Unentbehrliche Kapitalismuskritik

Alexander Amberger: Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2014. 329 S., geb., 39,90 €.

Wachstumskritik erfreut sich im Zuge der globalen Finanzkrise größerer Beliebtheit. So begrüßenswert das ist, so bedauerlich ist, dass marxistische Ansätze in ihr kaum Beachtung finden. Marxisten spielen in der sogenannten Degrowth-Bewegung kaum eine Rolle; auch linksradikale Gruppen halten sich zurück. Prägend sind in der in Frankreich Décroissance genannten Kritik überwiegend grüne und linksalternative Milieus. Das war mal anders.

Die erste Welle der Wachstumskritik gab es vor über vierzig Jahren, ausgelöst durch die Publikation des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums 1972. Und in dieser waren sehr wohl Marxisten involviert – vor allem auch dissidente aus der DDR. Wolfgang Harichs 1975 veröffentlichtes Buch »Kommunismus ohne Wachstum«, Rudolf Bahros »Die Alternative« von 1977 und Robert Havemanns »Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg« aus dem Jahr 1980 zeichnen sich dadurch aus, dass sie die durch die Wissenschaftler um Dennis L. Meadows aufgezeigten ökologischen Grenzen des Wirtschaftswachstums ernst nehmen – und eine ökologische Revision des Marxismus anstreben.

Alexander Amberger unterzieht das Denken dieser drei prominenten Dissidenten einer genauen Analyse. Zwar tut er dies in erster Linie mit einer utopietheoretischen Fragestellung. Er möchte wissen, ob die Texte zu dem sogenannten Genre der postmateriellen Utopien gehören? Darunter versteht Amberger Utopiekonzepte, die die Dezentralisierung von Politik und Wirtschaft, die positive Rolle der Arbeit als individueller, emanzipatorischer Akt sowie die Abkehr von überflüssigem Konsum und Luxus etc. zu ihren zentralen Bestandteilen zählen.

Zunächst hebt der Verfasser hervor, dass die Utopisten Harich, Bahro und Havemann sich als Marxisten verstanden. Das ist insofern bemerkenswert, als der Marxismus und insbesondere die offizielle Weltanschauung der DDR – der Marxismus-Leninismus – abschätzig über Utopien urteilte. Friedrich Engels Schrift »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« gab diese Sicht vor. Utopien stammten aus der vormarxschen Zeit und galten als unwissenschaftlich. Zudem lebte man ja schon im Sozialismus, wozu da noch Utopien? Innerhalb der Opposition in den realsozialistischen Staaten standen die drei infolgedessen nahezu allein da, stellt Amberger fest.

Der Autor unterscheidet zwischen archistischen und anarchistischen Utopien. Während Harich in »Kommunismus ohne Wachstum« sehr starke autoritäre Tendenzen zeigte und somit zur archistischen Utopietradition zählt (wovon er sich später distanzierte), sind Havemann und Bahro eher der anarchistischen Tradition zuzurechnen. Ambergers Fazit nach einer sehr detaillierten Paraphrase der drei Schriften sowie ihrer Rezeptionsgeschichte in Ost- wie Westdeutschland: »Sie waren nicht primär postmateriell, sondern setzten sich vor allen Dingen mit der Ökologie auseinander.«

Viel mehr als im US-amerikanischen Utopiediskurs habe für die drei Denker aus der DDR die Wachstumsfrage eine große, wenn auch nicht die zentrale Rolle gespielt. Präziser sei daher der Begriff »Postwachstumsutopie« in Bezug auf die Texte von Bahro, Harich und Havemann. Das mache deren Texte hochaktuell. Sie seien anschlussfähig an den aktuellen Postwachstumsdiskurs. Das trifft in der Tat zu.

Obwohl Amberger keinen Vergleich mit aktuellen wachstumskritischen Texten vornimmt, fällt auf, dass Harich und Genossen bereits zentrale Argumente der heutigen wachstumskritischen Bewegung formulierten. Insofern ist es unerfreulich, dass ihre Schriften nicht rezipiert werden. Von der DDR-Hülle befreit, könnten sie noch heute fruchtbar sein, gerade weil der dominante Degrowth-Diskurs zu wenig kapitalismuskritisch ist. Schade, dass nur wenige marxistische Theoretiker das ökosozialistische Potenzial von Harich, Bahro und Havemann zu schätzen wissen.

Dass die ökologischen Frage von Marxisten (abgesehen von der marginalen ökosozialistischen Strömung) noch zu stiefmütterlich behandelt wird, liegt sicher daran, dass mit einigen liebgewonnenen und unverrückbar feststehenden Annahmen gebrochen werden müsste, etwa mit dem Diktum vom »Wachstum der Produktivkräfte«. Marx schrieb aber auch: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«

Ambergers Buch liefert somit auch gute Argumente für eine Revision des Marxismus unter ökologischen Prämissen und für den Anschluss an den wachstumskritischen Diskurs. Darüber hinaus ist es ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der marxistischen Opposition in der DDR.

aus: neues deutschland, 6.2.2015

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