Wie der Sozialismus fast in die Verfassung geriet

Vor 70 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft. Vergesellschaftungen befürworteten damals auch bürgerliche Parteien

Es hätte nicht viel gefehlt und ins deutsche Grundgesetz wäre eine Formulierung aufgenommen worden, die für eine »Bolschewisierung des geistigen und kulturellen Lebens« gesorgt hätte. So zumindest die Befürchtung des damaligen CSU-Politikers Gerhard Kroll. Er glaubte gar, dass eine »Kultur im echten Sinne überhaupt nicht mehr möglich sein« werde. (1) Das kann als antikommunistische Hysterie abgetan werden, aber fest steht: Hätte der Vorschlag zum Eigentumsbegriff, den das Redaktionskomitee des Grundsatzausschusses im Auftrag des Parlamentarischen Rats ausgearbeitet hatte, Eingang in das am 24. Mai 1949 in Kraft getretene Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gefunden, diese Republik sähe womöglich anders aus – und auch die gegenwärtige Debatte um Enteignungen von großen Immobilienkonzernen und Kollektivierungen von Autofirmen würde ganz anders geführt werden. Zugegeben, kontrafaktische Diskussionen über Geschichte sind müßig. Doch einen Zweck haben sie doch: Sie richten den Fokus auf eine geschichtliche Situation, in der aus emanzipatorischer Sicht – salopp formuliert – mehr drin gewesen wäre. Und sie machen so sensibel für das Unabgegoltene der Geschichte, das von den Herrschenden verschwiegen wird.

Worum ging es? Der Parlamentarische Rat, die Versammlung von elf deutschen Länderparlamenten der drei Westzonen, war im September 1948 in Bonn zusammengetreten. Im Auftrag der Militärgouverneure Frankreichs, Großbritanniens und der USA sollten sie als Verfassungsgebende Versammlung ein Grundgesetz verabschieden. Das tat der Rat auf Grundlage eines Entwurfs, der vor allem von Regierungsbeamten der Länder im August 1948 auf der Insel Herrenchiemsee erarbeitet worden war.

Diskussionen über den Eigentumsbegriff

Das mit der Formulierung beauftragte Redaktionskomitee des Parlamentarischen Rates hatte zum Eigentumsbegriff einen Entwurf vorgelegt, demzufolge sich der Grundrechtsschutz, also die unveräußerlichen, dauerhaften und einklagbaren Rechte, nur auf das der »persönlichen Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum« beziehen sollte. Das war eine das Eigentum stark einschränkende Formulierung, die den Besitz von Kapital, Konzernen oder Großgrundbesitz ausschloss. Sie war ohne Vorbild in der deutschen Geschichte, und selbst in den deutschen Landesverfassungen von 1946/47, die teils Sozialisierungen nicht nur ermöglichten, sondern geboten (dazu später mehr), war sie nicht enthalten. Und die Formulierung brach mit der des Herrenchiemsee-Konvents, in dem es schlicht wie in der Weimarer Reichsverfassung geheißen hatte: »Eigentum und Erbrecht werden gewährleistet«.

SPD-Politiker Carlo Schmid begründete im Grundsatzausschuss diese engere Fassung des Eigentumsbegriffs. Einerseits gehöre das Eigentum zum persönlichen Lebensbereich des Menschen und sei in dieser Eigenschaft »Substrat ethischen Verhaltens«, führte er aus. Andererseits sei Eigentum ein »Faktor der ökonomischen Verfassung eines Landes«. Nur das persönliche Eigentum wollte Schmid unter dem Schutz des Grundrechts stellen, das andere Eigentum lediglich unter dem Schutz des Gesetzgebers.

Was Schmid und die SPD der Nachkriegszeit damit beabsichtigten war klar und wurde von ihnen auch deutlich so benannt: Bei der »Definierung des Eigentums« müsse man darauf achten, dass weder Sozialisierung noch die Bodenreform erschwert würden, so etwa Walter Menzel, ebenfalls für die Sozialdemokraten Mitglied im Parlamentarischen Rat und damit einer der »Väter« des Grundgesetzes.

Sozialisierung galt in der unmittelbaren Nachkriegszeit als durchaus probates Mittel, um eine Wiederholung des Faschismus auszuschließen. Antifaschismus, Antimilitarismus und Antimonopolismus waren die Grundorientierungen jener Menschen im nach-nationalsozialistischen Deutschland, die sich einer neuen Demokratie verpflichtet fühlten. Das schloss die Frage ein, welche Wirtschaftsordnung in der anzustrebenden neuen Demokratie herrschen sollte. Der Kapitalismus offenkundig nicht. Denn die Großkonzerne hatten die Nazis teils offen unterstützt und von deren Regime enorm profitiert, was den Menschen unmittelbar nach dem Krieg eindrücklich vor Augen stand. Diese Ansichten schlugen sich auch in den ersten Leitsätzen und Programmen der neu gegründeten Parteien nieder, keineswegs nur in jenen der Arbeiterbewegung. So war in den Leitsätzen der CDU in Rheinland und Westfalen von der »Vorherrschaft des Großkapitals, der privaten Monopole und Konzerne« die Rede, die zu beseitigen wäre. (2) Und im Ahlener Programm der CDU der britischen Besatzungszone vom Februar 1947 hieß es: »Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.« Selbst die FDP stimmte in diesen Chor ein wenig ein. Gegen die »Übermacht der Überstarken« positionierte sie sich in ihren Programmatischen Richtlinien von 1946.

Übrigens war selbst der vor dem Bolschewismus warnende Gerhard Kroll nicht per se gegen Enteignungen. Aber: »Wir wollen nicht mehr enteignen, als zum Wohle der Allgemeinheit notwendig ist«, legte er seinen Standpunkt dar.

Sozialisierungsgebote in Länderverfassungen

Bei der antimonopolistisch-kapitalismuskritischen Grundstimmung blieb es nicht. Die politischen Parteien waren zwar unterschiedlicher Ansicht darüber, wie der ökonomischen Machtzusammenballung beizukommen sei – ob mit Entflechtungen, Überführung in Gemeineigentum oder einer Bodenreform. Trotz dieser Differenzen in der Ausgestaltung gab es in den ersten Nachkriegsjahren Mehrheiten in den Verfassungsgebenden Landesversammlungen für die Überführung bestimmter Wirtschaftszweige in Gemeineigentum. Resultat: Bis auf Hamburg sind in allen Länderverfassungen Ermächtigungen oder Gebote an den Gesetzgeber vorgesehen, einzelne Unternehmungen und Wirtschaftszweige in Gemeineigentum zu überführen. (3)

In Bremen, Hessen oder Nordrhein-Westfalen blieb es nicht bei Möglichkeiten, die Überführung wurde sogar geboten: In der Verfassung des Landes Hessen aus dem Jahr 1946 heißt es in Artikel 41: »Mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden 1. in Gemeineigentum überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen, 2. vom Staate beaufsichtigt oder verwaltet, die Großbanken und Versicherungsunternehmen und diejenigen in Ziffer 1 genannten Betriebe, deren Sitz nicht in Hessen liegt.« In einem Plebiszit zum Artikel 41 sprachen sich immerhin knapp 72 Prozent der Hess*innen für die Aufnahme desselben in die Verfassung aus; für die Verfassung insgesamt votierten 76,6 Prozent.

Nun ist Hessen keine sozialistische Exklave der BRD geworden. Die US-amerikanische Militärverwaltung sah vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion Vergesellschaftungsbestrebungen zunehmend kritischer und drang auf restriktivere Bestimmungen. CDU und FDP, die sich im Zuge des Kalten Krieges schnell von allem abwandten, was nach Sozialismus aussah, sorgten für die Verzögerung und Abschwächung des Sozialisierungsgebots. Ganz verhindern konnten sie Vergesellschaftungen allerdings nicht. In Hessen wurde Anfang der 1950er Jahre sozialisiert – gegen hohe Entschädigung. (4)

In anderen Landtagen wurde teils über konkrete Schritte der Sozialisierung debattiert und entsprechende Gesetze verabschiedet. In Nordrhein-Westfalen beschloss der Landtag im August 1948, die Kohleindustrie des Landes in Gemeineigentum zu überführen. Doch die britische Besatzungsmacht annullierte diesen Beschluss umgehend, obwohl die britische Regierung noch bis Mitte 1947 eine Übereignung der Kohlebergwerke an das neu gebildete Land beabsichtigt hatte. Vermutlich geschah die Annullierung auf Druck der USA.

Grundgesetz schreibt keine Wirtschaftsordnung vor

Die Militärbehörden der westlichen Besatzungsmächte hätten mit Sicherheit auch ein Grundgesetz mit einem Eigentumsbegriff zu verhindern gewusst, der sich nur auf die »persönliche Lebenshaltung« oder die »eigene Arbeit« bezieht. Ihnen wurde das ausgearbeitete Grundgesetz zur Absegnung vorgelegt. Doch so weit musste es gar nicht kommen: Nach der Diskussion wurde der Vorschlag des Redaktionskomitees vom Grundsatzausschuss mit Stimmengleichheit (6 : 6), also denkbar knapp, abgelehnt. Stattdessen wurde ein weiter Eigentumsbegriff festgeschrieben: »Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.« (Artikel 14, 1)

Nichtsdestotrotz fanden in das Grundgesetz Artikel Eingang, die die Ideen der unmittelbaren Nachkriegszeit widerspiegeln. In Artikel 14 (3) heißt es: »Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.« Vor allem aber ist der Sozialisierungs-Artikel 15 zu nennen: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.« Doch der Antimonopolismus ist nur noch als Möglichkeit grundgesetzkonformer Wirtschaftspolitik enthalten. Immerhin aber steht Artikel 15 dafür, dass das Grundgesetz keine bestimmte Wirtschaftsordnung vorschreibt. Das wurde vom Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigt. 1954 beschied es, dass eine freie Marktwirtschaft nach dem Grundgesetz möglich sei, aber »nicht die allein mögliche«. Und 1979 urteilte es, das Grundgesetz enthalte »keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung«. Der Jurist und Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth sah gar die Möglichkeit, das kapitalistische Wirtschaftssystem »mit gesetzlichen Mitteln und ohne Grundgesetzänderung durch Entscheidung der Majorität der Legislative …« in eine sozialistische Ordnung zu verwandeln. (5)

Freilich wurde der Artikel 15 in der Geschichte der Bundesrepublik nie angewendet; er geriet fast völlig in Vergessenheit. Bis er im Zuge der Zuspitzung der Mietenkrise in Berlin durch die Initiative Deutsche Wohnen und Co. sowie jüngst durch die Kollektivierungsforderungen des Jusovorsitzenden Kevin Kühnert aus dem Reich des Vergessens entrissen wurde. Auffällig ist jedoch, wie ahistorisch diese Debatte geführt wird. Wenn FDP-Generalsekretärin Teuteberg beispielsweise twittert, die SPD müsse dringend ihr Verhältnis zum Eigentum klären, verkennt sie, zweierlei: Kühnert ist nicht die SPD. Innerparteilich wird er ja ebenfalls stark kritisiert. Zudem sollte sie einmal ihr Verhältnis zum Grundgesetz prüfen. Dieses lässt Enteignungen und Sozialisierungen ausdrücklich zu. Zudem stand es rechtsgeschichtlich auf der Kippe, ob nicht doch ein enger Eigentumsbegriff in die Verfassung Eingang fand. Kein Wunder also, dass in der FDP wie unter liberalen Ökonom*innen jüngst die Stimmen erneut lauter geworden sind, Artikel 15 zu streichen oder diesen zu relativieren, sprich den Sozialismus aus dem Grundgesetz zu tilgen und dieses »kapitalistisch auf Vordermann zu bringen« (Heribert Prantl).

Anmerkungen:

1) Siehe Karlheinz Niclauß: Der Weg zum Grundgesetz. Demokratiegründung in Westdeutschland 1945-1949, Paderborn 1998, Seite 149.

2) Hans Karl Rupp: Vom Antifaschismus zum Antikommunismus. Die Begründung der Bundesrepublik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2009, Seite 79.

3) Rupp: Vom Antifaschismus …, Seite 83.

4) Es traf etwa die Hessischen Braunkohlen- und Ziegelwerke, Teile der Buderus-Werke Wetzlar und die Kasseler Verkehrsgesellschaft. Siehe Hans Karl Rupp: Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage, München 2009, Seite 63.

5) Siehe Wolfgang Abendroth: Das Grundgesetz, Pfullingen 1966, Seite 68.

aus: analyse & kritik 649 vom 21.5.2019

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