Radikaler Pessimist

Immer noch der Zeit voraus: Vor 50 Jahren erschien das Hauptwerk von Nicholas Georgescu-Roegen, einem Vordenker der Degrowth-Bewegung

Der Nobelpreisträger Paul Samuelson sagte einmal, dass man sich für die Ideen seines Freundes Nicholas Georgescu-Roegen (1906-1994) noch interessieren werde, wenn die heutigen Wolkenkratzer zerbröselt seien. Zurzeit gibt es zumindest im deutschsprachigen Raum keine große Diskussionen über die Ideen, die der aus Rumänien stammende Mathematiker und Ökonom 1971 in seinem Hauptwerk »The Entropy Law and the Economic Process« ausführlich darlegte. Es war ein Buch, das den bis dahin hoch anerkannten Wirtschaftswissenschaftler zu einem Außenseiter machen sollte. Seine Gedanken waren wohl zu pessimistisch, sein Angriff auf Mainstream-Ökonomie und Fortschrittsglauben offensichtlich zu heftig, als dass sich die Ökonom*innen-Zunft mit ihnen meinte ausführlich beschäftigen zu müssen.

Die Quintessenz seines Hauptwerkes hat Georgescu-Roegen in folgende Worte gefasst: Jeder heute neu gebaute Cadillac verkürze die Lebenschancen künftiger Generationen. Sein Thema war also das, was ein Jahr später mit dem berühmten Bericht des Club of Rome einer breiten Öffentlichkeit erstmals ins Bewusstsein drang: Die Ressourcen der Erde sind nicht erneuerbar, es gibt Grenzen des Wachstums. Georgescu-Roegens Hauptverdienst besteht darin, theoretisch begründet zu haben, was mit der Ölkrise von 1973 zumindest vorübergehend jedem klar geworden war − die eminente Bedeutung der Energie für industrialisierte Gesellschaften.

Entropie = Umweltverschmutzung

Im Zentrum von »The Entropy Law and the Economic Process« steht die Übertragung von physikalischen Erkenntnissen aus dem Bereich der Thermodynamik auf ökonomische Prozesse. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik lautet: Der Gehalt an Energie in einem geschlossenen System, d.h. ein System, das weder Energie noch Materie mit einem anderen System austauscht, ist immer konstant. Ausgangspunkt von Georgescu-Roegens Überlegung ist die Beobachtung, dass jeder ökonomische Prozess mit der Umwandlung von Energie und Materie einhergeht und dass es verfügbare und unverfügbare Energie gebe. Menschen können im ökonomischen Prozess also weder Energie oder Materie schaffen oder zerstören, sondern sie nur transformieren. Die gewöhnlichen Begriffe wie Produktion oder Konsum seien bloß verbale Konventionen, die dies verschleierten.

Die verfügbare Energie geht ständig und unwiderruflich in nicht verfügbare Zustände über. Das ist der sogenannte zweite Hauptsatz der Thermodynamik, das Entropiegesetz. Die nicht verfügbare Energie ist die Entropie. Georgescu-Roegen überträgt das auf ökonomische Prozesse. Er stellt fest, dass »der ökonomische Prozess in allen seinen materiellen Bestandteilen entropisch ist«.

Verdeutlicht werden kann dies mithilfe einer Sanduhr-Analogie. Sie ist ein geschlossenes System, Sand kann nicht hinzukommen und nicht verloren gehen. Zudem wird innerhalb des Glases weder Sand erzeugt noch vernichtet (erster Hauptsatz). Innerhalb des oberen Bereichs nimmt die Menge des Sandes kontinuierlich ab, während sie in der unteren Kammer beständig zunimmt. Der heruntergefallene Sand hat sein Potenzial, Arbeit zu verrichten, indem er herunterfällt, verloren. Er weist eine hohe Entropie auf, d.h. nicht verfügbare Energie (zweiter Hauptsatz). Der sich noch in der oberen Kammer befindliche Sand stellt dagegen niedrige Entropie dar.

»Der Wirtschaftsprozess ist kein Kreislauf, er besteht aus der kontinuierlichen Umwandlung von niedriger in hohe Entropie, also in nicht wiederverwertbaren Abfall.«

Nicholas Georgescu-Roegen

Übertragen auf ökonomische Prozesse bedeutet dies, dass gerade mit Beginn der kapitalistischen Industrialisierung in rasantem Tempo verfügbare Energie oder niedrige Entropie – vor allem fossile Brennstoffe wie Kohle, Öl und Gas – durch das Verbrennen in nicht verfügbare Energie (hohe Entropie) umgewandelt wurden. Kritiker*innen wenden ein, dass die Erde kein geschlossenes System sei, weil sie durch die Sonneneinstrahlung Energie aufnimmt. Entscheidend ist aber, dass das heutige ökonomische System auf fossilen Energieträgern beruht. Diese sind zwar durch Sonneneinstrahlung entstanden, allerdings dauerte das Millionen von Jahre. Deshalb sind Kohle und Öl faktisch nicht erneuerbar, ihre Vorräte begrenzt.

Georgescu-Roegen ging noch einen Schritt weiter und schlug ein viertes Gesetz der Thermodynamik (das dritte kann hier vernachlässigt werden) vor, das die Gültigkeit des Entropie-Gesetzes auf die Materie überträgt. So würde Eisen verrosten und Motoren und Autoreifen verschleißen. Das Gesetz lautet: »Es ist unmöglich, Stoffe komplett zu recyceln.« Aus einer theoretisch-physikalischen Sicht gehört dieses Gesetz aber nicht zur Thermodynamik, wird eingewendet, weil sich diese ausschließlich auf Energie bezieht. Gleichwohl dürfte vollständiges Recycling tatsächlich unmöglich sein, wie etwa auch der Schlussbericht der Enquete-Kommission des Bundestages zum Thema »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« konstatiert.

Radikalkritik der Wirtschaftswissenschaften

Georgescu-Roegens Erkenntnisse stellen somit eine fundamentale Kritik an vorherrschenden Schulen der Wirtschaftswissenschaften dar. An der neoklassischen, der er selbst angehört hatte, wie auch an dominanten marxistischen Strömungen. Die neoklassische Ökonomie begreift Wirtschaft als einen Kreislauf, in dem Rohstoffe unendlich vorhanden sind bzw. durch andere substituiert werden können. Physikalische Tatsachen spielen in ihr keine Rolle. Georgescu-Roegen hält diesen Kreislaufgedanken, der einschließt, dass ökonomische Prozesse einfach umgekehrt werden können, für die »Erbsünde der modernen Nationalökonomie«. Er schreibt: »Der Wirtschaftsprozess ist kein Kreislauf, er besteht aus der kontinuierlichen Umwandlung von niedriger in hohe Entropie, also in nicht wiederverwertbaren Abfall, oder, um einen geläufigen Begriff zu verwenden, in Umweltverschmutzung.« Dies bedeutet eine radikale Infragestellung des Fortschrittsdenkens der industriellen Moderne. Wirtschaftswachstum und Produktivität, die der Wohlfahrt der heute lebenden Menschen dienen sollen, bedeuten im Grunde nichts anderes als die beschleunigte Zunahme von Umweltverschmutzung bzw. Entropie zulasten künftiger Generationen.

Insofern ist auch das Setzen auf die Entwicklung der Produktivkräfte und auf Wachstum in der marxistischen Tradition im Grunde eine Wette auf die beschleunigte Destruktion der Biosphäre. Denn Wachstum ging empirisch bislang stets mit einem Mehr an Ressourcen- und Energieverbrauch einher – ungeachtet allen Entkopplungsbemühungen. Nichtsdestotrotz sind marxistische Ansätze eher mit den Gedanken von Georgescu-Roegen kompatibel als die bürgerliche Volkswirtschaftslehre. Denn Marx und Engels argumentierten, dass die Natur sehr wohl neben der Arbeit eine Quelle des stofflichen Reichtums sei. Und vor allem warnten sie, dass die kapitalistische Produktion »nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (entwickelt), indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«

Begrenzung des Bevölkerungswachstums, zurück zur Scholle? Georgescu-Roegen scheute sich nicht, radikale Folgerungen zu ziehen, die mit linken Positionen in Konflikt geraten.

Georgescu-Roegen zeigte sich enttäuscht davob, dass seine Warnrufe weitgehend ungehört verhallten und sich die Ökonomien nicht hin zu einem Wirtschaftssystem auf regenerativer Basis wandelten. Dabei hatte er durchaus Einfluss. Er gilt als Begründer der Ökologischen Ökonomie und als Vordenker der wachstumskritischen Bewegung in Frankreich (und Italien). Eine von ihm autorisierte französische Übersetzung seiner Text gab dieser ihren Namen: decroissance. Einer seiner Schüler, Herman Daly, verfasste das in der Degrowth-Bewegung einflussreiche Buch »Steady-state Economics«. Doch selbst davon distanzierte sich Georgescu-Roegen, der einen immer radikaleren ökologischen Standpunkt vertrat. Den Gedanken einer stationären, über längere Zeit wachstumslosen Wirtschaft und das inzwischen populäre Konzept von nachhaltiger Entwicklung kritisierte er scharf. Heute würde er wohl ähnlich mit Green-New-Deal-Konzepten verfahren. Auch seine Zusammenarbeit mit dem Club of Rome war nicht von Dauer. Enttäuscht schrieb er, der Club tanze nur noch um die Computer herum, statt mit voller Kraft den Kampf aufzunehmen gegen die Rüstungsproduktion, gegen die Rohstoffverschwendung für Luxus in den Industrieländern, gegen die schrecklichen Ungleichheiten zwischen den Nationen.

Er selbst bevorzugte den Begriff Bioökonomie und stellte entsprechend ein bioökonomisches Minimalprogramm mit dem Ziel vor, die Entropiezunahme merklich zu verlangsamen. Die wichtigsten Punkte: Stopp von Kriegen und Kriegsproduktion sowie Verzicht auf Mode und Luxuskonsum. Zudem sollten die Industrieländer den sogenannten Entwicklungsländern einen annehmbaren Lebensstandard ermöglichen und das ungebremste Bevölkerungswachstum müsse ein Ende haben, damit die Menschheit sich durch organische Landwirtschaft ernähren könne.

Begrenzung des Bevölkerungswachstums, zurück zur Scholle? Georgescu-Roegen scheute sich nicht, radikale Folgerungen zu ziehen, die mit linken Positionen in Konflikt geraten. Als Linker sah er sich ohnehin nicht. Sein Verdienst ist es, die ökologischen Folgen der Industrialisierung in ihrer ganzen Tragweite durchdacht zu haben – und das zu einer Zeit, in der vom Klimawandel, dem gravierendsten Umweltproblem, noch gar nicht die Rede war. Bis die Wolkenkratzer zerbröselt sind, sollte man also nicht warten, um sich mit »The Entropy Law and the EconomicProcess« und weiteren Texten von Georgescu-Roegen wie »Energy and Economic Myths« zu beschäftigen.

aus: analyse & kritik 672, 15. Juni 2021

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