Zehn Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise lassen EU-Politiker wichtige Reformen fallen
Die Lehren sind vergessen. So scheint es zumindest, wenn man sich drei europäische Vorhaben ansieht, mit denen eine Wiederholung des Finanzcrashs von 2008 verhindert werden sollte. Eine Finanztransaktionssteuer (FTS) sollte Tempo aus den Finanzmärkten nehmen, eine Trennung von Investment- und Kreditgeschäft sollte Banken anhalten, sorgsamer mit dem Geld ihrer Kunden umzugehen. Und Regeln für Verbriefungen sollten verhindern, dass diese Finanzinstrumente wie 2007 zum Ausgangspunkt einer tiefen Wirtschaftskrise werden.
Bei der Finanztransaktionssteuer erweist sich ausgerechnet der als Retter Europas gefeierte französische Präsident als gewöhnlicher Nationalist. Nach seiner Wahl wurde schnell klar, dass Emmanuel Macron nicht viel an der FTS liegt, die bislang von elf europäischen Staaten – darunter Frankreich – angestrebt wurde. Sein Motiv dabei: Finanzinstitute aus dem Brexit-bedrohten Großbritannien nach zu Paris locken. Unlängst präsentierte Macron ein neues Vorhaben – eines indes, das die Steuer zum zahnlosen Tiger macht. Denn dem ehemaligen Investmentbanker zufolge soll sie auf den Aktienhandel begrenzt werden. Derivate, abgeleitete Finanzprodukte, oftmals Wetten auf die Entwicklung von Rohstoffpreisen und anderen Finanzindizes, sollen ausgenommen bleiben.
Das ist in mehrfacher Hinsicht ein herber Rückschlag für die FTS, die nicht nur die Turbulenzen an den Finanzmärkten mildern sollte, sondern den Staaten auch neue Steuereinnahmen bescheren würde. Zum einen hatte Macrons Vorgänger François Hollande den Einschluss der Derivate akzeptiert. Zum anderen macht der Umsatz mit diesen den größten Anteil an den Finanzmärkten aus – und vor allem ist der Handel mit abgeleiteten Finanzinstrumenten weitaus risikoreicher als der mit Aktien.
Macrons Steuer wäre somit nicht einmal eine ultralighte FTS, sie wäre lediglich eine Börsenumsatzsteuer. »Macron verkauft sich als großer Europäer, hat aber nur die französischen Universalbanken im Sinn, die besonders in Derivate investierten und durch ihre Größe und Vernetzung ein Systemrisiko sind«, kritisiert Fabio De Masi, Europageordneter der Linken.
Still und heimlich werden wichtige Vorhaben gekippt
Was in den USA nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 schon einmal recht erfolgreich war, sollte nach 2008 auch in der Europäischen Union durchgesetzt werden: Das spekulative Investmentbanking sollte organisatorisch vom Geschäft der Bank mit Kundengeldern und der Kreditvergabe getrennt werden. Auf diese Weise sollte dafür Sorge getragen werden, dass die Geldhäuser nicht die Ersparnisse ihrer Kunden für den Handel mit Wertpapieren missbrauchen. In den USA galt von 1933 bis 1999 der sogenannte Glass-Steagall-Act, der genau diese Trennung vorsah. Während dieser Zeit gab es deutlich weniger pleitebedrohte Banken.
Die EU-Kommission schrieb 2014 in einen Verordnungsentwurf, dass die Ausfallrisiken für Kunden und Steuerzahler eben durch die organisatorische Trennung von Investment und klassischem Bankgeschäft zu minimieren seien. Damit sollte auch das Problem systemrelevanter Banken (too big to fail) gelöst werden, dass also große Banken, die die Wirtschaft mit in den Abgrund ziehen können, erneut auf Kosten aller Steuerzahler gerettet werden.
Insbesondere Christdemokraten im Europaparlament wollten die sogenannte Banken-Struktur-Verordnung ad acta legen. Sie setzen sich nun durch. Die EU-Kommission zog ihren Verordnungsentwurf zurück. Und zwar so still und heimlich, dass die zuständigen Abgeordneten in Straßburg davon zunächst nichts mitbekamen. Das »Handelsblatt« zeigt sich erstaunt angesichts des winzigen Hinweises im neuen Arbeitsprogramm der Kommission, wonach das Trennbanken-Gesetz nicht weiterverfolgt werden soll: »Offenbar soll möglichst niemand etwas davon bemerken, wenn ein wichtiger Gesetzentwurf der EU-Kommission scheitert.«
Politische Amnesie
Kritisch zu sehen ist auch die jüngste Entscheidung des Europaparlaments zur Verbriefung von Wertpapieren. Ende Oktober segnete es ein Vorhaben der EU ab, mit der der Kapitalmarkt in der Europäischen Union belebt werden sollte. Wichtigstes Instrument hierbei sollen Verbriefungen sein. Dabei handelt es sich um die Bündelung von zum Beispiel Hypothekendarlehen oder Autokrediten, die dann in handelbare Wertpapiere umgewandelt werden. Problem dabei: Die Bündelung wird schnell unübersichtlich. Niemand weiß, ob die neuen Wertpapiere nicht zahlreiche faule Kredite enthalten. Das war 2007 der Fall, als das Vertrauen in verbriefte US-Immobilienkredite schwand und daraus letztlich der Crash ein Jahr später erwuchs.
In der Folge brach der Markt für Verbriefungen diesseits und jenseits des Atlantiks stark ein. Das soll sich nun ändern. Die EU-Kommission will den Markt für Verbriefungen wieder ankurbeln – freilich mit Auflagen. STS sollen sie sein: sicher, transparent, standardisiert. Die Politiker versprechen sich davon, dass Geldinstitute von Risiken entlastet werden und wieder mehr Kredite an die Wirtschaft vergeben. Das setzt allerdings voraus, dass Unternehmen ihren Bedarf nach Krediten zurzeit nicht decken können. Das ist nicht der Fall. Liquidität ist im Zeitalter niedriger Zinsen und Aufkaufprogramme der Europäischen Zentralbank massig vorhanden. Was fehlt, ist die Renditeaussicht, die Investitionen in die Realwirtschaft rechtfertigen würde.
Von »politischer Amnesie« und einer vertanen Chance zur Reduzierung des Risikos aus Verbriefungen spricht Sven Giegold, wirtschafts- und finanzpolitischer Sprecher der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament, angesichts der Entscheidung des Europaparlaments. »Die neuen Regeln führen nur scheinbar zu mehr Sicherheit, verhindern aber nicht die unkontrollierte Verbreitung wenig verstandener Risiken im Finanzsystem.« Denn ohne einen höheren Risiko-Selbsterhalt, die Pflicht, dass Banken beispielsweise ein Viertel der Risiken aus verbrieften Krediten in ihren Büchern behalten müssen, machten Verbriefungen keinen Sinn. Zumal angesichts sich häufender Berichte, dass sich derzeit bei der Verbriefung von US-Autokrediten eine neue Krise im Markt für Kreditnehmer mit geringer Bonität (Subprime) anbahnt – mit einem vergleichbaren Bedrohungspotenzial wie bei der Subprime-Krise im Immobiliensektor vor zehn Jahren.
Haben die Politiker die Lehren aus der letzten Krise, so unzureichend sie auch von vorneherein waren, nur schlicht vergessen? Sicher nicht. Empörung über die Sozialisierung der Verluste der Großbanken und Druck seitens der Öffentlichkeit haben sich inzwischen gelegt. So konnte sich eine beharrliche Lobbypolitik seitens der Finanzwirtschaft durchsetzen, die höhere Renditen auf das eigene Kapital stärker gewichtet als die Stabilität des Finanzsystems.
aus: analyse & kritik Nr. 632