Produktivität ist Zerstörung

Der ökomarxistische Autor Kohei Saito plädiert für einen Degrowth-Kommunismus

Das hat es wohl noch nie gegeben: Ein marxistischer Autor verkauft von einem Buch so viele Exemplare, wie es sonst nur von Harry-Potter-Bänden der Fall ist. Doch der 36-jährige Kohei Saito hat es in Japan geschafft. Sein auf Japanisch geschriebenes Buch »Capital in the Anthropocene« erschien 2020 und verkaufte sich mehr als eine halbe Million Mal. Klingt der Haupttitel zunächst sperrig-akademisch für einen Bestseller, so enthält der Untertitel »Towards the Idea of Degrowth Communism« sogar zwei Begriffe, die in Japan und in anderen kapitalistischen Ländern Reizwörter für den liberalen Konsens schlechthin sindDass sein Manifest für eine kommunistische Postwachstumsgesellschaft dennoch ein so großes Publikum fand, erstaunt Saito bis heute. In einem Interview mit der Schweizer WOZ erklärt er den Erfolg mit der Corona-Pandemie. Diese habe die soziale und ökologische Krise sichtbar gemacht. Die Menschen seien schlicht schockiert gewesen, wie schlecht das System funktioniere. Und dem Spiegel, der Saito für seine zwischen den Jahren erschienene Titelgeschichte »Hatte Marx doch recht?« interviewte, sagte er: Seine Altersgenoss*innen kämpften schon länger mit wirtschaftlicher Instabilität und den »Exzessen der Globalisierung«. Sie seien offen für einen »neuen Lebensstil«, der sich von Arbeit, Geldverdienen und Konsum unterscheidet.

Hinzu kommt ein weiterer Faktor: In Japan ist die Diskussion um die Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals) im Vergleich zu hier ein Riesenthema. Und in seinem Buch kritisiert Saito, der als Professor an der Uni Tokio arbeitet, diese Ziele, weil sie nicht mit dem Wachstumsparadigma brechen.

Saito liefert eine theoretische Grundlage für die Konvergenz von Ökosozialismus und Degrowth.

Eine spanische Übersetzung von Saitos Bestseller ist inzwischen erschienen, eine englische in Vorbereitung und eine deutsche für Ende August angekündigt. Was allerdings kürzlich in englischer Sprache auf den Buchmarkt kam, ist eine akademische Variante des Erfolgstitels mit einem verblüffend ähnlichen Titel: »Marx in the Anthropocene. Towards the Idea of Degrowth Communism«. Saito knüpft darin an seine auf Deutsch verfasste Dissertation »Natur gegen Kapital. Marx‘ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus« (2016) an. Dafür hatte er bisher unveröffentlichte Exzerpthefte von Karl Marx ausgewertet und war zu einem überraschenden Ergebnis gekommen: Marx hatte viel ökologischer gedacht als bisher angenommen. Durch die Lektüre agrar- und naturwissenschaftlicher Schriften erkannte Marx beispielsweise, dass der Einsatz von Düngemitteln und Maschinen die Bodenerträge zwar kurzfristig steigert, langfristig aber sinken lässt. Zunehmend thematisierte er mit dem physiologischen Begriff des »Stoffwechsels« das Verhältnis von Mensch und Natur – und begann, dessen Störung als Widerspruch zum Kapitalismus und seiner unendlichen Verwertungsbewegung zu kritisieren. Marx sei bewusst geworden, dass seine optimistische These vom emanzipatorischen Potenzial der Produktivkraftentwicklung nicht mit den stofflichen Naturgrenzen der menschlichen Produktion in Einklang zu bringen sei. Es entstehe ein irreparabler Riss im von der Arbeit vermittelten Prozess des Stoffwechsels von Mensch und Natur. Und deshalb fordert Marx bereits im ersten Band des »Kapital« als zentrale Aufgabe des Sozialismus die bewusste Regulierung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur.

Kritik ökomodernistischer Autoren

Damit hatte Saito sich in die Reihe von ökomarxistischen Autoren wie John Bellamy Foster und Paul Burkett gestellt, die schon länger eine ökologische Lesart des Marxschen Werkes propagieren – und Stellung beziehen gegen zentrale Thesen des orthodoxen Marxismus. Wie zum Beispiel, dass das industriell-kapitalistische Stadium hin zum Sozialismus/Kommunismus durchlaufen werden müsse, dass Produktivkräfte per se fortschrittlich und vorkapitalistische Produktionsweisen primitiv seinen. Letzteres offenbart eine eurozentristische Perspektive, die Marx, wie Saito in seinem neuen Buch »Marx in the Anthropocene« ausführlich darlegt, ab den späten 1860er Jahren durch seine intensive Beschäftigung mit nicht-westlichen ländlichen Gemeinschaften, die auf kollektiver Produktion von Gebrauchswerten basierten, zunehmend selbst in Frage stellte.

Zudem geht Saito ausführlich auf andere marxistische Autor*innen ein. Es geht um Engels, um Georg Lukács und um den selbst unter marxistischen Expert*innen nicht allzu bekannten István Mészáros. Außerdem geht es um eine Kritik an ökomodernistischen Autoren im marxistischen Gewand wie Paul Mason, Nick Srnicek oder Aaron Bastani, die auf neue Informationstechnologien und Roboter setzen, um eine postkapitalistische Gesellschaft oder gar einen vollautomatischen Luxuskommunismus zu erreichen. Saito wendet sich gegen solche zeitgenössischen Utopien, die »nur die Effizienz und den Überfluss an Gütern und Dienstleistungen im Auge haben, ohne die qualitativen und materiellen Aspekte der Produktion, d.h. die Autonomie und Unabhängigkeit der Arbeiter und die Nachhaltigkeit der natürlichen Umwelt, ausreichend zu berücksichtigen«.

Für Saito ist gerade angesichts des Klimawandels klar, dass wir uns in einer »neuen historischen Situation« befinden. Es sei naiv zu glauben, »dass die Entwicklung der Produktivkräfte im westlichen Kapitalismus angesichts der globalen ökologischen Krise als emanzipatorischer Motor der Geschichte wirken könnte«. Würde eine sozialistische Gesellschaft ihre Produktivkräfte weiter steigern, um alle menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, wäre das eine Katastrophe für die Umwelt, lautet Saitos Argument.

Wenn er jedoch das Wachstumsparadigma infrage stellt, hat er in erster Linie den Globalen Norden im Blick. Hier müsse mit dem inakzeptablen Produktivismus und Ethnozentrismus gebrochen werden, der im Mainstream-Marxismus und auch bei Marx selbst bis in die 1860er Jahre zu finden ist.

Konvergenz zwischen Rot und Grün

Saito interpretiert Marx als einen wachstumskritischen Kommunisten: »Seine letzte Vision des Postkapitalismus in den 1880er Jahren ging über den Ökosozialismus hinaus und kann angemessener als Degrowth-Kommunismus bezeichnet werden.« Das erscheint als etwas überspitzt, gerade was die Begrifflichkeiten anbelangt. In der Sache ist Saitos Argumenten indes viel abzugewinnen. Und gerade das letzte Kapitel seines neuen Buches über den Überfluss des Reichtums im »Degrowth Communism« bietet eine Perspektive, die bestehende Kluft zwischen dem grünen und dem roten Lager, zwischen Ökologiebewegung und Arbeiter*innenbewegung sowie zwischen Ökosozialismus/-marxismus und Degrowth-Bewegung zu überbrücken.

Entsprechende Tendenzen dazu seien bereits zu beobachten. In der Degrowth-Bewegung sieht Saito in den letzten Jahren die Tendenz hin zu einer antikapitalistischen Wende. Aber auch im ökosozialistischen Lager gebe es Tendenzen hin zur Wachstumskritik. Saitos Degrowth-Kommunismus, der als zentrale Elemente den Bruch mit dem Kapitalismus, die Reduktion der gesellschaftlich überflüssigen Produktion und deren sozial gerechte Umverteilung beinhaltet, bietet in der Tat die Chance, diese Schnittmengen zu vergrößern und die Kluft zu verringern.

Allerdings bleibt Saito in seinem Buch meist auf einer abstrakten Ebene. Klar, es soll eine Wachstumsrücknahme geben, aber was genau soll schrumpfen und wie? Da gibt es nur den Hinweis auf »unnötige Produktionen« in Branchen wie Werbung, Marketing, Beratung und Finanzen. Ja, Green Deals, grüner Kapitalismus und ökomodernistische Visionen werden der neuen historischen Situation des Anthropozäns nicht gerecht. Aber immerhin haben sie eine – wenngleich schwache – realpolitische Basis. Wo ist die für Saitos kommunistische Postwachstumsgesellschaft? Wo sind die sozialen Träger dieser Umwälzung? Er verweist lediglich auf die Notwendigkeit einer »Volksfront zur Verteidigung des Planeten«.

Dennoch: Saitos Buch liefert zumindest eine theoretische Grundlage für die Konvergenz von Ökosozialismus und Degrowth, die zweifellos notwendig ist. Gerade marxistisch orientierte Leser*innen dürften »Marx in the Anthropocene« mit Gewinn lesen, mit manchen Thesen hadern – und hoffentlich die Diskussion über die politischen Schlussfolgerungen daraus eröffnen.

aus: analyse & kritik 692, 18.04.2023

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert