Wachstumskritik ist mehr als Konsumkritik

Elmar Altvater über Friedrich Engels, dessen Schrift über die »Dialektik der Natur« und die ökologische Frage

Sie haben gerade ein Buch über Engels nachgelassene Schrift über die »Dialektik der Natur« geschrieben. Was war Ihre Motivation?
Elmar Altvater: Erstens sollte Engels, dessen Tod sich 2015 zum 120. Mal jährt, gewürdigt werden. Zweitens sollte besonders seine vor 90 Jahren posthum erschienene Schrift über die Dialektik der Natur in die Debatte um einen »ökologischen Marxismus« eingebracht werden. Die kapitalistische Gesellschaft, ihre Dynamik und ihre Krisen sind nur zu begreifen, wenn nicht nur die Formveränderungen der Arbeit und die der Nichtarbeit, der formellen und informellen Arbeitslosigkeit, oder wenn die geschlechtsspezifischen Aspekte der Arbeit berücksichtigt werden. Auch das Wert- und Geldverhältnis verändert seine Form; Resultat ist das hypertrophe Finanzwesen im modernen finanzgetriebenen Kapitalismus, das unser aller Leben durcheinanderwirbelt.
Und dann dürfen wir nicht vergessen, dass alles Wirtschaften, das Alltagsleben und die menschliche Reproduktion in der Natur stattfinden. Wenn wir die Natur nicht berücksichtigen, verstehen wir von der kapitalistischen Entwicklung und Krisenhaftigkeit bestenfalls die Hälfte. Die Naturbedingungen von Produktion, Konsumtion und Reproduktion müssen also berücksichtigt werden. Der Doppelcharakter der Arbeit muss ernst genommen werden, heute mehr als zu den Zeiten von Marx und Engels, weil wir den Kipppunkten von ökologischen Systemen viel näher sind, wenn wir sie nicht schon wie Klimatologen meinen, längst überschritten haben. Die »Dialektik der Natur« muss also heute in eine moderne »Kritik der Politischen Ökonomie« aufgenommen werden. Da können, ja da müssen wir von Friedrich Engels lernen – was nicht bedeutet, dass sein unvollständiges Werk zur »Dialektik der Natur« 1 zu 1 übernommen würde. Doch bietet es viele Anregungen, die ein tieferes Verständnis der Marxschen Wert- und Akkumulationstheorie ermöglichen.


Zur Person

Elmar Altvater ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und Autor. Außerdem ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Über sein jüngstes Buch »Engels neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die ›Dialektik der Natur‹ und die Kritik von Akkumulation und Wachstum« (VSA: Verlag) sprach mit ihm Guido Speckmann.


Friedrich Engels steht bei einigen Linken, die sich intensiv mit den Marxschen Schriften auseinandersetzen, nicht hoch im Kurs. Woran liegt das?
Das ist die Folge einer sehr engen »neuen« Marx-Lektüre. Marx hat sich bekanntlich bei Engels Rat geholt und beide haben das Kommunistische Manifest verfasst. Trotzdem wird Engels z. B. in einem Buch über die »neue Marx-Lektüre« nicht erwähnt. Der Verfasser Helmut Reichelt ist ein ausgewiesener Marx-Kenner, weiß aber Engels Bedeutung für die moderne Entwicklung der Marx’schen Theorie nicht zu würdigen. Dafür ist wohl der Horror vor einer Historisierung der Begriffe von Wert, Wertbildung, Verwertung und Kapital verantwortlich. Es geht in erster Linie um die Wertform und deren begriffliche Analyse. Dazu hat die »neue Marx-Lektüre« zweifelsohne einen wichtigen Beitrag geleistet, indem der Blick auf die Formen von Wert, Geld und Kapital gelenkt wurde. Dadurch ist es möglich geworden, die komplexen Vergesellschaftungsprozesse im Kapitalismus in ihrer doppelten Struktur zu begreifen: Vergesellschaftung vollzieht sich durch Arbeit und durch Geld. Dass alle diese Prozesse der Produktion einer allgemeinen Ware auch materiell und förmlich an die Natur gebunden sind, rückt dabei in den Hintergrund. Kein Wunder, dass prominente Vertreter der »neuen Marx-Lektüre« vom »Doppelcharakter der Arbeit«, den Marx als den »Springpunkt« der Analyse bezeichnet, nicht viel halten.

Sie sprechen vom sogenannten Kapitalozän. Was bedeutet das und was hat Engels damit zu tun?
Engels benutzt diesen Begriff nicht und er ist bislang in den Sozial- und Naturwissenschaften eher randständig. Er ist von dem Umwelthistoriker und Geographen Jason Moore in Binghampton (USA) und von mir eingeführt worden, um die globalen Umweltkrisen – Klimakollaps, Vernichtung der Artenvielfalt, Ende des fossilen Zeitalters – in ihrer welthistorischen Bedeutung begreifen zu können. Geologen haben seit einigen Jahrzehnten den Begriff des Anthropozän geprägt, um damit deutlich zu machen, dass heute die Menschen nicht nur ihre eigene, sondern auch Erdgeschichte machen. Der Alternativbegriff des Kapitalozän ist präziser. Denn nicht die Menschen machen Erdgeschichte, sondern die Menschen in kapitalistischer Vergesellschaftung mit institutionalisiertem technischem Fortschritt, einer kapitalistischen Kultur der Weltbeherrschung, mit dem Zugriff auf fossile Energieträger, die die Erde aus einem gegenüber der Strahlenenergie der Sonne offenen Energiesystem in ein geschlossenes Energiesystem verwandelt haben. Menschen haben immer in die Natur eingegriffen, aber die Reichweite der Eingriffe war nie so groß, dass Erdsysteme verwandelt wurden. Das erst haben die Menschen in kapitalistischer Produktionsweise geschafft.

Und Engels?
Engels hat auf die Notwendigkeit verwiesen, alle sozialen und natürlichen Prozesse in einem »dialektischen Gesamtzusammenhang« von Natur und Gesellschaft zu sehen. Dieser Gesamtzusammenhang hat heute, anders als zu Engels Zeiten, planetarische Reichweite.

War Friedrich Engels ein Wachstumskritiker?
Er war es. Nur ein Zitat aus dem Anti-Dührung zum Beleg: »Die kapitalistische Produktionsweise kann nicht stabil werden, sie muss wachsen und sich ausdehnen, oder sie muß sterben…Ihre Lebensbedingung ist die Notwendigkeit fortwährender Ausdehnung, und diese fortwährende Ausdehnung wird jetzt unmöglich. Die kapitalistische Produktion läuft aus in eine Sackgasse.« Allerdings war Wachstumskritik zu Engels Zeiten weniger dringlich als »die soziale Frage«, die Engels in seinem Jugendwerk über die Lage der arbeitenden Klasse in England vorbildlich bearbeitet hat. Viele Soziologen und Sozialhistoriker haben sich an diesem Werk ein Beispiel genommen. Dennoch war für Engels die Naturfrage immer zentral und daher hatte er einen Sensor für Überlastungen der Natur und das theoretisch-begriffliche Instrumentarium für Wachstumskritik.

Was kann Engels den heutigen Wachstumskritikern sagen?
Dass Wachstumskritik als Kritik der Akkumulation von Kapital konzipiert werden muss. Wachstum kann und muss dialektisch im Rahmen des gesellschaftlichen und natürlichen Gesamtzusammenhangs des Kapitalismus theoretisch anspruchsvoll und politisch tragfähig analysiert und in politische Alternativen umgesetzt werden. Wachstumskritik ist mehr als Konsum- oder Lebensweisenkritik, die sich einzelne zu Herzen nehmen können oder auch nicht. Sie ist Gesellschaftskritik oder wirkungslos.

Sie schreiben, dass Engels mit seinen naturwissenschaftlichen Studien die Kritik der politischen Ökonomie von Marx bereichert hat. Was waren Engels Erkenntnisse und wie sieht diese Bereicherung aus?
Engels hat gezeigt, dass der Doppelcharakter der Arbeit, also der »Springpunkt« der Analyse des Kapitals auch im 21. Jahrhundert seine Bedeutung hat, dass die Naturform ebenso wichtig in der Kapitalismusanalyse und -kritik ist, wie die Gesellschaftsform. Politisch verändernde Praxis, Klassenkampf beziehen sich auf Ökonomie, Gesellschaft, Politik und zugleich auf die Natur. Der Kampf um Löhne, Arbeitsbedingungen, öffentliche Güter ist wichtig, aber nicht wichtiger als der Kampf zum Schutz der Biosphäre, des Klimas und der natürlichen Gemeingüter.

Woran liegt es, dass die Dialektik der Natur, beziehungsweise die ökologische Frage bei gegenwärtigen Marxisten und Linken eher stiefmütterlich behandelt wird?
Die ökologische Frage ist auch bei Nicht-Marxisten erst in jüngster Zeit in den Vordergrund gerückt, und im ökonomischen Mainstream ist sie immer noch nicht angekommen. Diese Ignoranz, die auch die Politik bestimmt, ist eine große Gefahr. Denn wir haben bereits einige der sogenannten »planetary boundaries«, der planetarische Grenzen gerissen. Wir bewegen uns mit ungestümer Wachstumsdynamik auf einen Abgrund zu. Zu Marx und Engels Zeiten war der noch gar nicht sichtbar, und dennoch wussten beide, dass dieser droht, wenn nicht der kapitalistischen Dynamik Einhalt geboten wird.

aus: neues deutschland, 7.4.2015

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