Gerhard Henschel legt den sechsten Band seines außergewöhnlichen autobiografischen Romanprojektes vor
Gerhard Henschel ist ein akribischer Schriftsteller, er ist Archivar seines eigenes Lebens – und des Lebens seiner Familie. Doch seine Bücher haben nichts von dem, was man für gewöhnlich mit Akribie und Archiven assoziiert: Langeweile, Pedanterie, Trockenheit. Im Gegenteil: Sein inzwischen auf sechs Bände und über 3000 Seiten angewachsenes Romanprojekt über sein Alter Ego Martin Schlosser ist ein hoch vergnügliches Lektüreerlebnis. Schmunzeln muss man auf fast jeder Seite, laut lachen auf jeder fünften. Das ist auch in dem soeben erschienenen »Künstlerroman« so, in dem der junge Schlosser beschließt, sein Studium hinzuschmeißen und sich einer Karriere als Schriftsteller zu widmen. Der an Walter Kempowski geschulte anekdotische Henschel-Sound besteht aus Erinnerungspuzzles und geht so: »Besuch in Meppen. Mittags Bohneneintopf mit Bauchfleisch und danach ein mehrstündiges Kellergemurkse mit Papa. Krumme Nägel geradekloppen und dergleichen.« Oder so: »Beim Mittagessen stritt Mama ab, Fix-Soßenbinder verwendet zu haben, aber Papa fand im Küchenmülleimer die leere Tüte, und schon hing der Ehesegen wieder schief.«
Sein außergewöhnliches autobiografisches Schlosser-Projekt begann der als Satiriker bekannt gewordene Henschel mit dem Briefroman »Die Liebenden«. Nach dem Tod seiner Eltern war ihm ein Karton mit 120 Aktenordnern voller Briefe in die Hände gefallen (eine Szene, die auch in seinem neuesten Buch Erwähnung findet). Vornehmlich ein Schriftwechsel seiner Eltern – deshalb der Titel »Die Liebenden« -, aber auch seiner Großeltern, Tanten und Onkel. Aus dem Briefnachlass wählte er aus, kürzte und änderte die Namen. Das 2002 erschienene, von der Kritik zu Recht viel gelobte Buch, war der Startschuss für die literarische Beschäftigung mit seiner eigenen Biografie. Mithilfe von zum Beispiel einem Tagebuch seiner Schwester, Fotoalben oder einer Familienzeitschrift, in der der junge Henschel über Neuigkeiten wie Zahnarztbesuche in seiner Familie berichtete, rekonstruiert der 1962 geborene Autor die eigene Lebensgeschichte. Und lässt auf diese Weise das Leben einer typischen westdeutschen Mittelschichtsfamilie der zweiten Nachkriegsgeneration wieder auferstehen.
Nach dem Kindheits-, Jugend-, Liebes-, Abenteuer- und Bildungsroman nun also der Künstlerroman. Martin Schlosser ist inzwischen Mitte 20, studiert in West-Berlin und führt mit Andrea aus Aachen eine offene Liebesbeziehung – mit all den dazugehörigen Problemen. Während Andrea zunächst tatsächlich andere Beziehungen hat, fällt Martin durch sein »seltenes Talent für das Aufstöbern unzugänglicher Frauen« auf. Er verliebt sich in Frauen, kann aber bei keiner landen. Da er Andrea von den Romanzen erzählt, geht die Beziehung zwischenzeitlich in die Brüche.
Als er das permanente Trampen nach Aachen zu Andrea und nach Meppen zu seinen Eltern satt hat, zieht Martin Schlosser in eine Aachener WG samt Katze, die ihre Notdurft nicht immer dort verrichtet, wo es vorgesehen ist, und versucht sein Studium in Köln fortzusetzen. Als das nicht klappt, kehrt Martin nach Berlin zurück, um nur wenig später diese Erleuchtung zu haben: »Plötzlich sah ich alles vor mir: Ich würde mein Studium abbrechen, mir einen Fabrikjob beschaffen und in zwei Monaten so viel verdienen, daß ich ein Jahr lang davon leben konnte. Und in diesem Jahr würde ich das Bildergeschichtenbuch schreiben.«
Zielstrebig setzt Martin diesen Entschluss um. Er zieht nach Oldenburg, wo ein befreundetes Paar wohnt, mietet eine erstaunlich günstige Vier-Zimmer-Wohnung, allerdings ohne Bad, und steht täglich um vier Uhr früh auf, um zu schreiben. Später zieht auch Andrea zu ihm. Doch verkalkuliert hat er sich mit dem Finanziellen. Er muss erneut diverse Aushilfsjobs annehmen. Die Abläufe in einer Oldenburger Spedition Rhenus fasst Henschel in folgender wunderbaren Szene zusammen: »Hatte man die nummerierten Europaletten vom Wagen gezogen, kamen die sogenannten Sucher und suchten nach den passenden Papieren, aus denen hervorging, wohin die Paletten gebracht werden sollten. Blieben Papiere übrig, suchten die Sucher die fehlenden Paletten. Blieben Paletten übrig, suchten die Sucher die fehlenden Papiere. Fehlte alles, suchten die Sucher den Lagermeister, was manchmal so lange dauerte, daß man die Sucher suchen gehen mußte.«
Vom Proletariat bekommt der »konkret« und bei Liebeskummer Adorno lesende Schlosser (woran er aber scheitert, ebenso wie an Sartre und Heidegger) nicht den besten Eindruck: Zumindest die Tetra-Pak-Arbeiter scheinen sich nur für Grillfleisch, Heckspoiler, Kegelabende und beschissene Schlagermusik sowie für billige Ferienhäuser und höhere Rentenbezüge zu interessieren. Schlosser indes nimmt es pragmatisch: »Ein saturiertes, vollgefressenes Pauschaltouristenvolk marschierte nicht nach Stalingrad.«
Seine ersten Schreibversuche indes werden von Freundin Andrea mit »Da fällt einem ja der Kopf ab« kommentiert, und seine Eltern sind von dem Entschluss ihres Filius, Schriftsteller zu werden, ebenso wenig begeistert wie von den ersten Resultaten dieses Bemühens. Mit der Veröffentlichung eines Textes in der Oldenburger Stadtzeitschrift »Diabolo« hat Martin einen ersten Erfolg. Doch der »Künstlerroman«, der eigentlich ein Hungerkünstlerroman ist, endet mit dem Entschluss: »Ab jetzt sollte es aufwärtsgehen. Und zwar steil.« Denn der Protagonist hatte festgestellt, dass ihm so lebensnotwendige Dinge wie Hosen, Schnürsenkel, Reißverschlusszähne und Strümpfe zerfallen – und für Neuanschaffungen kein Geld da ist.
Von sich entwickelnden Handlungen kann man bei den Schlosser-Romanen von Henschel nicht reden, dennoch verschlingt man jeden neuen, als ob sie den spannendsten Plot hätten. Der Künstlerroman fügt dem vorherigen Bild eine neue, düstere Note hinzu. Die Ehe der Eltern Schlosser liegt in Scherben, die Mutter ist krebskrank, der Vater wird immer verbitterter. Gerade das Verhältnis zu ihm macht Martin zu schaffen. In Bioenergetik-Seminaren, in die er zunächst von Freundin Andrea geschleppt wird, versucht er ernsthaft, das gestörte Verhältnis aufzuarbeiten. Das führt zu urkomischen Szenen wie dieser: »Ingo drückte mir einen Teppichklopfer in die Hand, schichtete ein paar Matratzen auf und sagte, ich solle darauf einschlagen und schreien: ›Papa, ich schlag dich tot.‹«
Man muss die Romane über Martin Schlosser nicht unbedingt chronologisch lesen. Mit der Kenntnis des Briefromans »Die Liebenden« entfaltet die Martin-Schlosser-Chronik jedoch einen noch stärkeren Reiz. Er wirkt wie eine Vorausblende und rückt andere Personen der Familie in ein helles bzw. anderes Licht. Kaum den jüngsten Roman verschlungen, freut sich der Rezensent bereits auf den nächsten: Er soll »Arbeiterroman« heißen und erneut bereits in anderthalb Jahren vorliegen. Gerhard Henschel hat mit seinen erschienenen Büchern über sich und seine Familie das interessanteste autobiografische Romanprojekt der jüngeren deutschen Literatur geschaffen.
aus: neues deutschland, 8.9.2015