Der Sozialpsychologe Gerhard Vinnai im Interview über Notwendigkeit und Schwierigkeit der Kritik des Privateigentums
Gerhard Vinnai war bis 2005 Professor für analytische Sozialpsychologie an der Universität Bremen. Sein besonderes Interesse gilt der Verbindung von Psychologie und kritischer Gesellschaftstheorie. In den 1970er Jahren wurde er mit Büchern zur neomarxistischen Sportsoziologie bekannt. Sein neuestes Buch heißt »Die Tücken des Privateigentums. Der Einfluss auf die Psyche und notwendige Alternativen« (VSA-Verlag).
Herr Vinnai, die Kritik am Kapitalismus nimmt seit rund zehn Jahren, seit der Finanzkrise, zu. Auffallend ist jedoch, dass lediglich die Verteilung, kaum aber die Art und Weise, wie produziert wird, in der Kritik steht. Kapitalistische Eigentumsverhältnisse werden nicht in Frage gestellt. Woran liegt das?
Ich sehe sehe drei Gründe: Erstens blockiert die Übermacht privater Interessen und die mit ihnen verbundene private Kontrolle von Medien öffnende Diskurse.
Wie muss man sich das vorstellen? Beschweren sich Eigentümer von Zeitungen in der Redaktion, wenn Kritisches über die Eigentumsverhältnisse gedruckt worden ist?
Die Journalisten, die in privaten Medien arbeiten, haben üblicherweise die Normen des privaten Eigentums so verinnerlicht, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, dieses infrage zu stellen. Das erspart ihnen natürlich auch Konflikte mit den Eigentümern und Werbekunden.
Und die weiteren Gründe?
Offenbar haben zweitens die abschreckenden Züge des Staatssozialismus Osteuropas das Kollektiveigentum diskreditiert. Und drittens kennzeichnet unsere Gesellschaft eine besondere Bindung der Subjektivität an das Privateigentum, was die kritische Distanz zu ihm erschwert.
Bindung der Subjektivität an das private Eigentum? Das müssen Sie erläutern. In Ihrem Buch scheint mir das Ihr wichtigstes Argument zu sein.
Das Selbstbild, das mit biografischen und sozialen Erfahrungen verbunden ist, ist bei uns zu weiten Teilen mit dem private Eigentum verknüpf. Diese sind immer mit einer Beziehung zur gegenständlichen Welt verbunden, die in unserer Gesellschaft weitgehend Privatbesitz ist. Das Privateigentum erlaubt seinen Besitzern Vergegenständlichungen eigener Fähigkeiten in der eigenen Firma, der eigenen Wohnung oder dem eigenen Garten. Man kann sich so bis zu einem gewissen Grad durch die Gestaltung der Realität verwirklichen und sich wie in einer Art Spiegel wahrnehmen.
Kleider, Wohnungen und Gärten machen also Leute, könnte man sagen. Wo ist das Problem?
Das Privateigentum trennt zwischen Mein und Dein, was zu mir und was nicht zu mir gehört. Dadurch wird die eigene Welt von der Welt der anderen abgetrennt, was soziale Solidarität und gemeinsames soziales Handeln sehr erschwert und das soziale Wesen des Menschen verkümmern lässt. Im Extremfall kann die enge Bindung der Psyche an das Privateigentum seine Abschaffung als Bedrohung durch den sozialen Tod erfahren lassen. Zudem wird die psychische Bindung an das eigene Privateigentum tendenziell auf die Einstellung zum Privateigentum im Allgemeinen übertragen.
Sie unterscheiden also verschiedene Formen des Eigentums?
Ja, man kann das Privateigentum an Wirtschaftsunternehmen, das mit Formen der Ausbeutung verknüpft ist, vom Privateigentum an Konsumgütern unterscheiden. Man kann Eigentum an Geld und Finanztiteln von dinglichem Eigentum wie Autos oder iPhones unterscheiden. Oder das Eigentum, das aus eigener Arbeit resultiert von jenem, das fremder Arbeit entspringt, deren Produkte als Ware angeeignet wurden. Verschiedenes Eigentum kann eine unterschiedliche Nähe bzw. Distanz zu Persönlichkeitsstrukturen oder der Leiblichkeit aufweisen, was in seine psychologische Bedeutung eingeht.
Ihr Buch ist ein Plädoyer für die Kritik des Privateigentums. Warum ist diese so wichtig?
Ohne die Überwindung bestimmter Formen des Privateigentums kann es keine Überwindung des Kapitalismus geben. Das Privateigentum an Wirtschaftsunternehmen, das die private Aneignung von gesellschaftlich produziertem Mehrwert erlaubt, sorgt dafür, dass kapitalistisch verfasste Gesellschaften Klassengesellschaften sind, die sich durch besondere Formen der Ungerechtigkeit auszeichnen.
Sie sehen aber auch die positiven Seiten des Eigentums.
Ja, das Privateigentum kann für seine Besitzer Freiheiten in Gestalt von Gestaltungsspielräumen stiften. In der eigenen Firma oder den eigen vier Wänden kann man seine Fähigkeiten anders als im Rahmen fremdbestimmter Arbeit vergegenständlichen. Zudem gewährleistet das Privateigentum Sicherheit und Schutz. Andere Eigentümer oder der Staat dürfen in den eigenen privaten Bereich nicht oder nur begrenzt eindringen. Geld kann auf verschiedene Weise ausgegeben werden und ermöglicht so die «Freiheit des Konsums». Diese positiven Seiten sind freilich durch den Umfang des privaten Besitzes beschränkt.
Marxisten wird vorgeworfen, Sie wollten das Eigentum abschaffen. Sie schreiben jedoch, der Kapitalismus schafft es ab.
Schon Marx und Engels haben das im «Kommunistischen Manifest» treffend beschrieben. Die Konzentration von Privateigentum geht immer mit der Enteignung vieler einher. Im produzierenden Gewerbe, in der Landwirtschaft oder im Handel werden Kleinbetriebe zunehmend durch Großbetriebe aus dem Feld geschlagen, was ihrer Enteignung gleichkommt. Die Entwicklung des Kapitalismus bewirkt auch eine zunehmende Zerstörung der Funktionen, die üblicherweise mit dem Privateigentum assoziiert werden. Der ideale private Eigentümer nimmt als selbstständiger Unternehmer Gestalt an, der als Leiter der Produktion und als kaufmännischer und technischer Direktor seines Unternehmens auf den Plan tritt. Seine Funktion wird in Aktiengesellschaften tendenziell überflüssig, wenn diese Funktionen Angestellten übertragen werden.
Das Internet mit Unternehmen wie Facebook, stellen Sie fest, verspreche auf eine merkwürdige Art, einen kommunistischen Traum zu erfüllen. Klingt ziemlich optimistisch.
Nun, das Internet hebt Trennungen und Schranken zwischen Menschen auf, die bisher mit dem privaten Eigentum verbunden waren. So verschwindet die private familiäre Autonomie durch soziale Medien zunehmend. Zugleich erlaubt das Internet einen tendenziell gleichberechtigten Zugang aller zu ihm. Diese Entwicklung wird vor allem von jungen, aber auch von vielen älteren Menschen, als befreiend erfahren. Freilich kann man sie auch als eine bloße Kollektivierung des Privaten interpretieren, die an die Stelle öffentlicher politischer Zusammenschlüsse tritt.
Befürchten Sie nicht, dass Facebook, Google und Amazon das Internet weiter monopolisieren?
Doch, natürlich besteht gleichzeitig die Gefahr, dass das Internet einer weiteren Durchkapitalisierung der Gesellschaft Vorschub leistet.
Gibt es Beispiele, dass in der jetzigen Gesellschaft potenziell Widerständiges enthalten ist?
Im Kapitalismus wird die Vergesellschaftung der Menschen zunehmend vorangetrieben, sie werden zunehmend, trotz ihrer sozialen Isolierung, aneinander gebunden. Diese Kollektivierung wird vom Kapital und vom Staat gewissermaßen von oben verordnet. Diese Kollektivierung kann aber unter Umständen bestimmte Formen der Gegenwehr hervorbringen, sie kann gemeinsame Hilfeleistungen, Formen der Solidarität und des gewerkschaftlichen und politischen Handelns begünstigen, durch die eine falsche Vergesellschaftung tendenziell in eine richtigere verwandelt werden kann.
Was haben Sie genau vor Augen?
In der gegenwärtigen Gesellschaft gibt es vor allem bei Älteren eine Tendenz zu gemeinsamem, generationsübergreifendem Wohnen oder eine Neigung zur gemeinsamen Nutzung von Gärten, Stichwort Urban Gardening.
Sie sind Sozialpsychologe. Lassen sich auch in der Psyche Widerstände gegen die Dominanz des Privateigentums finden?
Die Psyche, die an das Privateigentum gebunden ist, hat immer auch Dimensionen, die diesem widerstreben. Die rauschhafte «Brüderlichkeit der Fußballarenen» wird unter anderem deshalb als attraktiv erfahren, weil sie bestimmte Formen des kollektiven Erlebens zulässt. Im Unbewussten der Psyche, das mit der psychischen Verfasstheit der Kindheit verwandt ist, existieren keine oder nur sehr begrenzt Eigentumsschranken. In der Psyche ist deshalb latent immer ein Wünschen vorhanden, das auf eine Überschreitung von Eigentumsschranken drängen kann. Die Möglichkeiten, die in den angedeuteten Potenzialen stecken, können aber nur in politischen und sozialen Kämpfen entwickelt und durchgesetzt werden.
Sehen Sie irgendwo Kämpfe, wo sich das Potenzial entfaltet?
Es gibt in Betrieben Formen der wechselseitigen Unterstützung, die mit der Austragung von Kämpfen verbunden sind, die eine bloß private Interessenorientierung überschreiten. Und es gibt Kämpfe, die sich gegen die Unterwerfung öffentlicher Räume unter eine private kommerzielle Nutzung wenden, das Tempelhofer Feld in Berlin ist ein Beispiel. Auch Jugendliche, die sich zu sehr eingeschränkt fühlen, unterlaufen Eigentumsschranken, indem sie Häuser besetzen, im Internet illegal Sachen herunterladen oder fremde Hauswände besprühen.
aus: neues deutschland, 25.11.2017