Unlauter sind immer nur die anderen. Aus Sicht der EU zum Beispiel China. Das Reich der Mitte erlaubt sich doch glatt, seine Stahlkonzerne zu subventionieren und Sozialstandards und Umweltauflagen links liegen zu lassen. Sagt zumindest die EU und beklagt, dass der angeblich zu Dumpingkonditionen nach Europa exportierte chinesische Stahl einheimische Produzenten vom Markt fegt. Anti-Dumping-Regeln müssten also her. Gesagt, getan: Mitte November hat das Europaparlament diesen seinen Segen erteilt; das im März 2016 eingeleitete Gesetzgebungsverfahren ist damit abgeschlossen.
Der Vorgang ist ein Musterbeispiel, für die allenthalben waltende Doppelmoral in der Handelspolitik – und dafür, wie man mit positiv besetzten Begriffen Politik macht. Im Grunde hat die EU nämlich zu protektionistischen Maßnahmen gegriffen. Zu neuen wohl gemerkt, denn mit Importzöllen nimmt die EU Jahr für Jahr Milliarden ein, 2014 waren es 16 Milliarden Euro.
Protektionismus, Importzölle, Einfuhrbeschränkungen – ist das nicht Teufelszeug? Kritisieren Juncker, Merkel und Macron nicht bei jeder Gelegenheit, dass US-Präsident Trump mit seinen Schutzzöllen den liberalen Konsens aufkündigt? Dass allein der freie Handel zu Wachstum und Wohlstand führt?
Der Widerspruch zwischen Rhetorik und handelspolitischer Praxis ist eklatant. Natürlich bemüht sich die EU, diesen abzumildern. Negativ besetzte Worte wie Protektionismus und Schutzzölle tauchen in ihren Verlautbarungen nicht auf, stattdessen ist die Rede von Anti-Dumping-Maßnahmen und Schutzsystemen. China wird vorgeworfen, einen fairen Freihandel zu torpedieren.
Die Realität freilich sieht anders aus. Auch die europäische Handelspolitik ist wie überall eine Mischung aus Freihandel und Protektionismus. Allein in den europäischen Agrarsektor fließen 40 Prozent des EU-Haushalts. Subventionierte Agrarprodukte fluten die Märkte anderer Kontinente. Dortige Produzenten sind dieser Konkurrenz hilflos ausgeliefert. Fairer Freihandel? Eine Frage der Perspektive, der Wettbewerbsfähigkeit und des Profits.
Für Freihandel treten Kapitalfraktionen und ihre Staaten immer dann ein, wenn bestimmte Branchen der Konkurrenz auf dem Weltmarkt überlegen sind. Davor werden diese durch Einfuhrzölle geschützt. Historisch lässt sich das an früh industrialisierten Staaten wie Großbritannien, den USA oder Deutschland gut zeigen. England beispielsweise hat 150 Jahre lang Protektionismus betrieben, bis es den Schritt zum Freihandel vollzog. Für das Deutsche Reich und die USA waren protektionistische Maßnahmen die Voraussetzung für Industrialisierung und wirtschaftliche Entwicklung. Diese Mittel will man indes heutzutage anderen Staaten vorenthalten. Wo käme man auch dahin, wenn den deutschen Konzernen nicht die ganze Welt als frei zugänglicher Absatzmarkt zur Verfügung stünde?
Dass Europa und die USA jetzt wieder verstärkt zum Werkzeugkasten des Protektionismus greifen, hat damit zu tun, dass China das 21. Jahrhundert gehören wird. Seine Konzerne sind so stark geworden, dass bei bestimmten Stahlsorten oder Solarpaneelen europäische oder US-amerikanische Erzeuger vom Markt verdrängt werden können.
Infrage zu stellen ist aber noch eine weitere gängige Annahme: nämlich, dass Freihandel Wachstum und Wohlstand generiere, Protektionismus indes das Gegenteil. Der Hinweis darauf, dass Schutzölle Staaten erst in die Lage versetzten, sich zu industrialisieren, sprach bereits dagegen. Studien abseits der Mainstream-Ökonomie zeigen überdies, dass Freihandel und Globalisierung das globale Wirtschaftswachstum eher verlangsamt haben. Als Anfang der 1970er Jahre die Wechselkurse liberalisiert wurden, ließen sich zwar eine Expansion der Finanzsphäre und eine Umverteilung zugunsten der Kapitaleigner beobachten, die Wachstumsraten der Realökonomie nahmen hingegen ab. Selbst der als ideologischer Vordenker des Kapitalismus apostrophierte Adam Smith maß dem Außenhandel eine wenig positive Wirkung auf den »Wohlstand der Nationen« zu. Für ihn entscheidend: der Aufbau und die Erweiterung der nationalen Produktion. Insofern hatte er auch keine Probleme mit Handelsregulierungen.
Freihandel und Protektionismus – dieser scheinbare Gegensatz ist somit nur ein ideologisch aufgeladener. In der Realität sind stets beide Praktiken in unterschiedlicher Weise miteinander kombiniert. Geredet wird aber nur vom Freihandel, das kommt den Interessen der stärksten Kapitalfraktionen entgegen. Aus diesem Grund sprach die indische Wissenschaftlerin und Globalisierungskritikerin Vandana Shiva treffend vom »Freihandel als Protektionismus der Reichen und Mächtigen«.
aus: analyse und kritik Nr. 633, 12. Dezember 2017