigen: Sparprogramme führen zu einem verlangsamten Wirtschaftswachstum, und das bedeutet weniger Steuereinnahmen.
Man könnte also sagen: Der Klassenkampf von oben wird wie gehabt fortgesetzt, dennoch wird die neoliberale Hegemonie von ersten – intellektuellen – Rissen durchzogen. Dafür stehen der britische Kolumnist und Thatcher-Biograf Charles Moore sowie der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, die zu glauben beginnen, dass die Linke vielleicht doch Recht gehabt hat. Im Mainstream des politischen Diskurses indes beobachten wir, dass Redensarten wie „Der Markt benötigt ein klares Signal“ oder „Die Politik muss die Märkte beruhigen“ vorherrschend sind. Diese signalisieren eine Unterordnung unter das Primat der Ökonomie und haben fetischisierendenden Charakter. Vom vorübergehend eingefordertem Primat des Staates über den Markt infolge des Schocks nach dem Zusammenbruch der Lehman Brothers-Bank ist kaum noch etwas zu spüren.
Ideologiekritisch betrachtet haben diese die Märkte zum Abgott machenden Formulierungen einen harten politischen Kern: nämlich die Legitimierung des Regimes der Vermögensbesitzer. Einen ähnlichen Effekt hat auch die Behandlung des Themas Schulden im Allgemeinen und das der Staatsschuldenkrise im Besonderen: Hier wird die schlichte Tatsache, wonach Schulden immer auch Vermögen gegenüberstehen, weitgehend ausgeblendet. Die Existenz von hohen Schulden bedeutet aber immer auch, dass es großen Wohlstand gibt.
Auf diesen Zusammenhang hat gerade nicht etwa ein linkskeynesianischer Ökonom, sondern ein Chefvolkswirt eines international agierenden Versicherungskonzerns hingewiesen. Michael Heise führte bei der Vorstellung des Allianz Global Wealth-Reports 2011 aus, dass bei der aktuellen Diskussion nicht immer nur der Staatsschuldenstand, sondern auch die Habenseite betrachtet werden sollte.
Die Ergebnisse dieses Reports sind höchst interessant: So liegen mit den USA und Japan zwei Länder auf den Plätzen zwei und drei der Rangliste der Länder mit dem höchsten Bruttovermögen je Einwohner, die einen sehr hohen Staatsschuldenstand haben. Zentral ist des Weiteren das Resultat, dass die japanischen und US-amerikanischen Vermögen deutlich höher sind als die Schulden der öffentlichen Hand. Das gilt im Übrigen auch für Länder mit ebenfalls hohen Staatsschulden wie Belgien und Italien. Michael Heises Fazit lautet: „Die Vermögen in Ländern mit sehr hoher Staatsverschuldung sind beträchtlich.“ Diese Staaten seien damit durchaus in der Lage, Mittel für ihre Staatshaushalte aufzutreiben. Das gelte insbesondere auch für Italien und Irland, deren Bruttovermögen pro Kopf sogar über dem von Deutschland liege, welches auf Platz 13 rangiere.
Insgesamt sind die Bruttogeldvermögen – Immobilienbesitz wird im Allianz-Vermögensbericht nicht berücksichtigt – im vergangenen Jahr weltweit um 6,2% gestiegen. Damit haben sie den Rekordwert von vor der Wirtschaftskrise aus dem Jahr 2007 übertroffen.
Das Problem der Allianz-Daten ist zwar wie bei anderen Vermögensstudien auch, dass die Pro-Kopf-Zahlen nichts über die tatsächliche Verteilung des Geldvermögens innerhalb eines Landes aussagen. Angaben über eine ungleiche Verteilungsstruktur gibt der Global Wealth-Report lediglich in Bezug auf die weltweite Verteilung. Demzufolge konzentrieren sich knapp 90% aller Geldvermögen in den so genannten „high wealth countries“, zu denen grob gesagt die lediglich 20% der Weltbevölkerung stellenden entwickelten kapitalistischen Staaten gehören.
Der alte linke Slogan „Geld ist genug da – es muss nur gerecht verteilt werden“ beweist also gerade angesichts der Staatsschuldenkrise seine Richtigkeit (über den Einwand, dass er nur auf die Verteilungs-, aber nicht auf die Produktionsebene abzielt, sehen wir an dieser Stelle hinweg).
Neu ist, dass die Bourgeoisie ihn sich nun zueigen machen muss, falls sie nicht – wie Streeck und Beckert treffend darlegen – ihre Wohlstandswahrung und -mehrung auf Kosten von sozialen und politischen Krisen fortsetzen will. Die Erfahrungen des New Deal infolge der Wirtschaftskrise von 1929ff. zeigen ja, dass es dazu durchaus ein historisches Beispiel gibt. Derzeit sieht es allerdings so aus, dass es erst zu weitaus schwereren sozialen Unruhen, mithin Klassenkampf von unten, wird kommen müssen, bis das Bürgertum zu der Erkenntnis gelangt: Angesichts des langfristigen Überlebensinteresses kann es auch mal angebracht sein, kurzfristig auf die beschleunigte finanzgetriebene Kapitalakkumulation zu verzichten.