Anstatt den Klimawandel abzumildern, kann der Handel mit CO2-Zertifikaten diesen sogar beschleunigen
Sie gelten als »die kulanteste Kreditkarte der Welt«: Zertifikate, mit denen sich Konzerne CO2-Emissionen gutschreiben lassen, weil mit dem überwiesenen Geld Wälder geschützt, aufgeforstet oder erneuerbare Energien gefördert werden. Kulant, weil Shell, VW oder Gazprom ihre Klimabilanz sofort aufhübschen können, der Gegenwert, die durch den Wald gebundene Menge an Kohlenstoff aber erst in vielen Jahrzehnten erreicht wird.
Kompensations- oder auch Offsettinggeschäfte dieser Art stehen seit langem in der Kritik. (1) Mitte Januar berichteten die Zeitungen Zeit und Guardian sowie die britische Investigativplattform Source Material über einen neuen systematischen Betrug. Es geht um den freiwilligen – nicht staatlich regulierten – Kompensationsmarkt, und im Zentrum des Skandals steht eine NGO namens Verra mit Sitz in Washington DC. Ihre Aufgabe ist es zu überwachen, dass ein CO2-Kompensationsgeschäft tatsächlich auch das leistet, was es verspricht: die Reduktion von Kohlenstoffemissionen. Verra zertifiziert CO2-Kompensationen, sie gibt die Regeln für das Offsetting vor. Mit einem Anteil von 75 Prozent aller Emissionen ist Verra ein ganz großer Player auf dem freiwilligen Kompensationsmarkt. Auf diesem sind neben dem Zertifizierer noch die CO2-Zertifikate kaufenden Unternehmen, Händler, die Zertifikate vermitteln und verkaufen, sowie Projektbetreiber beteiligt, die dafür sorgen, dass etwa ein Stück Regenwald erhalten bleibt. Alle Beteiligten verdienen viel Geld, es ist ein lukrativer Markt entstanden.
Ohne Kompensationsgeschäfte hätten die beteiligten Unternehmen, oft Konzerne aus der fossilen Industrie oder solche mit sehr hohen Emissionen, kaum eine Chance, dem Ziel der Klimaneutralität näher zu kommen. Denn de facto reduzieren sie ihre Emissionen nicht, sondern sie rechnen sie sich mit Aufforstungsprojekten oder Walderhaltungszertifikaten klein. Sie investieren weiter in fossile Erdgasprojekte, lassen immer mehr SUVs vom Band rollen oder werfen immer schneller neue Modekollektionen auf den Markt.
Über 90 Prozent der Zertifikate sind Schrott
Ein Blick auf die Zahlen der jüngsten Recherche zeigt ein fatales Bild. Demnach wurden jahrelang Millionen von Verra zertifizierte Papiere verkauft, ohne dass Kohlenstoff eingespart wurde. Die Journalist*innen haben 29 der 87 von Verra beaufsichtigten Waldschutzprojekte untersucht. Das Ergebnis: 94 Prozent aller Zertifikate seien »ein Haufen Schrott«, schreibt die Zeit und beziffert die CO2-Gutschriften, die es im Grunde nicht hätte geben dürfen, auf 89 Millionen Tonnen CO2. Das ist fast so viel, wie Belgien jährlich ausstößt. Zu den Unternehmen, die diese Papiere kauften, gehören neben anderen Shell, Gucci, Disney, Boeing, SAP und Bayer. Wohl gemerkt: Zwei Drittel der von Verra zertifizierten Projekte wurden noch nicht analysiert. Es ist davon auszugehen, dass sich auch hier Millionen von Phantompapiere verbergen.
Wertlose Zertifikate bei Waldschutzprojekten kommen so zustande: Ein Projektbetreiber setzt die Prognose darüber, wie viel Wald in den nächsten Jahren abgeholzt wird, viel zu hoch an. So können mehr Zertifikate generiert werden. Je pessimistischer die Einschätzung, desto mehr Profit lässt sich erzielen und um so mehr Möglichkeiten, die Klimabilanz aufzuhübschen. So zeigen die Recherchen, dass die Rodungsprognosen teilweise viermal höher lagen als in vergleichbaren Waldgebieten, und niemand hat diese Zahlen angezweifelt.
Beunruhigend ist, dass das Pariser Klimaabkommen die Wiederbelebung des UN-regulierten Kohlenstoffhandels zulässt
Laut einer Studie der Universität Cambridge aus dem Jahr 2022 wurde die Bedrohung der Wälder bei den Verra-Projekten im Durchschnitt um 400 Prozent überschätzt. Die Zeit bringt den Mechanismus dahinter auf den Punkt: »Ohne sie (die Verra-Regeln) ist ein Wald nur ein Wald. Mit ihnen ist ein Wald eine Zertifikate-Maschine, die all jene reich macht, die den angeblichen Klimaschutz an Konzerne verkaufen, die so ihre CO2-Bilanz kleinrechnen.«
Beim Schönrechnen bleibt es nicht: Der Glaube an die Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen andernorts führt dazu, dass Unternehmen (wie übrigens auch Privatpersonen, die ihren Flug nach New York kompensieren) so weitermachen wie bisher – anstatt ihr Geschäftsmodell (oder ihre Urlaubspläne) nicht nur auf dem Papier ökologischer auszurichten, sondern die Emissionen bei der Entstehung zu reduzieren.
Deshalb hält Kevin Anderson, Professor für Energie und Klimawandel an der Uni Manchester, selbst vermeintlich gute Kompensationsgeschäfte für schädlich. »Wenn Menschen glauben, dass ihre kohlenstoffintensiven Aktivitäten durch Kompensationen abgedeckt sind, haben sie keinen Anreiz, ihre Emissionen wirklich zu reduzieren, und das fördert die Fortsetzung und sogar Ausweitung kohlenstoffintensiver Aktivitäten.«
Die Märkte sind das Hauptproblem
Der Guardian schreibt: »Das Problem mit den Kohlenstoffmärkten ist, dass sie ein wilder Westen sind, sie sind unreguliert.« Dieses Urteil kratzt aber nur am Kern des Problems. Denn auch der staatlich regulierte Markt für CO2-Kompensationen, der mit dem Kyoto-Protokoll 1997 geschaffen wurde, ist ein Desaster. Auch die Mechanismen des Kyoto-Protokolls, Joint Implementation und Clean Development Mechanism (CDM), stehen seit langem in der Kritik. Im Gegensatz zur freiwilligen Kompensation sind Waldschutzprojekte hier ausgeschlossen – eben wegen ihrer Manipulationsanfälligkeit (zumindest bisher – dazu später mehr). Es geht meist um Klimaschutzmaßnahmen wie Aufforstung oder die Förderung erneuerbarer Energien. Doch auch diese Maßnahmen haben größtenteils nicht zur Emissionsminderung beigetragen. Das Stockholm Environment Institute zeigte, dass fast drei Viertel aller Joint-Implementation-Projekte gar keine oder weniger Emissionsreduktionen erzielten als angegeben. Und das Freiburger Öko-Institut kam zu dem Ergebnis, dass 85 Prozent der analysierten CDM-Projekte und 73 Prozent des potenziellen Angebots an zertifizierten Emissionsreduktionen für den Zeitraum 2013 bis 2020 eine geringe Wahrscheinlichkeit der »Zusätzlichkeit« aufwiesen, das heißt, die Projekte wären auch ohne die Zertifikate durchgeführt worden.
Die NGO Carbon Market Watch führt konzeptionelle Gründe für das Scheitern an. »Kompensationen können nur zu einem Nullsummenspiel führen.« Eine Tonne CO2 wird irgendwo emittiert und eine Tonne an anderer Stelle reduziert. Kompensationen könnten daher nicht zur langfristigen Emissionsreduktion eingesetzt werden und »sind nicht mit der Idee vereinbar, auf globaler Ebene Netto-Null-Emissionen anzustreben.«
Anders ausgedrückt: Wenn alle Länder und Konzerne ihre CO2-Emissionen irgendwo auf dieser begrenzten Erde kompensieren wollen, stellt sich die Frage, wo die Flächen dafür zur Verfügung stehen. Zumal sich mit dem Pariser Klimaschutzabkommen auch die einstigen »Entwicklungsstaaten« verpflichtet haben, ihren Klimagasausstoß zu reduzieren und die Restemissionen zu kompensieren. Die Folge: Das Potenzial von Offsetting schwindet. Allein um sich bis 2050 klimaneutral nennen zu können, bräuchte Shell eine Fläche von der dreifachen Größe der Niederlande.
Nimmt man hinzu, dass Aufforstungsprojekte häufig mit der vielfach gut dokumentierten Vertreibung von Indigenen und Landraub einhergehen, liegt es nahe, die CO2-Kompensation – in Anlehnung an David Harveys Theorem der »Akkumulation durch Enteignung« – als »Akkumulation durch Dekarbonisierung« zu bezeichnen. Adrienne Buller, Autorin eines Buches zur Kritik des grünen Kapitalismus, fasst die Elemente dieses Prozesses zusammen: »direkte Gewalt, Landraub, die Zerstörung der Lebensgrundlagen, neue Formen der Kommodifizierung und Finanzspekulation sowie die Aneignung eines unverhältnismäßig großen Anteils der atmosphärischen Kohlenstoffsenke und der weltweiten Ressourcen durch mächtige Unternehmen und die global Wohlhabenden«.
Sie spricht von einem »neokolonialen Bestreben«: Die Ressourcen und das Land von Staaten mit niedrigem Einkommen würden genutzt, um die Akkumulation und den Konsum in reicheren Regionen zu fördern. Die liberalen, kapitalistischen Staaten des Globalen Nordens, so schreibt sie, hätten mit der CO2-Bepreisung (und dem Offsetting wäre zu ergänzen) eine ideale Lösung für die widersprüchlichen Anforderungen gefunden, mit denen sie konfrontiert seien (dem Klimawandel zu begegnen und gleichzeitig den kapitalistischen Status quo zu bewahren), während kapitalistische Unternehmen einen neuen Weg gefunden hätten, ihren grundlegenden Drang nach Akkumulation zu befriedigen.
Die Schaffung von Märkten für Klimaschutz ist also das Problem, nicht dass sie unreguliert sind. Sie bereiten den Boden für Praktiken wie die kürzlich aufgedeckten. Selbst eine strenge Regulierung von Kompensationsprojekten würde dem Klima nichts bringen. Äußerst beunruhigend ist, dass das Pariser Klimaabkommen die Wiederbelebung des UN-regulierten Kohlenstoffhandels zulässt, obwohl er so magere Ergebnisse gebracht hat. Schlimmer noch: Künftig können Staaten selbst entscheiden, ob sie die spekulativeren Waldschutzzertifikate in ihre Klimabilanz aufnehmen. Der Einstieg der Staaten in das Geschäft mit der »kulantesten Kreditkarte« der Welt würde eine neue Runde im Greenwashing einläuten, Verra könnte sich einen noch größeren Markt erschließen.
aus: analyse & kritik 690, 21. Februar 2023