Lange war er ein Feindbild der Linken: Mit seinen berühmt-berüchtigten Strukturanpassungsprogrammen zwang der Internationale Währungsfonds (IWF) Ökonomien neoliberale Reformen auf – ohne Rücksicht auf soziale Verluste. Doch seit geraumer Zeit bekommt dieses Bild Risse. Zunehmend sorgt sich die Institution mit Sitz in Washington um die Stabilität des globalen Kapitalismus. Und als Bedrohung für diese hat sie die wachsende soziale Ungleichheit ausgemacht.
In ihrer Rede auf dem IWF-Jahrestreffen im Oktober musste man schon genau hinhören, um die Worte der IWF-Chefin Christine Lagarde nicht für Argumente von »Linkspopulisten«, Keynesianern oder Gewerkschaftern zu halten. Die Regierungen müssten das Problem der Ungleichheit entschiedener angehen, forderte sie die anwesenden Finanzminister und Zentralbanker auf. Lagarde schlug vor, die Steuern für Reiche zu erhöhen und stärkere soziale Sicherheitsnetze zu spannen. Damit sollen Menschen vor den erwarteten negativen Folgen der Digitalisierung und des Freihandels geschützt werden. Überdies forderte sie mehr Investitionen in Ausbildung und Gesundheit der Beschäftigten und Frauen sollten stärker in die Wirtschaft einbezogen werden. Das ist schon bemerkenswert, denn gerade höhere Steuern für Superreiche und Kapitaleigner widersprechen deren Klasseninteresse.
Auch in den Studien des IWF findet sich ein neuer Ton wieder, der mit neoliberalen Grundannahmen bricht. Jüngstes Beispiel ist ein Papier mit dem programmatischen Titel »Tackling Inequality«. In diesem heißt es: »Exzessive Ungleichheit kann den sozialen Zusammenhalt aushöhlen, zu politischer Polarisierung führen und letztlich das Wachstum senken.« Das ist exakt das Gegenteil von dem, was der IWF jahrzehntelang gepredigt hatte. Im Einklang mit dem neoliberalen Mainstream hatte er die These vertreten, dass gerade soziale Ungleichheit nötig sei, um ein größeres Bruttoinlandsprodukt zu erwirtschaften. Denn nur so bestünde ein Anreiz für die Beschäftigten, sich anzustrengen, um sich wie ihr Vorgesetzter ein größeres Haus und ein neues Auto leisten zu können.
Ein neuer Wind weht auch in Analysen zum Arbeitsmarkt. Bislang hatte der IWF die Verschärfung der kapitalistischen Konkurrenz mit der Propagierung von deregulierten Arbeitsmärkten, prekärer Beschäftigung und geringem Kündigungsschutz forciert. Nun will er sie laut einem Papier zumindest etwas eindämmen. Denn seinen Forschern ist die Erkenntnis gekommen, dass geringe Erwerbslosenzahlen und steigende Beschäftigtenzahlen keineswegs zu höheren Nominallöhnen und Inflationsraten führten. Dieser Zusammenhang galt bis dato als gesichert – bis die globale Finanzkrise diesen vor zehn Jahren in Frage stellte. Der Grund, so der IWF, könnten flexibilisierte Arbeitsmärkte sein. Sie würden die Lohnentwicklung dämpfen und somit zur Aufblähung des Finanzsektors beitragen. Eine Verbesserung der sozialen Sicherung für die prekarisierten Beschäftigten könnte da Abhilfe schaffen.
Die Sorgen des IWFs um die Lohnentwicklung und die soziale Ungleichheit sind aber instrumenteller Natur. Ihm geht es nicht um die Ungleichheit an sich, sondern darum, dass sie das Wirtschaftswachstum bremst oder sich als Wasser auf die Mühlen einer nationalistisch-populistischen Politik erweist, die mit protektionistischen Maßnahmen dem freien Fluss von Kapital, Waren und Arbeitskräften den Garaus machen könnte. Denn dass internationaler Handel reich macht – von diesem Dogma will der IWF selbstredend nicht lassen.
Der IWF fungiert somit zunehmend als moralischer ideeller Gesamtkapitalist. Moralisch, weil er wenig Macht hat, jenseits von Appellen seine Empfehlungen in konkrete Politik umzusetzen. Nationale Regierungen wie die von Trump in den USA oder die von Merkel in Deutschland stehen dem entgegen. Trump will die Superreichen weiter entlasten und mit Merkel dürfte es auch mit einer Jamaika-Koalition keine Abkehr von Sparpolitik, Austerität und schwarzer Null geben.
Während nationale Regierungen durch Lohndumping, Schwächung der Gewerkschaften und Steuersenkungen für Unternehmer in der internationalen Konkurrenz einen Standortvorteil für das Kapital zu erlangen suchen, blickt der IWF von oben auf dieses Getümmel und mahnt eine andere Politik an. Die Nationalregierungen sollen eine umverteilende Wirtschaftspolitik zugunsten der Lohnabhängigen betreiben. Kurzfristig kann das auf eine Senkung von Profitraten hinauslaufen, langfristig aber geht es um die Aufrechterhaltung profitabler Anlagemöglichkeiten des Kapitals insgesamt –mithin um den Systemerhalt. Man könnte auch sagen: Der Vorreiter des neoliberalen Kapitalismus hat erkannt, dass der Bogen etwas überspannt wurde.
aus: analyse & kritik Nr. 632