Lightning Bolts neues Album ist ihre vielleicht beste Platte – und ihr Beispiel verrät etwas über linke Musikrezeption
Als der Rock ’n’ Roll nach Deutschland kam, war er gefährlich. In Hamburg, Essen und Berlin kam es bei Konzerten von Bill Haley Ende der 1950er Jahre zu Massenschlägereien und Polizeieinsätzen.
Die »Zeit« schrieb damals von vom Rock’ n’ Roll-Wahnsinn befallenen Jugendlichen, von einer »Meute, die unter den Zuckungen von Rock ’n’ Roll fest entschlossen ist, alles über den Leisten zu hauen«. Und missverstand so kathartisch und schädigende Aggression.
Musik ist auch eine Frage der Hörgewohnheit. Schon wenige Jahre später war nicht mehr nachvollziehbar, warum der Rock ’n’ Roll der Anfangsjahre so ein Aufsehen erregte. Anfang der 1980er Jahre indes ging von US-amerikanischen Hardcore-Punk-Bands scheinbar eine ähnliche Gefahr aus. Konzerte von den Dead Kennedys oder Black Flag wurden von der Polizei aufgelöst.
Diese Beispiele zeigen, welche Kraft und Aggressivität von musikalischen (und subkulturellen) Phänomenen ausgehen kann. Der verstorbene linke Popkritiker Martin Büsser schrieb mit Blick auf Phänomene wie die des US-Hardcore oder des Free Jazz Mitte bis Ende der 1960er Jahre: »Die Tatsache, dass es immer wieder einmal für eine kurze Zeit innerhalb des Kapitalismus gelungen ist, nonkonforme musikalische Avantgarde wie auch intensive, den ganzen Körper durchdringende Power-Musik als Teil einer linken Ästhetik zu erleben und zu leben, zeigt, dass es alleine auf die Bereitschaft seitens der Linken ankommt, sich mit ästhetischen Fragen auseinanderzusetzen.«
Diese ästhetische Auseinandersetzung freilich erfolgt zu selten. Zumeist hört die Linke vergleichsweise konventionelle Musik, die sich allein durch die politischen Texte auszeichnet. Franz-Josef Degenhardt, Ton Steine Scherben, Slime oder Wir sind Helden – bei ihnen kommt die Politik nur über die Texte ins Spiel. Anders bei der atonalen Zwölf-Tonmusik, beim Free Jazz eines Peter Brötzmann oder bei aktuellen Noise-Musikern. Hier ist die politische Bedeutung im musikalischen Material selbst enthalten. Insbesondere bei der aus Providence/USA stammenden Avantgarde-Noiserock-Band Lightning Bolt liegt das auf der Hand. Nirgendwo sonst ist die Aggressivität der Rockmusik gegenwärtig besser spürbar als bei diesem Duo. In ihrer Musik, so könnte man mit Büssers argumentieren, verbinden sich auf dialektische Weise die zwei legitimen musikalischen Ausdrucksformen, die die durch den Kapitalismus hervorgebrachten Deformationen ausdrücken und bewusst machen können: Dissonanz als Ausdruck von Schmerz und Antagonismus einerseits sowie Entgrenzung, die eine Ungezügeltheit als Ahnung von einer befreiten Gesellschaft vermittelt, andererseits.
Schlagzeuger Brian Chippendale und Bassist Brian Gibson machen seit rund 20 Jahren zusammen Musik. Spätestens mit ihrem Album »Wonderful Rainbow« haben sie einen Sound gefunden, der den Hörer tatsächlich denken lässt, er sei vom Wahnsinn befallen. Es kann passieren, dass der Hörer sich mit wild zuckenden Armen vor der Musikanlage wiederfindet und den Lautstärkeregler immer weiter nach oben schiebt. Lightning Bolts Sound ist ultra-aggressiv, super-schnell und mega-verzerrt. Er klingt aber weder nach Metal noch nach Hardcore-Punk, obwohl ihre Musik von diesen Genres beeinflusst ist. Durch die Hinzunahme von Noise-Elementen entsteht eine völlig eigenständige Musik, die den Hörer physisch ergreift und aufputscht.
Die Intensität von Lightning Bolt entfaltet sich freilich erst live voll. Ihre Konzerte spielen sie nie auf der Bühne, sondern mitten im Konzertraum, um sie herum steht kreisförmig das Publikum. Ohne Höhenunterschied, unmittelbar konfrontiert mit der Band, wird klar, dass es tatsächlich nur zwei Musiker sind, die diesen »Wall of Sound« produzieren. Bis dato galten ihre Alben stets als Annäherungsversuche, dieses Liveerlebnis auf Tonträger zu bannen. Obwohl ihre Alben auch ohne die Erfahrung eines ihrer Konzerte einzigartige Hörerfahrungen sind.
Auf ihrem neuen, erst sechstem Album sind die Musiker nun anders vorgegangen. Zum ersten Mal sind sie in ein professionelleres Musikstudio gegangen. Und das hört man »Fantasy Empire« an. Der Sound ist weniger Lo-Fi, das Schlagzeug ist facettenreicher und Chippendales Gesang teilweise verständlich. Es handelt sich um die Krönung ihrer musikalischen Zusammenführung von Atonalität und Avantgarde zum einen sowie Intensität und körperlicher Entgrenzung zum anderen. Im Gegensatz zur vom Establishment wahrgenommenen Gefährlichkeit des Rock ’n’ Roll in den 1950er Jahren oder des Punk entfaltet ihre Musik indes keine breite Wirkung, obwohl Hunderte zu ihren Konzerten kommen und sie in Kritiker- und Musikerkreisen großen Respekt genießen. Ihre Musik ist schlicht zu radikal und im Gegensatz zum musikalisch relativ simplen Punk, der eine ganze Welle von Bandgründungen auslöste, kann sie nicht so einfach reproduziert werden.
Lightning Bolt: Fantasy Empire (Thrill Jockey/Rough Trade)
aus: neues deutschland, 4.4.2015