Christoph Heins neuer Roman »Trutz« handelt vom Erinnern und Vergessen im Jahrhundert der Extreme
Glücklich sei nur, wer vergessen könne, heißt es in einem Operettenlied, dessen Partitur die junge Geta Gejm in einer Sammlung von Klavierauszügen findet. Dieses Lied studiert sie überglücklich ein, um es fortan ihren Eltern, ihrem Bruder Rem und seinem Freund Maykl Trutz vorzuspielen. Es ist ein Akt der Rebellion. Denn ihr Vater ist Waldemar Gejm, ein Mathematiker und Sprachwissenschaftler in der Sowjetunion, der sich der vergessenen Wissenschaft des Erinnerns verschrieben hat: der sogenannten Mnemonik. Diese Gedächtniskunst, die mit Merkhilfen operiert und bereits im antiken Griechenland bekannt war, möchte er spielerisch seinen Kindern beibringen. Doch im Gegensatz zu Rem und Maykl hat die kleine Geta keine Lust auf das, wenngleich spielereiche, so doch disziplinierte Training und auf Begriffe wie Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Merkspanne oder Gedächtniskapazität. Es ist eine Ironie, dass das Loblied auf das Vergessen zum Familienlied des Mnemonikers Gejm und seiner Familie wird.
Das Lied begegnet uns bereits in der Vorblende. Es wird auf der Beerdigung des 2007 verstorbenen Maykl gespielt. An dieser nahm der Ich-Erzähler, offensichtlich Hein selbst, teil. Er berichtet einleitend, wie er im Zuge zu Recherchen zu einem anderen Buchprojekt Maykl Trutz kennenlernte, diesen mehrmals in seiner Wohnung besuchte, wo dieser ihm seine Lebensgeschichte erzählte.
»Trutz« beginnt vergleichbar mit Heins letztem Roman »Glückskind mit Vater« ein wenig als Jugend- und Abenteuerroman. Erzählt wird in sehr geraffter Form die Geschichte von Maykls Vater Rainer. Der Bauernsohn aus Vorpommern erweist sich als lebensuntauglich, weil er seine Nase lieber in Bücher steckt, als auf dem Feld zu rackern. Er sucht sein Glück woanders, kommt nach Berlin in einer Zeit, als Zigaretten einzeln und Schnaps in Gläsern verkauft werden. Er wird von einem Auto angefahren. Ein Glücksfall, weil die Fahrerin in der Kulturabteilung der sowjetischen Botschaft arbeitet. Sie protegiert den jungen Trutz, führt ihn in literarische und journalistische Zirkel ein.
Und tatsächlich wird Rainer bald darauf freier Mitarbeiter einer Zeitung, für die er Theaterkritiken schreibt. Während seiner journalistischen Arbeit lernt er seine spätere Frau Gudrun kennen, eine christliche Sozialistin und Gewerkschafterin. Ein erster freizügiger und ein zweiter die Enge des deutschen Provinzlebens beschreibender Roman erscheinen. Letzterer stößt den immer stärker werdenden Nationalsozialisten übel auf. Sie hetzen in ihren Publikationen gegen den jungen Autor Trutz, veröffentlichen gar seine Adresse. Als die gemeinsame Wohnung verwüstet wird, fliehen sie mit Hilfe der sowjetischen Freundin in das »Vaterland aller Werktätigen«.
Der vor den Faschisten geflohene parteilose Nachwuchsliterat will mit der Politik eigentlich nichts zu tun haben – und muss zusammen mit seiner Frau rasch verstehen, dass in der Sowjetunion unter Stalin jede Nachlässigkeit, jeder Spaß und Witz, selbst jede Unaufmerksamkeit genauso gewertet wurde wie eine gründlich durchdachte Äußerung und Entscheidung. Das Paar findet sich in einem System von Willkür, Kontrolle und Amtsgewalt wieder. Rainer muss den Traum, als Schriftsteller arbeiten zu können, aufgeben. Stattdessen Plackerei in einer Brigade, die den Schutt beim Ausheben von Tunneln für die Metro wegräumt. Gudrun findet Anstellung in einer staatlichen Süßwarenfabrik. Dort ergeht es ihr besser als ihrem Mann; sie wird von den Kolleginnen freundlich aufgenommen und umsorgt.
Sohn Maykl wird 1934 geboren, die Trutzs lernen die Familie des Wissenschaftlers Gejm kennen. Als sie sich leidlich an die Umstände des Moskauer Exils gewöhnt haben, gerät der Große, der Stalinsche Terror ins Rollen. Die Einschläge in Gestalt willkürlicher Verhaftungen kommen immer näher, bis sie im Zuge der Massenverhaftungen 1937 selbst betroffen sind. Zum Verhängnis wird Trutz eine Rezension eines Reiseberichts von deutschen Schriftstellern aus dem »Paradies der Werktätigen«. Märchen, Satire, Naivität? Trutz besprach den Text für »Die Weltbühne« ironisch-distanziert. Die Besprechung wird ihm als sowjetfeindlich ausgelegt.
Auch die Gejms sind von Repressalien betroffen. Die Sprachwissenschaft wird als antisowjetisch und trotzkistisch ausgelegt. Die Protagonisten von Heins Roman finden sich somit alle in Zwangsarbeitslagern wieder. Rainer Trutz stirbt in Workuta gleich am Tag seiner Ankunft, seine Frau, zunächst noch durch ihre Kolleginnen geschützt, wird wie alle deutschen Emigranten nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion ins Hinterland deportiert. Dort stirbt sie – wie auch Waldemar Gejm, dem deutsche Vorfahren zum Verhängnis wurden.
Hier setzt Hein fort mit dem Lebensweg des Sohnes Maykl. Nach dem Krieg wird dieser aus der Sowjetunion ausgebürgert, er kommt in die DDR, studiert zunächst Geschichte, will jedoch nicht in die FDJ eintreten aufgrund dessen, was seinen Eltern in der Sowjetunion zustieß. Er muss Archivar werden, zunächst in Potsdam, dann aufgrund von Strafversetzungen in Weimar und schließlich in Witttenberge.
In Heins Buch sterben die Protagonisten beiläufig und wegen nichtiger Gründe. Am beiläufigsten Rainer Trutz. Nach einem Schlag mit einem polierten Holzknüppel fiel Rainer Trotz um. »Noch bevor er zu Boden ging, war der Mann neben ihm, riss ihn das Tabakpäckchen aus der Hand und verließ den Raum.« Das ist so brutal-lapidar erzählt, dass man als Leser zunächst nicht richtig realisiert, dass die Figur, deren Lebensgeschichte man über zwei Drittel des Buches gebannt gefolgt ist, nun tot ist.
Doch wird so nur der Schrecken des 20. Jahrhunderts verdeutlicht, das der marxistische Historiker Eric Hobsbawm als »Jahrhundert der Extreme« bezeichnet hat. Das wie zufällig wirkende Sterben in den Lagern verweist lediglich auf die unmenschlichen Bedingungen, die in der Stalinschen Sowjetunion herrschten. Heins nüchterne, schmucklose Sprache scheint auf den ersten Blick dieser Außergewöhnlichkeit des historischen Geschehens nicht angemessen. Doch der über weite Strecken im Berichtston gehaltene Text entwickelt einen Sog in typischer Heinscher Manier.
»Trutz« ist im Wesentlichen ein Buch über die Nichtigkeit des Individuums, das dem politischen Weltgeschehen, das Faschismus und Stalinismus hilflos ausgeliefert ist. Erinnern oder Vergessen? In dem Buch heißt es: »Nichts wird vergessen? Wie schrecklich! Ist das Vergessen nicht die Bedingung für neue Erfahrungen, neues Wissen?« Worauf der Mnemoniker Gejm erwidert: »Unser Gedächtnis ist unser Verstand, unsere Sozialisation, es bestimmt unserer Handlungen, wir folgen im Denken und in dem, was wir tun, dem Gedächtnis. … Wir erinnern uns, nur darum leben wir.«
Geta als Individuum scheint ihr Widerstand gegen die Erinnerungskunst glücklicher als jene gemacht zu haben, die alles behalten. Für die kollektive Erinnerung an Faschismus und Stalinismus mag die Antwort freilich anders ausfallen. Christoph Hein hat mit »Trutz« zumindest ein Buch geschrieben, das sich dem Vergessen entgegenstemmt.
Christoph Hein: Trutz, Roman. Suhrkamp, 477 S., geb., 25 €
aus: neues deutschland, 26.4.2017