ielerorts ist es seit geraumer Zeit zu lesen: Der Markt und das Europäische Emissionshandelssystem (ETS) richten es doch! Die Preise für den Ausstoß von CO2 sind in letzter Zeit so stark gestiegen, dass sie den Betrieb von Kohlekraftwerken bald unrentabel machen würden – lange bevor laut Kohleausstiegsgesetz das letzte Kraftwerk 2038 seine Tore schließen wird.
Dabei galt das ETS seit seiner Einführung 2005 lange Zeit als völlig wirkungsloses Instrument zur Minderung der Kohlendioxidemissionen. Die Grundidee des ETS ist folgende: Wer klimaschädliche Gase in die Luft bläst, muss dafür bezahlen. Doch wenn stromintensive Industrie- und Energieunternehmen billig an Zertifikate kommen, können sie weitermachen wie bisher. Und genau das ist der Fall, weil ein Teil der Zertifikate von der EU verschenkt wird. Daher dümpelten die Preise für die Verschmutzungsrechte bei wenigen Euro herum, 2017 waren es noch fünf Euro pro Tonne. Doch seit 2018 steigen die Preise, jüngst überschritten sie sogar die 60-Euro-Marke.
Nun, so das Argument, könnte ein Punkt erreicht werden, an dem Unternehmen anfangen, in klimafreundlichere Techniken zu investieren. Und für die Braunkohleverstromung wird prognostiziert, dass sich diese bald nicht mehr lohnen würde. So erwarten Analyst*innen, dass noch dieses Jahr der Preis für den Ausstoß einer Tonne CO2 auf über 100 Euro steigen könnte. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung rechnet mit einem Ende der Kohleverstromung in Europa bis 2030. Sorgt der marktgetriebene Kohleausstieg daher für einen schnelleren Ausstieg als ordnungspolitische Vorschriften?
Ganz so leicht ist es nicht. Erstens ist der Grund für die Preissteigerung von CO2-Zertifikaten selbst Resultat einer politischen Vorgabe: Die EU hat beschlossen, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 um 55 statt 40 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. Deshalb sollen die Emissionszertifikate weiter verknappt werden. Darauf reagiert der Markt nun offenkundig. Übrigens sind auch spekulative Anleger*innen mit im Spiel, die Zertifikate in der Hoffnung auf steigende Preise halten.
Zweitens wurde im ersten Halbjahr 2021 trotz gestiegener Preise für die Verschmutzungsrechte mehr Kohle verstromt als im Vorjahreszeitraum. Laut Statistischem Bundesamt betrug dieser Anstieg 35,5 Prozent. Kohle machte damit 27,1 Prozent der insgesamt eingespeisten Strommenge aus. Insbesondere die Stromeinspeisung aus Windkraft war mit einem Rückgang über 21 deutlich niedriger als im 1. Halbjahr 2020. Ursache: vor allem die kühle und windarme Witterung. Die Braunkohle profitierte dabei auch vom deutlichen Anstieg des Preises für Erd- und Flüssiggas wegen der erhöhten Nachfrage aus Asien, wie die Agora Energiewende analysiert. Die Folge: Im Vergleich zu Gaskraftwerken habe sich die Aussicht auf Profite bei Braunkohlekraftwerken verbessert, weil Braunkohlestrom günstiger ist als Strom aus Gaskraftwerken.
Und viertens kommt hinzu, dass sich der Stromverbrauch im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum erhöht hat (2020 war er infolge des ersten Corona-Lockdowns gesunken) und wieder auf dem Niveau von 2019 ist. Infolgedessen stieg der Preis an der Börse auf bis zu sieben Cent pro Kilowattstunde (2020 waren es nur drei Cent). Das ermöglicht derzeit einen rentablen Betrieb der Kohlekraftwerke.
Somit ist keineswegs ausgemacht, ob der marktgetriebene Kohleausstieg noch vor dem politischen 2038 kommt, weil es die eine Stellschraube am Markt nicht gibt. Die Preise auf dem Zertifikatemarkt steigen zwar, aber andere Marktentwicklungen – z.B. höhere Preise für Gas – können diesen Anstieg hintertreiben. Und vor allem: Wenn der Ausbau von erneuerbaren Energien weiter stockt, könnte Kohlestrom doch wieder dafür herhalten, den prognostizierten erhöhten Energiebedarf infolge der Elektrifizierung der Mobilität etc. zu decken.
Für das Klima kommt 2030 oder 2038 ohnehin zu spät. 2021 werden die deutschen Emissionen gegenüber dem Vorjahr wieder erheblich ansteigen. Insofern führt der Fokus auf marktbasierte Klimaschutzinstrumente, wie er sich derzeit auch im Bundestagswahlkampf in der Diskussion um eine sozial gerechte CO2-Bepreisung äußert, in die Irre. Sie greifen – wenn überhaupt – zu spät und lassen viel wirksamere Maßnahmen außer Acht: Zum Beispiel die Abschaffung der milliardenschweren Subventionierung von fossiler Verstromung, den Ausbau erneuerbarer Energien oder die Diskussion, wie eine andere Produktions- und Lebensweise den Energie- und Ressourceneinsatz verringern könnte.
aus: analyse & kritik 674, 21.09.2021