Plebiszite über EU-Fragen werfen Fragen nach dem Verhältnis von repräsentativer und direkter Demokratie auf
Eine Art Wunderwaffe zur Zerstörung der Europäischen Union hat Jean Asselborn ausgemacht: »Wenn man Europa kaputt machen will, dann braucht man nur mehr Referenden zu veranstalten«, sagte der luxemburgische Außenminister anlässlich des Plebiszits der Niederländer zum EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine im April. Ob er das Referendum auch als ungeeignetes Instrument einer parlamentarischen Demokratie zur Beantwortung komplexer Fragen bezeichnet hätte, wenn die niederländische Bevölkerung in seinem Sinne abgestimmt hätte? Vermutlich nicht.
Wie also umgehen mit Plebisziten auf europäischer Ebene? Soll man sich aus formal-demokratischen Gründen für Volksbefragungen einsetzen, selbst wenn die Gefahr eines Rückfalls in den Nationalismus droht bzw. die Abstimmung im Vereinigten Königreich ein von oben initiierter Versuch ist, mit einem akklamatorisch abgesicherten Mandat durchzuregieren? Oder tut man gerade mit Blick auf die Erfolgswelle, auf der Nationalisten und Rechtspopulisten derzeit reiten, besser daran, eine erziehungsdiktatorische Position einzunehmen? Vergleichbar dem Grundgesetz, in dem nationale Volksentscheide nicht vorgesehen sind? Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Antworten fallen – mit einer Einschränkung – für Plebiszite aus. Aus folgenden Gründen: Der Unmut über das Projekt Europäische Union wächst in den Mitgliedsstaaten bereits seit einigen Jahren. Gerade in Griechenland und Spanien misstrauen Teile der Bevölkerung der EU auch deshalb nicht, weil diese an ihrer neoliberalen Verarmungspolitik festhält. Selbst in der konservativen Tageszeitung »Die Welt« stand kürzlich: »Nach Jahren harter staatlicher Sparmaßnahmen sind zwar die Boni für Bankiers und Manager wieder auf dem alten Niveau angelangt, doch an der skandalösen Arbeitslosigkeit von rund 70 Prozent der Jugendlichen am Mittelmeer hat sich nichts geändert.«
Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit mit der EU dürften überdies ignorierte Referenden auf nationaler Ebene sein. 2005 wurde der EU-Verfassungsvertrag in Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt. Grund hierfür: Die Bevölkerungen wollten nicht die Erhebung des Neoliberalismus in den Verfassungsrang. Was aber machte die EU? Sie schrieb die Ideologie der Marktentfesselung in den Vertrag von Lissabon fest – nennt das Ganze indes nicht mehr Verfassung. 2008 stimmte die irische Bevölkerung gegen diesen Lissabon-Vertrag. Was passierte? 2009 wurde ein weiteres Referendum abgehalten. Im vergangenen Jahr sagten die Griechen Oxi (Nein) zu einem weiteren Austeritätsprogramm. Doch Europäische Kommission, EZB und IWF zwingen der Syriza-Regierung weitere Sozialkürzungen und Privatisierungen auf.
Wird dieser Kurs der Ignoranz von Referenden fortgesetzt, betreibt die europäische politische Klasse das Geschäft der Zerstörung des EU-Projekts weitaus besser und erfolgreicher, als es die vermeintlich falschen Voten in ihren Mitgliedsländern tun.
Zwar ist die Gefahr tatsächlich real, dass die Plebiszite von den Rechtspopulisten gewonnen werden. In den Niederlanden waren sie die dominierende Kraft, in Großbritannien spielt in der Brexit-Schlacht das fremdenfeindliche Ressentiment gegen Einwanderer eine zentrale Rolle. Aber das spricht weniger gegen die Volksentscheide an sich, sondern ist Ausdruck der Schwäche linker klassenpolitischer Kräfte. Wegen dieser Defensivposition jedoch das Instrument Plebiszit aufzugeben, käme einer freiwilligen Kapitulation gleich. Dieser Logik zufolge könnte man auch für die Abschaffung von Wahlen plädieren.
Ein gewichtiges Argument für Volksentscheide führt Paul Tiefenbach, Autor des Buches »Alle Macht dem Volke?« an: »Ein Politiker, dessen Entscheidung direkt vom Bürger kassiert werden kann, nimmt diesen wirklich ernst.« Dieser Gedanke schließt ein, dass die EU sich unter dem Druck von Referenden auf das besinnen könnte, was sie in Sonntagsreden stets beschwört: ein demokratisches Europa für die Mehrheit der Bürger zu sein.
Parlamente und Repräsentation würden nicht überflüssig, aber mit Volksentscheiden stünden Korrektivinstrumente zur Verfügung, die es erlauben, die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung differenzierter zu ermitteln. Denn auch das ist klar: Den Volkswillen kann es nicht geben. Die Entgegensetzung von Volksmeinung und Elite ist ein bei Populisten beliebtes rhetorisches Mittel, das verdeckt, dass das Volk selbst durch Interessenkonflikte gespalten ist.
Insofern erweist sich die Frage nach dem Verhältnis von repräsentativer und direkter Demokratie als zu kurz – und damit wären wir bei der Einschränkung. Die Demokratiefrage ist dann falsch gestellt, wenn sie darauf reduziert wird, eine bloße Verfahrensfrage zwischen den Polen Repräsentation oder direkter Abstimmung zu sein, so ein Argument der unlängst verstorbenen marxistischen Historikerin Ellen Meiksins Wood. Die Substanz der Demokratie könne nur in der realen Selbst- und Mitbestimmung, in der Selbstorganisation von Unterklassen als politischen Subjekten bestehen, die ihr Interesse öffentlich und einflussreich artikulieren. Und vor allem transnational, ließe sich ergänzen. Realitätsfern? Sicher! Aber wo käme man hin, ließe man sich diese gedankliche Antizipation nehmen? Schließlich ist die Idee der Vereinigten Staaten von Europa eine, die ihren Ursprung wesentlich in der sozialistischen Arbeiterbewegung hat.
aus: neues deutschland, 21.05.2016