Über die entlastende Wirkung eines neuen Mantras
Wer bietet mehr, wer hat noch nicht: Auf der klimapolitischen Weltbühne ging es in den letzten Monaten zu wie auf einer Auktion. Gegenstand der Begierde: die Klimaneutralität. Die EU will sie bis 2050, Großbritannien, Kanada, Japan und Südkorea ebenso. Und was war der Jubel groß, als der neue US-Präsident Joe Biden ankündigte, die USA ebenfalls ab 2050 klimaneutral wirtschaften lassen zu wollen. Nur China lässt sich etwas länger Zeit: Erst 2060 soll die „Netto-Null“ stehen, neben Treibhausgasneutralität das Synonym für Klimaneutralität. Und mit diesem Ziel stehen die Staaten nicht allein: Schon vor längerer Zeit sind Unternehmen, Ölmultis, Versicherer, Finanzkonzerne und Kommunen auf den Zug der Klimaneutralität aufgesprungen. Es gibt klimaneutrale Milch im Supermarkt, es kann klimaneutral getankt werden und selbstverständlich werden die online bestellten Waren klimaneutral zugestellt. Binnen kürzester Zeit ist der Begriff der Klimaneutralität zu dem prägenden Wort des Klimadiskurses avanciert, das wie ein Mantra völlig unreflektiert vor sich hingebetet wird – jetzt sogar von der SPD in ihrem Wahlkampfslogan „Sozial. Digital. Klimaneutral“.
Dieser muntere Bekenntnis-Reigen dürfte entscheidend von den neuen klimapolitischen Bewegungen Fridays for Future und Extinction Rebellion mitangestoßen worden sein. Auch sie streben Netto-Null-Emissionen an, allerdings schon bis 2035 beziehungsweise 2025. Zudem spielte das UN-Klimasekretariat eine wichtige Rolle, als es im Juni letzten Jahres die internationale Kampagne Race to Zero ausrief. Deren Ziel ist es, die CO2-Emissionen bis 2050 auf Netto-Null zu senken, also Klimaneutralität zu erreichen.
Die Liste der Unterstützer liest sich beeindruckend: Der Netto-Null-Initiative haben sich 120 Länder, 23 Regionen, 454 Städte, 1397 Unternehmen, 74 der größten Investoren und 569 Universitäten angeschlossen. Zusammen decken diese Akteure fast 25 Prozent der globalen CO2-Emissionen und über 50 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes ab, heißt es auf der UN-Website.[1] Und der globale Wettlauf um die Klimaneutralität soll nicht bloße Rhetorik bleiben: Bis zur UN-Klimakonferenz in Glasgow im November sollen alle Teilnehmer von Race to Zero einen Plan mit Zwischenzielen vorlegen, wie sie die Klimaneutralität bis zur Mitte des Jahrhunderts erreichen wollen.
Wird der Klimaschutz jetzt also endlich von den Entscheidungsträgern ernst genommen? Null Emissionen mehr, Produkte und Dienstleistungen, die neutral sind, also keine Auswirkung auf das Klima haben – das hört sich in der Tat gut an. Doch bisher ist die globale Klimapolitik die Geschichte der Verkündung von hehren Zielen, die jedoch nie erreicht wurden. Gerade deshalb lohnt es sich, den so wohlklingenden Begriff der Klimaneutralität genauer unter die Lupe zu nehmen.
Die Entstehung der »grünen« Netto-Null
Das englische Adjektiv carbon-neutral wurde bereits 2006 in den USA vom „New Oxford American Dictionary“ zum Wort des Jahres gewählt. Die Auszeichnung reflektierte den damaligen, vorwiegend auf individuelle Handlungen abzielenden Gebrauch des Wortes: Demnach sollen eigene Aktivitäten wie Autofahren oder Fliegen durch Aufforstungsprojekte oder Investitionen in erneuerbare Energien ausgeglichen werden. In der Begründung hieß es damals: „Die zunehmende Verwendung des Wortes ‚klimaneutral‘ spiegelt nicht nur die Ökologisierung unserer Kultur wider, sondern auch die Ökologisierung unserer Sprache.“[2]
Die globale Verwendung des Wortes „klimaneutral“ begann eine knappe Dekade später, mit dem UN-Rahmenübereinkommen über Klimaänderungen von 2015, bekannt als Pariser Klimaabkommen. Zwar taucht der Terminus im Vertrag selbst nicht auf, doch während der Verhandlungen zu diesem scheint er verstärkt verwendet worden zu sein.[3] Im Abkommen wird das Phänomen in Artikel 4.1 als „Gleichgewicht zwischen den anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen aus Quellen und dem Abbau solcher Gase durch Senken“ umschrieben. In UN-Statements und anderen für die Öffentlichkeit verfassten Dokumenten ist dann mit ausdrücklichem Hinweis auf das Paris-Abkommen von Treibhausgas- oder Klimaneutralität die Rede. Noch 2015 wurde vom UN-Klimasekretariat die Initiative Climate Neutral Now initiiert, um die im Paris-Vertrag avisierte Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Insofern hat das Paris-Abkommen die Treibhausgasneutralität zum Ziel aller globalen Klimapolitik gemacht.
Wie aber sollen die weltweiten Zu- und Abflüsse von Treibhausgasen in ein Gleichgewicht gebracht werden? Die Initiative Climate Neutral Now bringt es auf den Begriff: durch Messen, Reduzieren und Kompensieren (Measure, Reduce, Offset). Im Klartext: Der sogenannte CO2-Fußabdruck soll ermittelt und die Treibhausgase sollen, soweit es geht, reduziert werden – und jene, die „gegenwärtig nicht vermieden werden können“, sollen mit von den Vereinten Nationen zertifizierten Kohlenstoffgutschriften ausgeglichen werden. Zum Beispiel, indem ein deutscher Kraftwerksbetreiber die Aufforstung von Wäldern in anderen Ländern finanziert. Dieser Ansatz geht einerseits davon aus, dass es letztlich egal ist, wo die emittierten Treibhausgase neutralisiert werden. Schließlich wirken diese global, weshalb der Ausgleich dort stattfinden könne, wo das einfach und kostengünstig möglich ist. Andererseits liegt der Annahme, CO2 überhaupt kompensieren zu können, eine gleichermaßen naturwissenschaftliche wie marktkompatible Perspektive zugrunde. Diese geht davon aus, dass Emissionen gemessen, addiert, bilanziert und gehandelt werden können. Voraussetzung für das Kompensieren ist somit ein globaler Markt für Verschmutzungsrechte. Dieses komplexe Geflecht aus Klimaschutztransaktionen, Zertifizierungen und Monitoring entstand bereits 1997 – mit dem Kyoto-Protokoll.
Emissionen kompensieren – oft sogar mit gegenteiligen Effekten
Grundsätzlich gibt es zwei Arten der Kompensation: die freiwillige auf individueller und Unternehmensebene und die auf staatlicher Ebene im Rahmen des Kyoto-Protokolls. Die Mechanismen des Kyoto-Protokolls, Joint Implementation und Clean Development (CDM), stehen indes massiv in der Kritik.
Denn finanzstarken Akteuren in den frühindustrialisierten Staaten werde es auf diese Weise ermöglicht – so der erste Kritikpunkt –, sich vor der Reduktion der eigenen Emissionen zu drücken. Stattdessen sollen messbare Mengen freigesetzter Kohlenstoffe durch das Verhindern potentieller Kohlenstoffemissionen im globalen Süden ausgeglichen werden. Klimaschutz wird somit bloß verlagert. Große Konzerne und mächtige Staaten erkaufen sich das Recht, die Umwelt weiter zu verschmutzen und können im Grundsatz weitermachen wie gehabt. Der Ansatz, Emissionen hierzulande mit Emissionen anderswo auszugleichen, negiert zudem den gesundheitsschädigenden Charakter von Emissionen. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben global jedes Jahr 4,2 Millionen Menschen vorzeitig, weil sie Luft einatmen mussten, die von Autos, Kohlekraftwerken, Fabriken und der industriellen Landwirtschaft verschmutzt wurde. Andere Studien gehen gar von über 8,7 Millionen Toten aus. Und die Hauptursache für die schlechte Luft ist zugleich auch jene für den Klimawandel, nämlich die Verbrennung fossiler Brennstoffe.
Kritikpunkt Nummer zwei: Die Kompensationsprojekte setzen zudem eine globale soziale Spaltung voraus, sprich: unterschiedliche Niveaus bei Industrialisierung, Energieverbrauch und Entwicklung. Stünden dagegen alle Staaten auf einer vergleichbaren „Entwicklungsstufe“, würde es kaum noch Potentiale für Kompensationen geben. Denn Industrialisierung geht stets mit Landnutzungsänderungen und Flächenverbrauch sowie einem erhöhten Energie- und Ressourcenverbrauch einher, in dessen Folge Moore und Wälder, also Kohlenstoffsenken, verschwinden – und damit auch die Möglichkeit der Kompensation.
Hinzu kommt drittens: Da sich im Pariser Klimaabkommen fast alle Staaten – nicht nur wie im Kyoto-Protokoll lediglich die Industriestaaten – dazu verpflichtet haben, ihre Emissionen zu reduzieren und die verbliebenen zu kompensieren, schwindet das Potential der Kompensationsprojekte weiter – immer vorausgesetzt, dass sich die Vertragsstaaten an ihre Minderungsziele halten. Zusätzliche Emissionsreduktionen könne es nicht geben, wenn die Länder bereits ihr Maximum tun, so die NGO Carbon Market Watch in einer Analyse. „Kompensationen können nur zu einem Nullsummenspiel führen“, lautet das Fazit. „Denn eine Tonne CO2 wird irgendwo emittiert, und eine Tonne wird irgendwo anders reduziert. Sie können daher nicht zur langfristigen Emissionsreduktion eingesetzt werden und sind nicht mit der Idee vereinbar, auf globaler Ebene Netto-Null-Emissionen anzustreben.“[4]
Anders ausgedrückt: Wenn alle Länder irgendwo auf dieser begrenzten Erde ihre CO2-Emissionen kompensieren sollen, stellt sich die Frage, wo das nötige Außen liegen soll, an dem dies noch möglich ist.
Der vierte Kritikpunkt an den Kompensationen ist der Zeitverzug: In dem Moment, wo das Zertifikat über eine CO2-Reduktion gehandelt wird, ist der Effekt des Ausgleichs noch Zukunftsmusik.[5] Um es an einem sehr beliebten „Deal“ zu verdeutlichen: Fliege ich von Frankfurt nach New York und kompensiere das mit der Finanzierung einer Aufforstung in Chile, werden die Bäume erst viele Jahre später CO2 aufnehmen. Auch muss gewährleistet sein, dass die Bäume für mindestens hundert Jahre, der Verweildauer von Kohlenstoff in der Atmosphäre, vor Rodungen geschützt sind. Zudem führen Aufforstungsprojekte und der marktkonforme Waldschutz im Rahmen der sogenannten REDD-Programme zu Konflikten um Landnutzungsrechte im globalen Süden, deren Leidtragende häufig Indigene sind.[6] Überdies stellt sich die Frage, wer sich das Aufforstungsprojekt letztlich anrechnen kann und wird? Lufthansa – und damit der deutsche Staat, in dem Lufthansa seinen Hauptsitz hat? Oder Chile, das Land, in dem die Aufforstung tatsächlich durchgeführt wird? Die Gefahr der Doppelzählung ist – das zeigt die bisherige Erfahrung – sehr real und wird auch bei den Kompensationsmechanismen im Pariser Klimaabkommen fortbestehen.[7]
Das wohl wichtigste und zudem problematischste Kriterium bei Kompensationsprojekten ist schließlich – fünftens – die erforderliche Zusätzlichkeit. Wäre der Wald in Chile nicht auch ohne die Klimaschutzinvestition der Lufthansa aufgeforstet worden, lautet die Gretchenfrage.
Die Praxis ist mehr als ernüchternd. Etliche Studien konnten zeigen, dass viele Projekte bereits angestoßen worden waren, bevor sie in den globalen Kohlenstoffmarkt eintraten. Teils wurden die Emissionen im Vorfeld sogar künstlich nach oben getrieben, so dass das Ausgangsszenario übertrieben hoch berechnet wurde. Die fatale Folge: Es wurden zu viele Zertifikate emittiert und verkauft. Millionen Zertifikate aus russischen und ukrainischen Klimaschutzprojekten, so eine Studie des Stockholm Environment Institute, führten sogar zu einem Anstieg der globalen Treibhausgasemissionen.[8] Das Stockholmer Institut zeigte des Weiteren, dass fast drei Viertel aller Joint-Implementation-Projekte keine Emissionsreduktionen bewirkt haben – oder weniger als deklariert.[9] Das Freiburger Öko-Institut kam sogar zu der Schlussfolgerung, dass 85 Prozent der analysierten Clean-Development-Mechanism-Projekte und 73 Prozent des potentiellen Angebots an zertifizierten Emissionsreduktionen für den Zeitraum 2013 bis 2020 eine geringe Wahrscheinlichkeit der Zusätzlichkeit aufwiesen.[10]
Die Fehler der beiden Instrumente, so die Befürchtung, könnten im Kohlenstoffmarkt des Pariser Abkommens fortgeführt werden.[11] Darüber hinaus besteht die Gefahr eines viel zu großen Angebots an CDM-Zertifikaten, die in den Kohlenstoffmarkt im Rahmen des Pariser Abkommens überführt werden könnten. Dann aber stünden viel zu viele Gutschriften für die Nutzung zur Verfügung, ohne dass dies tatsächlich zur Reduktion einer einzigen Tonne CO2 führen würde. Bis mindestens 2035 könnte das die Lage sein.[12]
Auf dem Klimagipfel in Glasgow im November dieses Jahres soll nun ein erneuter Versuch zur Ausgestaltung des Kohlenstoffmarktes unternommen werden. Wie auch immer dieser ausfällt: Höchst bemerkenswert ist bereits jetzt, dass der UN-regulierte Kohlenstoffhandel durch das Pariser Klimaabkommen wiederbelebt wird, obwohl er zuvor so dürftige Ergebnisse gebracht hat und unter anderem eben wegen dieser Misserfolge und infolge der gescheiterten UN-Klimakonferenz von Kopenhagen 2009 massiv an Reputation verloren hatte.[13]
Abscheidungen und Negativemissionen – eine hochriskante Wette
Neben der bereits im großen Stil betriebenen Praxis des Kompensierens bedeutet Klimaneutralität schließlich auch massiven Auftrieb für das Abscheiden und Speichern von Kohlenstoffen, das sogenannte Carbon Capture and Storage, oder kurz: CCS.[14] Bei diesen Verfahren soll das CO2 aus beispielsweise der Stahl- oder Zementherstellung aufgefangen und unterirdisch gespeichert werden. Die Betonung liegt auf „soll“. Denn CCS ist alles andere als kommerziell anwendbar, schon gar nicht im großen Stil. Das hängt mit den zahlreichen Problemen zusammen, die diese Technik mit sich bringt. Das Verfahren benötigt ein hohes Maß an Energieeinsatz, der womöglich aus fossilen Quellen stammt. Es ist teuer und keineswegs sicher, dass der Kohlenstoff auf Dauer gespeichert werden kann, die Gefahr der Leckagen ist immer gegeben. In der Vergangenheit sind daher weltweit immer wieder Großversuche eingestellt worden.
Eine weitere Form des Entziehens von Kohlenstoffen aus der Atmosphäre sind „Negative Emissionstechnologien“ (NET). Hierunter versteht man einerseits Praktiken wie die Bepflanzung großer Landflächen mit Bäumen und Pflanzen, Seegras- und Algenzucht, Biokohleproduktion sowie die Düngung der Ozeane und andererseits Geoengineering-Methoden wie die Kohlendioxidentnahme (Carbon Dioxide Removal). Gerade letztere ist noch unausgereifter, teurer, energieintensiver und risikoreicher als das CCS. Eine Studie kam unlängst zu dem Urteil, dass gerade die fossilen Industrien bei der Entwicklung und Förderung von Geoengineering-Technologien eine tragende Rolle spielen – und somit versuchen, ihre Geschäftsmodelle bewusst am Leben zu erhalten oder neue zu erschließen.[15]
Negative Emissions- und Abscheidungstechniken können auch kombiniert werden. Abscheidung und Speicherung von Kohlenstoff aus Biomasseenergie (BECCS) lautet dafür der Fachbegriff. Dabei werden Bäume gepflanzt, die CO2 aufnehmen. Dann wird Holz zur Stromerzeugung verbrannt, aber das Kohlenstoffdioxid abgeschieden und gespeichert. Der große Nachteil hier: Es werden enorme Wassermengen und Flächen benötigt, die mit Flächen zur Lebensmittelproduktion konkurrieren oder auf Kosten der Biodiversität gehen. Und es ist keineswegs sicher, dass die angenommene Speicherung in Biomasse tatsächlich eintritt. Umso besorgniserregender ist es, dass fast alle etablierten Analysen für atmosphärische CO2-Minderungspfade, einschließlich der des UN-Weltklimarates (IPCC), „äußerst mutige Annahmen über CCS und NET treffen“, so die Energiewissenschaftler Samuel Alexander und Joshua Floyd. Der internationale politische Diskurs über das Klima stütze sich auf Technologien, hauptsächlich BECCS, die theoretisch plausibel sind, aber in der Praxis nicht existierten. CCS und NET seien somit ein „risikoreiches Glücksspiel“ und grenzten an „fahrlässiges Verhalten“.[16]
Was also, wenn die ungedeckte Wette nicht aufgeht? Dann würde es noch viel schwieriger, die Emissionen zu vermeiden, weil weitere wertvolle Zeit verstrichen ist, in der man auf das Potential der Negativemissionen gehofft hat, während die Bemühungen zu einer echten Reduktion der Emissionen vernachlässigt wurden. Denn Emissionsreduktionen, auf die in der Gegenwart verzichtet wird, können im globalen kumulativen Kohlenstoffbudget nicht durch zukünftige Emissionsreduktionen ersetzt werden. Genau dieses Phänomen zeichnet sich jedoch ab, wie eine Studie der Lancaster University zeigt: Die Befragung von 80 politischen Entscheidungsträgern, Managern, Akademikern und NGO-Vertretern hat ergeben, dass die Hoffnung auf Negativemissionen als Element der Netto-Null die Emissionsreduktion bereits verlangsamt hat. Und weitere Forschung und Investitionen in Negativ-Emissionstechnologien könnten diesen Prozess noch beschleunigen. Denn sie signalisieren: Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Techniken ausgereift sind – also können wir uns ruhig zurücklehnen, was die jetzige Reduktion von Emissionen anbelangt.[17]
Klimaneutralität als Greenwashing – zur Legitimation des Status quo
Die Schlussfolgerung der Forscher lautet daher: Es ist absolut notwendig, über die Klimaneutralität hinauszugehen und die beiden Ziele, Emissionsreduktionen und Negativemissionen, klar voneinander zu trennen und nicht das eine auf das andere anzurechnen. Denn obwohl bei den Bekenntnissen zur Klimaneutralität auch die Reduktion von Emissionen eine Rolle spielt, ist bereits absehbar, dass sich Staaten und Unternehmen mit den Schlupflöchern Kompensation, Abscheidung und Negativ-Emissionstechnologien von der Notwendigkeit der CO2-Einsparung freikaufen werden.
Klimaneutralität fungiert damit im Ergebnis als Greenwashing – und entlastet so von der eigenen Verantwortung für den globalen Klimaschutz: Mit der technikoptimistischen Wette auf Negativemissionen und der Möglichkeit, über einen komplexen globalen Markt Kohlenstoffemissionen andernorts zu „neutralisieren“, entledigen sich Staaten, Unternehmen und Einzelpersonen der Pflicht, ihre eigenen Emissionen zu reduzieren. Klimaneutralität ist somit die aktuellste Rechtfertigung der Industriestaaten, das zu unterlassen, was tatsächlich notwendig wäre, um die Folgen des Klimawandels abzumildern: mit der Verbrennung von Öl, Kohle und Gas jetzt endlich aufzuhören – und zwar hier, im globalen Norden.
Der Begriff der „Netto-Null“ legt dagegen nahe, dass es mit Wachstum, Kapitalismus und dem gewohnten Konsumniveau weitergehen kann wie gehabt. Nur ein bisschen grüner soll alles werden. Erneuerbare Energien sollen die fossilen ersetzen, haben aber noch vor allem einen Alibi-Charakter, da sie bis heute nur an der Stromerzeugung einen nennenswerten Anteil haben. So aber werden weiterhin jährlich fossile Energieträger in Milliardenhöhe subventioniert: Allein in Europa werden in den nächsten zehn Jahren über 70 Mrd. Euro in Gaspipelines und Terminals für Flüssiggas investiert.[18]
Der Begriff der Klimaneutralität erfüllt somit eine ideologisch verschleiernde Funktion: Er suggeriert, dass Klimaschutz betrieben wird und die Pariser Klimaziele auf diese Weise eingehalten werden können. Das aber wird gerade nicht der Fall sein.[19] So fügt sich die Klimaneutralität ein in die Geschichte neoliberalen Umweltmanagements, das marktwirtschaftlichen Gesetzen folgt. Dabei zeigt es sich unberührt von der erdrückenden Beweislast: Denn trotz jahrzehntelanger globaler Klimapolitik der marktwirtschaftlichen Art steigen die Emissionen weltweit weiter. Einzige Ausnahmen: die globalen Wirtschaftseinbrüche von 2008/2009 infolge der Finanzkrise oder 2020 infolge der Corona-Pandemie.
Somit liegt eigentlich klar auf der Hand, was erfolgreicher Klimaschutz sein könnte: eine Verringerung der Wirtschaftstätigkeit, da diese immer mit Ressourcen- und Energieverbrauch einhergeht; Energiesuffizienz, also Strategien zur nachhaltigen Begrenzung des Energiebedarfs, und damit schließlich die Entwicklung einer Postwachstumsgesellschaft. Keineswegs aber reichen wegen der Gefahr von Rebound-Effekten nur Energieeffizienz und das Ersetzen der fossilen durch erneuerbare Energien. Denn diese haben unter anderem aufgrund der geringeren Energiedichte und eines niedrigeren sogenannten Erntefaktors (Verhältnis der eingesetzten zur erzeugten Energie) nicht das Potential, so viel Energie zur Verfügung zu stellen, als dass das bisherige, immens hohe Niveau aufrechterhalten werden könnte.[20]
Damit stellen sich jedoch unangenehme Fragen nach grundsätzlichen strukturellen Änderungen: Energiesuffizienz ist mit Wachstum im Sinne von mehr Umweltverbrauch nicht vereinbar, Kapitalismus wiederum ist ohne Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) kaum vorstellbar, weil die Konkurrenz der Unternehmen diese bei Strafe des Untergangs zur permanenten und unbeschränkten Kapitalakkumulation zwingt. Weshalb sie stets versuchen, die Produktion effizienter und innovativer zu gestalten, um ihren Warenausstoß und damit ihre Profite zu erhöhen. Bricht das BIP in Rezessionen und Krisen ein, hat das Massenarbeitslosigkeit und Massenelend zur Folge, was wiederum die Krise des Systems verstärkt. Das erforderliche BIP-Wachstum geht jedoch stets einher mit Umweltverbrauch – allen Hoffnungen auf Entkopplung und grünes Wachstum zum Trotz.[21] Denn der Zwang der Unternehmen zur Innovation und Effizienz wird nicht genutzt, um den Input zu verringern und den Output auf einem gleichbleibenden Niveau zu halten, sondern um den Ausstoß an Waren zu erhöhen.
Eine tatsächlich nachhaltige Produktionsweise mit weniger Ressourcen- und Energieverbrauch hätte dagegen zwangsläufig ein geringeres Konsumniveau zur Folge. Da zudem die frühindustrialisierten Staaten historisch betrachtet bis heute die meiste Energie und die meisten Ressourcen verbraucht haben, muss auch aus Gerechtigkeitsgründen ihr Konsumlevel viel drastischer sinken, damit die später industrialisierten Länder zumindest ein Niveau erreichen können, das allen Menschen ein Leben ohne Armut ermöglicht.
Es versteht sich, dass vor diesem Hintergrund „Klimaneutralität“ die weitaus angenehmere Option ist. Sie gaukelt eine Antwort auf die Klimafrage vor und bejaht zugleich die Frage, ob unser Wirtschafts- und Wohlstandsmodell in seiner jetzigen Form konserviert werden kann. Schöner kann Klimaschutz nicht sein, untauglicher aber auch nicht.
[1] Vgl. Race To Zero Campaign, www.unfccc.int.
[2] Zit. nach Sybille Bauriedl, Klimaneutralität, in: dies. (Hg.), Wörterbuch Klimadebatte, Bielefeld 2016, S. 189.
[3] Vgl. Hans-Jochen Luhmann und Wolfgang Obergassel, Klimaneutralität versus Treibhausgasneutralität, in: „GAIA – Ökologische Perspektiven für Wissenschaft und Gesellschaft“, 1/2020, S. 27-33, hier S. 27 f.
[4] Carbon Market Watch, Carbon markets 101. The Ultimate guide to global offsetting mechanism, www.carbonmarketwatch.org, 31.7.2020, S. 11.
[5] Vgl. Eva Rechsteiner, Die Risiken der Klimaneutralität. Weshalb die derzeitigen Umsetzungsversuche den Prinzipien der Klimagerechtigkeit widersprechen, www.klima-der-gerechtigkeit.de, 22.4.2020.
[6] World Rainforest Movement, REDD. A Collection of Conflicts, Contradictions and Lies, www.wrm.org.uy, 3.12.2014.
[7] Vgl. Carbon Market Watch, Above and Beyond Carbon Offsetting. Alternatives to Compensation for Climate Action and Sustainable Development, www.carbonmarketwatch, 15.12.2020, S. 5 f.
[8] Has Joint Implementation reduced GHG emissions? Lessons learned for the design of carbon market mechanisms, www.sei.org, 24.8.2015.
[9] Vgl. Bettina Dyttrich, Kompensieren als Klimakiller, in: „WoZ“, 29.11.2018.
[10] Öko-Insitut e.V., How additional is the Clean Development Mechanism?, www.oeko.de, 3/2016, S. 11.
[11] Carbon Market Watch, Carbon markets 101, a.a.O., S. 6.
[12] Ebd.
[13] Vgl. Mareike Blum und Eva Lövbrand, The return of carbon offsetting? The discursive legitimation of new market arrangements in the Paris climate regime, in: „Earth System Governance“ 2/2019, S. 2, www.sciencedirect.com.
[14] Vgl. Samuel Alexander und Joshua Floyd, Das Ende der Kohlenstoff-Zivilisation. Wie wir mit weniger Energie leben können, München 2020, S. 74 ff.
[15] Fuel to the Fire. How Geoengineering Threatens to Entrench Fossil Fuels and Accelarate the Climate Crisis, www.boell.de, 2.2.2019.
[16] Samuel und Floyd, a.a.O., S. 75.
[17] Duncan McLaren, The problem with net-zero emissions targets, www.carbonbrief.org, 30.9.2019; ders. u.a., Beyond „Net-Zero“: A Case for Separate Targets for Emissions Reduction and Negative Emissions, www.frontiersin.org, 21.8.2019.
[18] Vgl. Wie neue Pipelines den Klimaschutz durchkreuzen, in: „Süddeutsche Zeitung“, 3.2.2021.
[19] Vgl. Hans-Josef Fell und Thure Traber, Der Pfad einer Klimaneutralität ab 2050 verhehlt die Klimaziele von Paris, www.energywatchgroup.org, 12/2020.
[20] Vgl. ausführlich Samuel und Floyd, a.a.O., S. 89-116.
[21] Vgl. European Environmental Bureau, Decoupling Debunked. Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability, www.eeb.org, 9.7.2019.