Seit einigen Jahrzehnten steigt die Migration aus afrikanischen Staaten nach Europa. Trägt auch die Außen- und Wirtschaftspolitik der EU dafür Verantwortung?
In der Hansestadt Hamburg versucht seit dem Frühjahr letzten Jahres eine Gruppe von Flüchtlingen auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Die MigrantInnen aus Afrika, die über die berühmt-berüchtigte italienische Insel Lampedusa nach Europa gelangten, verbinden das mit einer ungewohnt deutlichen politischen Kritik: „Wir haben nicht den NATO-Krieg in Libyen überlebt, um auf Hamburgs Straßen zu sterben“ steht in großen Lettern auf ihrem Info-Zelt.
Die doppelten Standards, mit denen die europäische Politik auf die von ihr mitverantworteten Flüchtlingsbewegungen aus afrikanischen Ländern reagiert, offenbart sich in Hamburg wie unter einem Brennglas: Einerseits greifen europäische Mächte wie Frankreich und Großbritannien an der Seite der USA zugunsten der sogenannten Rebellen in den libyschen Bürgerkrieg ein. Andererseits verschließen sie die Augen vor den dadurch ausgelösten und verstärkten Flüchtlingsströmen – und forcieren die Schließung der zu Recht als Festung kritisierten Europäischen Union. Besonders pietätlos: Wenige Tage nach der Schiffskatastrophe mit über 300 Toten vor Lampedusa im Oktober 2013 wurden in der Hansestadt durch einen SPD geführten Senat rassistische Ausweiskontrollen gegen Schwarze durchgeführt, um deren Abschiebung vorzubereiten. Und zur gleichen Zeit verabschiedete das Europaparlament das Überwachungssystem Eurosur, mit dem die Grenzschutzagentur Frontex die „illegale“ Migration nach Europa besser bekämpfen soll.
Der Schriftsteller Henning Mankell bezeichnete das „grausam, abweisende Lampedusa als das eigentliche Zentrum Europas“. Circa 19.000 Menschen verloren seit 1988 Schätzungen zufolge beim Versuch, diese Festung zu nehmen, ihr Leben. Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden.
Doch was sind jenseits von kriegerischer Gewalt die Ursachen für die seit wenigen Jahrzehnten stark angestiegene Migration aus afrikanischen in europäische Länder? Trägt die Politik der europäischen Staaten dafür Verantwortung?
Das tut sie durchaus – in dreifacher Hinsicht: Erstens durch die jahrzehntelange Unterstützung korrupter und autokratischer Regime sowie durch ihre Interventionen in Bürgerkriege, die – wie im Falle Libyens – zu Fluchtbewegungen führten (von den historischen mit der Kolonialzeit zusammenhängenden Ursachen nicht zu reden). Zweitens durch den von den industrialisierten Ländern verursachten Klimawandel, unter dem vor allem die Staaten des Globalen Südens zu leiden haben und drittens durch ihre Wirtschaftspolitiken, die die Lebensgrundlage von Kleinbauern in Afrika oder von Fischern zerstören. Der erste Aspekt sei an dieser Stelle vernachlässigt, stattdessen der Fokus auf die strukturellen Ursachen gerichtet. Durch den kaum greifbaren stummen Zwang ökonomischer und ökologischer Verhältnisse werden weitaus mehr Menschen zur Migration getrieben als durch politische Gewalt.
Fluchtgrund Nr. 1: Klima
Die europäischen Staaten sind zusammen mit den anderen industrialisierten Ländern zum größten Teil verantwortlich für den Ausstoß von CO2. Unter den so verursachten Folgen des Klimawandels, wie dem Anstieg des Meeresspiegels und der Zunahme von Extremwetterereignissen, leiden indes die Länder des Globalen Südens am meisten. Gerade Ost- und Westafrika sind dem fünften Bericht des Weltklimarates zufolge von Dürren betroffen. Auch weil die Ursachen von Migration aufgrund ökologischer und klimatischer Gründe zusammen mit weiteren Gründen ein Geflecht darstellen, variieren die Schätzungen über das Ausmaß stark. Die Zahlen reichen von 22 Millionen bis hin zu 50 und 150 Millionen MigrantInnen. Letztere Schätzung stammt von der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Sie geht allein für das Jahr 2008 von 20 Millionen Flüchtlingen aufgrund von Extremwetterereignissen aus – wegen kriegerischer Gewalt verließen 4,6 Millionen Personen ihre Heimat.
Auch die Vorhersagen unterscheiden sich: Bis 2050 soll es 250 Millionen Klima- und Umweltflüchtlinge geben, andere Prognosen legen noch höhere Zahlen zugrunde. Sicher ist hingegen, dass sich die Zahl der Umwelt- und Klimaflüchtlinge erhöhen wird. Es wird in Zukunft das häufigste Motiv der Migration sein. Der völkerrechtliche Status von Umweltflüchtlingen ist dabei bislang völlig ungeklärt. Im November 2013 scheiterte das Asylgesuch Ioane Teitiotas, eines Bewohners der Südseeinsel Kiribatis, vor einem neuseeländischen Gericht – und damit sein Bestreben, als erster Klimaflüchtling der Welt anerkannt zu werden.
Weder setzt sich die Europäische Union dafür ein, dem Umweltflüchtling im Völkerrecht einen Status zu verschaffen, noch bekämpft sie – trotz aller Rhetorik – in ausreichendem Maße die Ursachen des Klimawandels. So verzögert sie auch die Reform des Emissionshandelssystems, das sich als unwirksam erwiesen hat. Selbst von dem einst gesteckten Ziel, Vorreiterin der Energiewende zu sein, ist die EU inzwischen abgerückt, wie ein Strategiepapier ihrer Kommission belegt. Brüssel will die europäischen Mitgliedsstaaten nun nicht mehr darauf verpflichten, verbindliche Ausbauziele für Photovoltaik, Windkraft und Biomasse festzuschreiben. Was das bedeutet? In letzter Konsequenz die Schaffung von mehr Fluchtbeweggründen und damit auch die Erhöhung des Risikos, dass sich Schiffskatastrophen wie jene vom Oktober wiederholen. Genau davor hatten verschiedene Stimmen aus den Entwicklungsländern gewarnt. Pa Ousman Jarju, Sprecher der am wenigsten entwickelten Staaten (LDC) bei den UN-Klimaverhandlungen, sagte, dass zwar noch nicht klar sei, ob die Verunglückten tatsächlich Klimaflüchtlinge seien. Doch davon unabhängig werde es ernsthafte Konsequenzen haben, wenn die reiche Welt damit fortfährt, Treibhausgase auszustoßen und die Klimaversprechungen zu brechen. In Europa ist man aber nicht einmal bereit, diesen Zusammenhang einzugestehen. Das Internet-Magazin EurActiv stellte entsprechende Anfragen an EU-Behörden zur Verknüpfung von Klimawandel und Migration – und erhielt keine Antwort.
Freihandel durchsetzen
Der wichtigste Aspekt bei der von der EU betriebenen Außenwirtschaftspolitik ist die Durchsetzung des Freihandels gemäß der Prinzipien der neoliberalen Globalisierung. Einer der Gründe für die blockierte Entwicklung in Afrika ist vor allem, wie die EU Lebensmitteltransporte subventioniert. Ob man das nun neokolonial nennt, ist zweitrangig. Zuletzt wies die NGO Germanwatch in ihrer dritten Trendanalyse zur globalen Ernährungssicherung darauf hin, dass die EU-Agrarpolitik das Hungerrisiko in armen Ländern erhöht. Steigende Billigexporte von Fleisch und Milchprodukten aus der EU entziehen Bauern und Bäuerinnen in Entwicklungsländern ihre Existenzgrundlage. Sie machen eine eigenständige Nahrungsmittelversorgung zunichte. Germanwatch dazu: Es kann nicht Aufgabe Europas sein, Massen von Lebensmitteln für den Export in arme Länder zu produzieren. Allein die Geflügelexporte aus Deutschland nach Afrika haben sich zwischen 2011 und 2012 mehr als verdoppelt, Quelle: Eurostat. Das kritisiert Francisco Mari, er ist Agrarhandelsexperte von Brot für die Welt. Mari: „Deutsches Fleisch und EU-Fleisch verdrängt auf immer neuen Märkten die einheimischen Tierhalter. Besonders Kleinbäuerinnen in Afrika werden auf diese Weise zusätzlicher Einnahmen aus dem Geflügelverkauf beraubt.“
Immerhin: Die verheerenden Auswirkungen der EU-Politik werden mitunter auch von EU-RepräsentantInnen eingestanden. Mitte Januar äußerte Landwirtschaftskommissar Dacian Ciolos die Absicht, Subventionen von europäischen Exporten nach Afrika restlos abzuschaffen. In den vergangenen Jahren wurden sie bereits reduziert. Ob Ciolos sich durchsetzt, bleibt abzuwarten. Die strukturelle Übermacht europäischer Unternehmen, die Afrikas Entwicklung hemmt, bliebe aber dennoch bestehen – auch wenn es Ciolos gelingt, sich durchzusetzen.
Das liegt auch an den EPA, das sind die so genannten Wirtschaftspartnerschafts-Abkommen, die die EU derzeit mit afrikanischen, karibischen und pazifischen Ländern (AKP-Staaten) verhandelt; unter Androhung von Sanktionen übrigens. Jenseits der wohlfeilen Rhetorik versucht Brüssel mit diesen Staaten, Handelsbeziehungen zu ihren Gunsten neu zu regeln. Grundprinzip ist dabei die Ausweitung des Freihandels. Für Staaten mit schwächeren ökonomischen Entwicklungsniveaus bedeutet das, dass ihre Entwicklungschancen blockiert werden. Ablassé Ouédraogo, der ehemalige stellvertretende Generaldirektor der Welthandelsorganisation, kritisiert, dass nach sieben Jahren vergeblicher Diskussionen Europa nun versucht, die EPAs mit Zwang statt Dialog durchzusetzen. „Würden die Abkommen in ihrer derzeitigen Form tatsächlich in Kraft treten, würden sie den AKP-Staaten die wichtigsten politischen Instrumente, die sie für ihre Entwicklung benötigten, verwehren“, fürchtet Ouédraogo.
Verwehrte Entwicklung – dieser abstrakte Begriff bedeutet konkret, dass zum Beispiel Kleinbauern und -bäuerinnen ihrer ökonomischen wie sozialen Existenzgrundlage beraubt werden, in die Slums der Dritten Welt ziehen – oder eben gezwungen sind, den Weg nach Europa zu wagen.
Die Werkzeuge eines Krieges
Insofern ist die Unterscheidung zwischen Asyl- und Wirtschaftsflüchtlingen, wie sie häufig erfolgt, höchst problematisch. Sie verkennt, dass eine Differenzierung zwischen Flucht aus politischen und wirtschaftlichen Gründen angesichts eines globalisierten kapitalistischen Weltsystems nicht vorgenommen werden kann. Angesichts des stummen (und gelegentlich offenen) Zwangs der kapitalistischen Zentren, durch eine Freihandelspolitik die Integration der sogenannten Dritten Welt in den Weltmarkt zu erzwingen, sind „Wirtschaftsflüchtlinge“ immer auch das Resultat von politischen Entscheidungen. Zumal, wenn sie durch aufgezwungene wirtschaftliche Strukturanpassungsprogramme erfolgt, die durch Liberalisierung, mehr Markt und weniger staatliche Sozialleistungen viele Entwicklungsländer überhaupt erst zu Nahrungsmittelimporteuren gemacht haben.
Pointiert zusammengefasst hat das Aminata Traoré, die frühere Koordinatorin des Entwicklungsprogramms der UN: „Die menschlichen, finanziellen und technologischen Mittel, die das Europa der 25 Staaten gegen die Migrationsströme aus Afrika einsetzt, sind in Wahrheit die Werkzeuge eines Krieges zwischen dieser Weltmacht und wehrlosen jungen Afrikanern, deren Recht auf Bildung, wirtschaftliche Information, Arbeit und Nahrung in ihren Herkunftsländern unter der strukturellen Anpassung vollkommen missachtet wird.“ Als Opfer makroökonomischer Entscheidungen, für die sie in keiner Weise verantwortlich sind, würden sie vertrieben, verfolgt und gedemütigt, sobald sie einen Ausweg in der Emigration suchten.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die europäische Sicht auf Migration einigermaßen verquer ist.
Nicht die Zerstörung der Existenzgrundlage von afrikanischen Kleinbauern und -bäuerinnen gilt als Problem, die durch Welthandel, EU-Exportsubventionen und Klimawandel forciert wird, sondern die Migrationsbewegung aus Afrika. Statt der Plünderung der Fischgründe vor den Küsten Somalias durch europäische Trawler geraten die Piraten in die Schlagzeilen, die durch Militäreinsätze bekämpft werden. Der Globalisierung das Wort zu reden und dadurch ausgelöste Migration zu ignorieren, passt nicht gut zusammen.
(aus: MO – Magazin für Menschenrechte #34)