Warum geht es mir so dreckig?

Entfremdungskritik wird wieder geübt. Doch sie müsste neue Impulse aufnehmen.

In seinem jüngsten Buch fordert der wohl einflussreichste lebende Marxist, David Harvey, seine Leser auf, sich eine Welt vorzustellen, in der der Tauschwert, das Streben nach Geldmacht und entfremdete Verhaltensweisen wie kompensatorischer Konsum eingeschränkt wären. Würden wir nicht in einer humaneren Welt mit weniger sozialer Ungleichheit, Korruption und Unterdrückung leben?, fragt er in »Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus«. Das mag man bejahen. Doch wie kommt man dahin? Wie sind die vielen zersplitterten Oppositionsgruppen »zu einer einheitlichen, solidarischen und antikapitalistischen Bewegung zusammenzuschließen«? Wie kann eine kollektive politische Subjektivität entstehen, die sich um einen Grundbegriff herum bildet? Harvey macht einen Vorschlag. Und dieser lautet: Entfremdung.

Entfremdung – der Begriff hat eine schillernde Geschichte! Lassen wir zumindest den marxistischen Teil der Diskussion Revue passieren, um zum Schluss auf Harveys Gedanken zurückzukommen.

Obgleich Karl Marx den Begriff bereits in den 1840er Jahren verwandte, ist er in der marxistischen Tradition lange unbekannt geblieben. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Die entscheidende Marxsche Schrift – die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« von 1844 – wurden zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht. Der junge Marx im Pariser Exil hatte sie in Auseinandersetzung mit u.a. Hegel zur eigenen Selbstverständigung geschrieben. Erst 1932 erblickten die auch Pariser Manuskripte genannten Werke im Rahmen der Edition der Marxschen Frühschriften das Licht der Öffentlichkeit. Sie sorgten für gehörigen Wirbel – und wurden zu einem Schlüsseltext der Kritischen Theorie um Adorno, Horkheimer, Fromm und Marcuse. Denn hier offenbarte sich ein Marx, der, so sollte es Ernst Bloch formulieren, den »Wärmestrom des Marxismus« verkörperte. Will heißen, Marx zeigte sich hier nicht kühl analysierend auf die Ökonomie, sondern leidenschaftlich auf den »erniedrigten, geknechteten, verlassenen, verächtlich gemachten Menschen« fixiert.

Ein längeres Marx-Zitat muss in Erinnerung gerufen werden – auch weil es für die Entfremdungsdiskussion bis heute wichtig und seine Aktualität offenkundig ist: Worin bestehe nun die Entäußerung der Arbeit, fragt Marx in den Pariser Manuskripten, und antwortet: »Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen.«

Marx’ Unterscheidung von vier Dimensionen der entfremdeten Arbeit (vom Produkt der Tätigkeit, von der Tätigkeit, vom menschlichen Gattungswesen und von sich selbst), kann hier nur benannt werden. Wichtiger als die detaillierte Wiedergabe ist die Diskussion, die sich an dem Begriff Entfremdung im Marxismus entzündete. Gibt es Entfremdung nur in der Produktionssphäre des Kapitalismus, wie es die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« nahelegen? Oder ist Entfremdung ein Phänomen, das die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse umfasst, wie es der von Marx in seinem Hauptwerk »Das Kapital« beschriebene Warenfetischismus oder Termini wie Vergegenständlichung oder Verdinglichung andeuten? Wie ist das Verhältnis der Marxschen Frühschriften und seinen späteren ökonomischen Schriften in Bezug auf die Entfremdung zu bestimmen? Gab es einen Bruch, eine Kontinuität? Vieles spricht dafür, dass Marx, obwohl er den Begriff Entfremdung immer weniger benutzte, von der Sache an sich nicht ließ. Vielmehr löste er sich vom philosophischen Gehalt des Begriffs und konkretisierte ihn sozioökonomisch.

Bis in die 1980er Jahre war Entfremdungskritik en vogue. Mit der Implosion des Realsozialismus, der sich im Übrigen mit dem Begriff sehr schwer tat, schwand für einige Zeit auch die Hoffnung auf eine Alternative zum Kapitalismus – und damit auf das, was das Gegenteil eines entfremdeten, missglückten Lebens darstellt: gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die für alle Menschen ein gelungenes Leben ermöglichen.

Doch nicht zuletzt die tatsächliche Zunahme oder zumindest die erhöhte Sensibilität für psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Burn-out haben die Entfremdungskritik in den letzten Jahren wieder stärker in den Fokus gerückt. Das liegt auch daran, dass der neoliberale Kapitalismus mit seiner Ökonomisierung immer weitere gesellschaftliche Bereiche und intime Beziehungen dem Kosten-Nutzen-Kalkül unterwirft. Und auf diese Weise immer mehr Entfremdungserfahrungen produziert. Die Pflegerin muss im Minutentakt wie am Fließband ihre Arbeit verrichten, für soziale Zuwendung bleibt keine Zeit. Kein Wunder, dass beim Pflegepersonal schon früh Burn-outs diagnostiziert wurden. In anderen Berufen hingegen scheint die Entfremdung auf den ersten Blick aufgehoben zu sein – und entpuppt sich auf den zweiten als Verschärfung derselben. Der Angehörige einer Firma, so das Versprechen der Managementrhetorik, könne sich in seiner Arbeit selbst verwirklichen, seine Emotionen und Kreativität mit einbringen. Der Zwang zur Identifizierung verhindert indes die Abgrenzung, wie sie zu anderen Zeiten mit dem Spruch »Das ist nicht mein Job« einmal üblich war. Heute soll alles zum Job, zum Unternehmen gehören. Was aber, wenn der Angestellte in der nächsten Krise auf die Straße gesetzt wird? Nicht nur muss er einen anderen Job finden, er muss seine ganze Persönlichkeit neu erfinden – er leidet stärker.

Die ungebrochene Aktualität der marxistischen Entfremdungskritik zeigt sich für die Konsumsphäre noch von unerwarteter Seite: von der sogenannten ökonomischen Glücksforschung. Diese erfährt seit wenigen Jahrzehnten eine ungeahnte Konjunktur. Ihre zentrale Einsicht lautet: Nur bis zu einem bestimmten Einkommensniveau/Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf geht die Steigerung des materiellen Wohlstands mit einem Mehr an Glück und Lebenszufriedenheit einher. Darüber hinaus stagniert das Glücksempfinden der Befragten. Das zeigen eindrucksvoll die Beispiele Japan und USA, wo Zufriedenheits-Befragungen bereits seit dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt werden. In den USA hat sich das reale BIP pro Kopf seit 1945 mehr als verdreifacht, doch das Glücksempfinden der Bevölkerung blieb – exakt gleich. In Japan ist das noch eindrücklicher. Dort versechsfachte sich das BIP pro Kopf, während die Befragungen ein konstantes Glücksempfinden ergaben.

Die Ursache hierfür ist einfach: Solange es um die Befriedigung von existenziellen Bedürfnissen wie Ernährung, Kleidung, Wohnen etc. geht, steigert das Einkommen der Bevölkerung die Lebenszufriedenheit deutlich. Sind diese Bedürfnisse gesättigt, vollzieht sich der Übergang zum Statuskonsum. Der Konsument möchte sich durch den Kauf des neuesten iPhone von anderen abheben. Das möchten indes Abertausende auch. Die erhoffte Befriedigung hält nicht lange an – das Glücksempfinden wird im nächsten Konsumakt neu zu wecken versucht. Der Angestellte, in der Arbeit entfremdet, strampelt sich zudem in der »Tretmühle des Glücks« (M. Binswanger) als Konsument ab. Die Glücksforschung zeigt somit, dass die in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten immer noch weit verbreitete Ansicht, wonach mehr Wirtschaftswachstum mit mehr Einkommen, Wohlstand, Glück und Lebenszufriedenheit einhergeht, längst mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Man kann die Glücksforschung somit als kulturkritische Seite der aktuellen Wachstumskritik bezeichnen (vgl. »Das moderne Opium des Volkes«, »nd« vom 22.11.2013).

Um auf David Harvey zurückzukommen: Er plädiert in seinem Buch für einen säkularen revolutionären Humanismus, »um der Entfremdung in ihren vielen Erscheinungsformen entgegenzuwirken und die Welt aus den Fängen des Kapitalismus zu befreien«. Der Philosoph Christoph Henning, der soeben ein Buch über Entfremdung veröffentlicht hat (siehe Spalte), ergänzt Harvey gewissermaßen. Für ihn gibt es keinen Grund, den Entfremdungsbegriff in der Philosophie und der Sozialtheorie noch länger zu verschmähen. Dieser sei in der Lage, »dass diffuse seelische Leiden an Phänomenen wie Eizellspenden, einer Kommerzialisierung von weiblicher Reproduktionsarbeit, von Fremd-Aneignungen von Kreativität im Internetbereich, Belastungen in Call-Centern und überkommenen sozialen Ausgrenzungen überall in der Welt näher aufzuschließen«.

Allerdings wären die Impulse der Glücksforschung aufzugreifen, um eine Aktualisierung der Entfremdungskritik in der Marxschen Tradition leisten zu können. Erst dann könnte, um eine Formulierung von Herbert Marcuse zu gebrauchen, der Glücksanspruch – mithin die Utopie eines nicht-entfremdeten Lebens – wieder einen gefährlichen Klang für die herrschende Ordnung bekommen.

aus: neues deutschland, 21.11.2015

 

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