Der neue Bericht an den Club of Rome »Ein Prozent ist genug« spielt mit dem Feuer – so werden mit Sicherheit die Urteile der wirtschaftsliberalen Kommentatoren lauten. Der Grund: Der Report kritisiert Marktradikalismus, Freihandel, ja das ganze gegenwärtige Wirtschaftssystem und fordert Zölle und Handelsschranken, mithin das, was der herrschenden Meinung als natürlicher Feind von Wachstum und Wohlstand gilt: Protektionismus.
In einem eigenen Kapitel wird die Ideologie des Marktradikalismus kritisiert. Unmissverständlich stellen die Autoren Randers und Maxton fest, dass fast alle der drängenden Probleme auf das jetzige Wirtschaftssystem zurückzuführen sind: Klimawandel, Armut, Umweltzerstörung, Schwund der Rohstoffe, Verlust der Artenvielfalt, Kriege, Terrorismus, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Migration. »Das heißt, sie haben dieselbe Ursache – nämlich den Wunsch nach unendlichem Konsum ohne jeden Gedanken an die Folgen für die Umwelt und das Verhältnis zwischen Arm und Reich.« Das Streben nach Kostensenkungen und Steigerung kurzfristiger Gewinne, hervorgerufen durch die Finanzmärkte, kurz das »gegenwärtige Modell des Marktradikalismus« sei dafür verantwortlich, dass die Reallöhne gesunken sind und es heute Millionen Menschen schlechter geht als vor 30 Jahren. Und da das derzeitige Wirtschaftssystem auch die ständige Steigerung des Rohstoffdurchsatzes verlange, ist es schuld an den Schäden am Planeten Erde, so die Autoren.
Ausdrücklich ist in dieser Kritik die des üblicherweise als sarkosankt geltenden freien Handels enthalten. Dieser sei nicht für alle vorteilhaft: »Entgegen der Behauptung der Verfechter des freien Markts fördert er nicht zwangsläufig das Wirtschaftswachstum.« Randers und Maxton erwähnen die Beispiele Südkorea und Taiwan. Beide regulierten strikt den Import ausländischer Güter – und konnten sich gerade auf diese Weise zu modernen Industrienationen entwickeln. Mexiko hingegen öffnete mit dem Beitritt zur Freihandelszone NAFTA die Grenzen für Waren – und musste in Kauf nehmen, dass 28 000 kleine und mittlere Unternehmen schließen mussten, über eine Million Bauern ihr Land aufgaben, die Reallöhne sanken und die Arbeitslosigkeit stieg. »Ein uneingeschränkter freier Handel verhindert also weitgehend die Entwicklung armer Länder« – und nützt vor allem den reichen Ländern, die ihre Übermacht sichern, resümieren die Verfasser.
Als Gegenteil von Freihandel gilt Protektionismus. Randers und Maxton fordern genau dies – exakt: »ein kleines Stück Protektionismus für Arbeit und Umwelt«. Aber sie wissen, welchen Ruf Schutzzölle und Handelsbarrieren haben, und relativieren: »Wenn wir hier für Protektionismus eintreten, heißt das nicht, dass wir zu einer Ära der geschlossenen Märkte und des Isolationismus zurückkehren wollen. Vielmehr schauen wir nach vorn auf eine Zeit, in der der internationale Handel ausgeglichen und im Interesse der Gesellschaft und eines möglichst geringen ökologischen Fußabdrucks reguliert wird.« Protektionismus verringere die Gefahren für die Arbeitnehmer während des Reform-Übergangs und ermögliche es den Menschen, ihren Wohlstand weitgehend zu wahren.
Die Kritik des Wirtschaftssystems, des Freihandels und das Eintreten für protektionistische Maßnahmen ist in Zeiten, in denen fast die ganze Welt neue Freihandelsverträge aushandelt, durchaus mutig und richtig. Interessanterweise schimmert hier und da sogar eine Art Klassenstandpunkt durch. Wenn etwa klar benannt wird, gegen wen die Reformen durchgesetzt werden müssten (die Superreichen und die fossilen Energiekonzerne) und wer deren Nutznießer ist (99% der Menschen). Doch eine Aushebelung des gesamten Systems wird nicht angestrebt, betonen Randers und Maxton. Der Marxist Wolfgang Harich sagte über den Club-of-Rome-Bericht von 1972, dass er auf sozialistische, »sogar ausgesprochen kommunistische Lösungen« hinweise. Das ist im Bericht von 2016 ebenfalls so – zumindest was sozialistische Lösungen anbelangt.
aus: neues deutschland, 14.09.2016