Philip Mirowski will erklären, wie der Neoliberalismus trotz Krise immer stärker werden konnte
Gehen Sie joggen oder ins Fitnessstudio? Schauen Sie »Deutschland sucht den Superstar«? Aktualisieren Sie lustlos Ihre Facebook-Seite? Fragen Sie sich, welche Versicherung für Sie die beste ist? Und haben Sie beim Anblick eines verwahrlosten Bettlers gemischte Gefühle? Ja? Sie haben aber nie eine Seite von Friedrich von Hayek oder Milton Friedman gelesen? Nein? Dann dürften auch Sie ein lebendes Beispiel für das sein, was der Wirtschaftswissenschaftler Philip Mirowski den alltäglichen Neoliberalismus nennt. Dieser sei so tief im Alltagsbewusstsein verankert, dass die dahinterstehende Ideologie gar nicht mehr als solche empfunden wird. »Durch tausend und eine kleine Begebenheiten verinnerlicht die durchschnittliche Person im Lauf ihres Lebens bestimmte Bilder, Kausalitätsannahmen und Prinzipien, die sich allmählich zu einer Weltanschauung verdichten«, schreibt er.
Einer von mehreren Gründen dafür, warum der Neoliberalismus nach der verheerenden Krise von 2008 heute insgesamt stärker dastehe als zuvor ist dem an der University of Notre Dame in Indiana forschenden Professor für Ökonomie zufolge seine Alltäglichkeit. Der Neoliberalismus habe nämlich während des Finanzdesasters als Bollwerk gedient, bis seine Politiker und Ökonomen – Mirowski spricht von einem neoliberalen Denkkollektiv – sich von dem ersten Schock erholt hatten und zur Verteidigung übergingen. Diese nahm dabei mehrere Gestalten an. Zunächst haben die Neoliberalen verstärkte Anstrengungen unternommen, die Wirtschaftswissenschaften zu beeinflussen und zu kapern. Zurückgreifen konnten sie dabei auf den bereits bestehenden »akademisch-staatlich-finanziellen Komplex«, die Kommerzialisierung der akademischen Forschung sowie schlicht Korruption. Ein weiteres wichtiges Instrument ist Mirowski zufolge die Agnotologie, die Produktion von unnützem Wissen über die Krise im industriellen Maßstab. Damit konnte kurzfristig das politische Handeln gelähmt werden. Wem das schon zu arg nach Manipulation klingt – Mirowski setzt noch einen drauf: Kooptiert wurden auch Protestbewegungen. Im Blick hat er damit die Bewegung Occupy Wall Street, die der Autor auch aufgrund der Rolle, die soziale Medien wie Facebook in ihr spielten, als neoliberal charakterisiert. Ein nicht nur einseitiges, sondern sehr fragwürdiges Argument. Insgesamt sei es den Neoliberalen so gelungen, die Privatisierung der staatlichen Rettungsaktionen und staatlich geförderte Märkte durchzusetzen.
Im Grunde ist Mirowskis Fragestellung spannend, wenngleich überspitzt. Ist der Neoliberalismus tatsächlich stärker als vor der Krise? Hat seine Hegemonie nicht doch ein paar Risse bekommen? Doch Mirowskis Erklärungen heben trotz des alltäglichen Neoliberalismus letztlich zu sehr auf Manipulation und Agnotologie ab, obwohl kein Zweifel daran besteht, dass es diese gibt. Überdies führt der Autor zahlreiche Beispiele aus den Wirtschaftswissenschaften an. Diese aber machen die Lektüre mitunter zu einer zähen Angelegenheit.
Philip Mirowski: Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist. Matthes & Seitz, 353 S., geb., 29,90 €.
aus: neues deutschland, 11.01.2016