Freerk Huisken interpretiert die neue deutsche Flüchtlingspolitik als Machtstreben
Sie hat im Herbst so einiges durcheinander gebracht. Angela Merkels Öffnung der Grenzen für Bürgerkriegsflüchtlinge und ihr »Wir schaffen das« bescherte ihr Freunde gerade auch bei sozialdemokratischen, grünen und liberalen Wählern – und Gegner innerhalb ihrer Partei. Von den besorgten Bürgern auf Pegida-Märschen und den jüngsten Erfolgen der Alternative für Deutschland (AfD) zu schweigen. Selbst viele linke Kritiker des deutschen Asylsystems fühlten sich bemüßigt, Merkel und ihren vergleichsweise liberalen Kurs zu unterstützen, wenngleich sie auch die Verschärfung des Asylrechts in Gestalt des Asylpakets 2 kritisierten.
Dieser findet sich auch in Huiskens neuem Buch »Abgehauen«. Seine Hauptthese lautet, dass die aktuelle Flüchtlingspolitik als Teil einer imperialistischen Offensive Deutschlands zu sehen ist. »Der Schlussfolgerung, die Merkels flüchtlingspolitische Offensive bestimmt, liegt das nationale Selbstbewusstsein einer Staatsmacht zugrunde, die mit ihrer weltpolitischen Rolle im zweiten Glied nicht zufrieden ist und aus ihrem Status als Führungsmacht in Europa ableitet, dass ihr mehr an Einfluss in der Konkurrenz ums Weltordnen zusteht«, schreibt er. Als Beleg gilt Huisken unter anderem die Rede Merkels, die sie auf dem CDU-Parteitag im Dezember 2015 gehalten hat. Diese charakterisiert Huisken als »strotzend vor offensiv vorgetragenem, deutsch-nationalem Selbstbewusstsein«.
Von kapitalistischer Staatenkonkurrenz und Imperialismus aus die Analyse der Flüchtlingspolitik anzugehen – das liegt jenseits des linken Mainstreams und ist deshalb erfrischend zu lesen. Mitunter geht Huisken auch auf Widersprüchlichkeiten des deutschen Agierens ein. So leide das Projekt der deutschen Regierung am Folgenden: »Es soll mit der Inangriffnahme der globalen Flüchtlingsproblematik Europa als Weltmacht in der Konkurrenz zu den Führungsmächten besser in Stellung bringen und führt doch über die zunehmende Zerlegung Europas umgekehrt zum Verlust von Macht und Größe dieses Staatenbündnisses.«
Letztlich ist es aus Huiskens Warte somit auch gleichgültig, ob Merkel ihren Kurs unbeschadet übersteht. Oder ob sich der rechte Unionskurs – womöglich mit Horst Seehofer an der Spitze – durchsetzt. Die grundsätzlich imperialistische Politik der Bundesrepublik Deutschland bleibe bestehen. Denn im Verfolgen des Auftrages, Deutschland in der Konkurrenz der Weltmächte zu mehr Macht und Einfluss zu führen, seien sich alle »Berufsnationalisten« einig. Und folglich werde sich »an den imperialistischen Gründen für die Massenflucht von Menschen, am Massensterben in Wüsten und Meeren, an Flüchtlingen, die sich an Grenzzäunen ballen und Einlass in kapitalistische ›Paradiese‹ fordern«, auch nichts ändern.
Sicher ein zutreffender Aspekt. Doch Einwände liegen umgehend auf der Hand. Für Geflüchtete, die aufgrund einer etwaigen von Seehofer und AfD durchgesetzten Obergrenze irgendwo auf dem Balkan im Dreck ausharren müssen, macht es schon einen Unterschied, ob Merkel – aus welcher Motivation auch immer – Kurs hält oder von den strammen Nationalisten zur Wende gezwungen wird (wobei diese mit dem jüngsten Deal zwischen der EU und der Türkei bereits eingeleitet scheint). Solche Differenzierungen innerhalb des imperialistischen Lagers sind nicht die Sache des Autors. Selbst das Asylrecht interpretiert er als imperialistisches Instrument, mit der Deutschland sich eine Richterrolle anmaße und in die Souveränität fremder Staaten eingreife.
Auf einer abstrakten analytischen Ebene mag man Huisken in vielem zustimmen. Doch seine Argumentation greift mit ihrer Rigidität und Einseitigkeit letztlich doch zu kurz.
Freerk Huisken: abgehauen, eingelagert, aufgefischt, durchsortiert, abgewehrt, eingebaut. Neue deutsche Flüchtlingspolitik, Hamburg 2016, VSA-Verlag, 144 S., 9.80 €
aus: neues deutschland, 21.03.2016