Passend zur Weltklimakonferenz in Paris liegt erstmals ein Buch des belgischen Ökosozialisten Daniel Tanuro auf Deutsch vor
Zwei Nachrichten von Mitte November: Der Klimawandel könnte einer Studie der Weltbank zufolge in den nächsten 15 Jahren zusätzlich 100 Millionen Menschen in die Armut stürzen. Am härtesten betroffen wären die ohnehin schon ärmsten Regionen in der Welt – Afrika südlich der Sahara und Südasien, heißt es in dem Report »Shock Waves«.
Die zweite: Die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre hat laut Weltorganisation für Meteorologie 2014 einen neuen Höchststand erreicht. Es müsse »jetzt« gehandelt werden, um die Treibhausgasemissionen zu verringern, sagte ihr Chef Michel Jarraud.
Der Handlungsappell ist selbstverständlich zuvorderst an die Staatenlenker dieser Welt gerichtet. Diese treffen sich Ende November zur Weltklimakonferenz in Paris. Warum aber ist trotz Klima- und Umweltpolitik der vergangenen Jahre so wenig passiert? Warum werden mehr Treibhausgase in die Luft geblasen, so dass das Ziel, die Erderwärmung auf zwei Grad mehr gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu beschränken, in weite Ferne rückt?
Fundierte Erklärungen darauf gibt der Belgier Daniel Tanuro in seinem Buch »Klimakrise und Kapitalismus«. Mit dem Titel ist die Marschrichtung bereits vorgegeben. Der Agraringenieur und Ökosozialist Tanuro, von dem bis dato nur wenige Aufsätze auf Deutsch in linken Zeitschriften erschienen sind, ist in der marxistischen Tradition verwurzelt. Insofern lautet sein Kernargument: Der Kapitalismus will immer mehr: mehr Waren, mehr Rohstoffe, mehr Wachstum sowie ein höheres Bruttoinlandsprodukt. Doch nicht die Gier der Kapitalbesitzer, sondern der sich aus der Konkurrenz der verschiedenen Unternehmen ergebende Zwang zur Expansion sei für den »beispiellosen Produktivismus« verantwortlich.
Angesichts dessen liegen Tanuros Vorschläge für die Lösung der Klimakrise in den entwickelten kapitalistischen Staaten auf der Hand. In Europa und den USA muss weniger und näher an den Verbrauchern produziert, weniger transportiert und weniger konsumiert werden. Das sei »eine notwendige Bedingung für ein besseres Leben«, das weniger sinnlos, weniger stressig, weniger hektisch ist, schreibt der Autor.
Das erinnert an die aktuelle Wachstumskritik. Doch diese kritisiert der Autor, der auch Gründer der belgischen Nichtregierungsorganisation »Klima und soziale Gerechtigkeit« ist: Sie würde einem Kapitalismus ohne Wachstum das Wort reden – eine Unmöglichkeit. Stärker noch als die Degrowth-Bewegung kritisiert Tanuro die traditionelle sozialistische Linke. Im schlimmsten Fall ignoriere sie das Klimaproblem, im besseren verhalte sie sich defensiv oder verweise auf die Zeit nach der Revolution. Dagegen setzt Tanuro: »Die Änderung der Besitzverhältnisse schafft nur die notwendige Voraussetzung für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel, unter Einbeziehung substantieller Änderungen gesellschaftlicher Formen des Konsums und der Mobilität.«
Tanuro begibt sich auf eine noch höhere Abstraktionsebene und kritisiert die Webfehler des Marxismus in Energie- und Ökologiefragen. So habe Marx nicht zwischen Fließ- und Vorratsenergie unterschieden. Seine Argumentation mündet in der Forderung, nicht die Ökologie in den Sozialismus, sondern den Sozialismus in die Ökologie zu integrieren.
In weiteren Kapiteln kritisiert Tanuro die herrschenden Klimainstrumente, die mit dem Kyoto-Protokoll eingeführt wurden. Schade ist, dass für die deutsche Übersetzung die Erkenntnisse des Fünften Weltklimaberichts nicht eingearbeitet wurden.
Daniel Tanuro: Klimakrise und Kapitalismus. A. d. Franz. v. Paul B. Kleiser und Ulla Varchmin. Neuer ISP Verlag. 181 S., br., 19,80 €.
aus: neues deutschland, 21.11.2015