Ist der Minuszins der zehnjährigen Bundesanleihe tatsächlich eine Zäsur in der Geschichte des Kapitalmarkts?
Die Entscheidungen kamen nicht völlig überraschend – und sind doch bemerkenswert. Die US-amerikanische Notenbank FED gab am Mittwoch bekannt, dass sie ihre im Dezember zaghaft begonnene Zinswende erst einmal aussetzt. Der Leitzins wird nicht erhöht. Am Donnerstag zogen weitere Zentralbanken nach. Die Banken in Japan, der Schweiz und in England beließen die Leitzinsen unverändert im negativen beziehungsweise leicht positiven Bereich. Eine Rolle bei diesen Entscheidungen spielte auch der mögliche Brexit am kommenden Donnerstag. Die Zentralbanken wollen angesichts des unkalkulierbaren Risikos beim Austritt Großbritanniens ihren ohnehin geringen Handlungsspielraum nicht unnötig einengen. Und erst letzte Woche hatte die Europäische Zentralbank mit dem Aufkauf von Unternehmensanleihen ihren Kurs der expansiven Geldpolitik intensiviert. Dieser wird für die niedrigen bis negativen Zinsen verantwortlich gemacht.
Negative Zinsen? Ist das überhaupt noch Kapitalismus, fragte der »Spiegel« bereits vor wenigen Monaten angesichts von Nullzinspolitik und Negativrenditen? Diese Frage stellt sich seit Dienstag erneut: Erstmals rutschte die zehnjährigen Bundesanleihe ins Minus. Anleger, die eine Anleihe aufnehmen, bekommen nach zehn Jahren also weniger Geld zurück. Von einem Meilenstein, einer Zäsur und einer neuen Epoche am deutschen Kapitalmarkt ist die Rede. Denn die zehnjährige Anleihe ist nicht irgendeine Staatsanleihe. Kürzer laufende Anleihen befinden sich bereits seit 2012 im negativen Bereich. Aber die zehnjährige ist der Platzhirsch. Sie dient als Zinsreferenz für den Euro und damit für eine der wichtigsten Währungen der Welt. Fast die Hälfte der gesamten Schulden hat der Bund mit der Laufzeit von zehn Jahren ausgegeben.
Was als ewige Gewissheit galt, hat keine Gültigkeit mehr: Schuldner werden dafür belohnt, dass sie Schulden machen. Bislang war es andersherum. Freuen kann sich insbesondere der deutsche Staat. Er spart schon seit der Eurokrise massiv an Zinsen. Von 2010 bis heute hat er mehr als 100 Milliarden Euro gespart, schätzte das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. Insgesamt weisen mehr als die Hälfte aller Staatsanleihen im Euroraum negative Renditen auf; weltweit beläuft sich das Volumen auf rund elf Billionen Dollar.
Wie ist das zu verstehen? Ist es tatsächlich so, dass der Kapitalismus gerade eines seiner wesentlichen Merkmale verliert? Ganz so ist es nicht. Erstens sind negative Zinsen ein Phänomen der Finanzsphäre. Doch nur im Zusammenhang mit der Produktionssphäre kann die Frage beantwortet werden. Diese indes ist immer noch durch Privatbesitz an den Produktionsmitteln und dem Kriterium der Profiterwirtschaftung gekennzeichnet.
Und doch sind Strafzinsen und negative Renditen Ausdruck einer neuen Entwicklung des Kapitalismus: jener der auslaufenden Akkumulationsdynamik. So viel Geld mittels der Zentralbanken auch geschaffen wird – es wird nicht mehr investiert, um reale Waren herzustellen. Das Kapital fließt in die Finanzsphäre – und erhöht damit die Gefahr der Blasenbildung. Zugespitzt kann man die Negativrenditen als Vorbote eines Minuswachstums der Ökonomien betrachten. Das Verhängnisvolle an dieser Situation: Weil die Staaten in der letzten Krise den implodierenden Banken zur Seite sprangen, ist ihr Handlungsspielraum durch die erhöhten Schuldenstände eingeschränkt.
Neben diesen langfristig wirkenden Faktoren spielt ohne Zweifel auch die kurzfristige politische Sorge um die Folgen eines Brexits eine Rolle. Schweizer und deutsche Bundesanleihen gelten als sicherer Hafen für institutionelle Investoren und Versicherungen. Die Verzweiflung muss hoch sein, wenn viele von ihnen anstelle von Profiten leichte Verluste in Kauf nehmen. Für Investoren ist die momentane Situation verheerend. Und sie birgt große Risiken. Wenn ein wichtiger Markt für halbwegs sichere Anlagen wegbricht, treibt das einige Investoren in risikoreichere Investments. Eine erneute Destabilisierung des Finanzsystems wird wahrscheinlicher.
Eine Änderung der Entwicklung ist nicht in Sicht. Der Chef-Anlagestratege des US-Vermögensverwalters Blackrock, Richard Turnill, rechnet mittelfristig nicht mit höheren Zinsen in der Eurozone. Auf Zinsen von zwei oder drei Prozent »könne man noch sehr lange warten«, sagt er in der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsmagazines »Capital«.
aus: neues deutschland, 17.06.2016