Sascha Rehs Roman über das kaum bekannte computer-sozialistische Experiment in Allendes Chile
Es hätte so schön werden können, hätten nicht die Chicago Boys in Chile mit ihrer neoliberalen Idee gesiegt. Unter Allende unternahmen ein britischer Kybernetiker und eine Projektgruppe erste Versuche einer computergesteuerten Ökonomie. Sascha Reh hat diesen Stoff zu einem spannenden Thriller verarbeitet.
In dem soeben erschienenen Buch »Die Idee des Sozialismus« des Philosophen Axel Honneth heißt es an einer Stelle: »Daher muß der revidierte Sozialismus zum einen über ein internes Archiv aller in der Vergangenheit bereits unternommenen Versuche einer weiteren Vergesellschaftung der Wirtschaftssphäre verfügen, um dadurch eine Art von ›Gedächtnisstütze‹ für Erfahrungen zu erhalten, die schon zuvor mit den Vor- und Nachteilen der jeweiligen Maßnahmen gemacht wurden.«
Archiv – das klingt nach Staub, Pedanterie und Langeweile. In dieses noch anzulegende Archiv gehören aber nicht nur furztrockene Produktionsstatistiken der DDR-Wirtschaft oder Dokumente über selbstverwaltete Betriebe im ehemaligen Jugoslawien oder heutigen Argentinien. In dieses Archiv gehört unbedingt auch ein spannender Roman, der neue von Sascha Reh. In »Gegen die Zeit« macht er uns mit einem Experiment vertraut, das in den Debatten der Linken über einen neuen Sozialismus bislang keine Rolle gespielt hat und von dem kaum Kenntnisse vorhanden sind. Es geht um den Versuch, im Chile der sozialistischen Unidad Popular-Regierung von Salvador Allende mit Computertechnik die Wirtschaft des Andenstaates zu vernetzen und besser zu organisieren.
Rehs Roman erzählt das zwar in fiktionalisierter Weise, doch sein Werk basiert auf »wahren Begebenheiten«. Für seinen dritten Roman hat der 41-jährige Autor ehemalige Akteure des Projektes Synco bzw. Cybersyn in Chile aufgesucht und sich von ihnen erzählen lassen, wie sie von 1971 bis 1973 unter Anleitung des britischen Mitbegründers der Managementkybernetik, Stafford Beer, versucht haben, die chilenische Volkswirtschaft durch computergestützte Systeme zu steuern – und somit den Marktmechanismus auszuhebeln. Zusätzlich wertete er die einzigen wissenschaftlichen Arbeiten aus, die es zu diesem Thema gibt: Sebastians Vehlkens Magisterarbeit »Environment for Decision – Die Medialität einer kybernetischen Staatsregierung« und die englischsprachige Monografie von Eden Medina »Cybernetic Revolutionaries. Technology and Politics in Allende’s Chile« von 2011.
In Rehs Roman firmiert Synco als Cybernet, Stafford Beer heißt Stanley Baud und das historische Vorbild des Protagonisten, des deutschen Industriedesigner Hans Everdings, ist der Gestalter und Designtheoretiker Gui Bonsiepe. Everding, der 1969 nach Frankfurt kommt, erlebt dort die Studentenproteste und mit Gründung der RAF die Zersplitterung der Linken. Daher kommt ihm eine Einladung der Bundesstelle für Entwicklungshilfe im März 1971 sehr recht, als Leiter einer Projektgruppe für Industriedesign und Produktentwicklung des chilenischen Instituts für Wirtschaftsförderung (Corfo) nach Chile zu gehen. Zunächst beschäftigt er sich auch damit und entwickelt zum Beispiel einen Messlöffel für Allendes Milchprogramm, mit dem auch Analphabeten in die Lage versetzt werden, das Milchpulver richtig zu dosieren. Doch dann wird er von einem anderen Corfo-Mitarbeiter gefragt, ob er sich mit Kybernetik auskenne, der Kunst des Steuerns und Regelns. Everding kennt sich aus und so wird er Mitarbeiter von Cybernet, das die »Flugbahnen der chilenischen Wirtschaft« errechnen möchte – und zwar in Echtzeit, nicht anhand von Statistiken, die ein Jahr alt sind. Der Kybernetiker Baud sieht darin die Chance, ein besseres Verteilungssystem einzuführen als es der Kapitalismus mit seinem zu Ungleichheit führenden freien Markt praktiziert. Mit der zentralen Verwaltungswirtschaft nach sowjetischem Vorbild habe sein Projekt jedoch nichts zu tun. Es werde der Bevölkerung nicht vorgeschrieben, wie viele Hosen sie in den nächsten Jahren benötigt, betont Baud.
Das Team macht sich an die Arbeit, Everding entwirft zunächst den sogenannten Operations Room, der noch heute – Bilder sind im Internet zahlreich vorhanden – der Sci-Fi-Serie »Star Trek« entsprungen sein könnte. Im selben Gebäude ist auch der monströse IBM-Rechner untergebracht – »das Haus ist damals quasi drum herum gebaut worden«, heißt es – , der die Daten aus den 400 Fabriken verarbeiten soll. In diesen werden mangels Alternative Fernschreiber installiert, die die Informationen in die Zentrale senden, sofern die Belegschaften dazu zu bewegen waren, was oft nicht der Fall war.
Die Arbeit vollzieht sich vor dem Hintergrund der sich verschärfenden politischen Kämpfe. Die konterrevolutionären Kräfte um den späteren Diktator General Pinochet werden immer stärker. Offen unterstützt werden sie vom US-Geheimdienst CIA. Als im Oktober 1972 über zehntausend LKW-Besitzer und Fahrer in den Ausstand treten, droht das Land im Chaos zu versinken, die Macht der Unidad Popular ist bedroht. Doch das Cybernet-Projekt bewährt sich, 200 Fabriken sind über den Computer miteinander vernetzt. Aus einer Kulisse für eine Science-Fiction-Show wird Science-Fact. Cybernet wird zu einer landesweiten Tauschbörse für technische Hilfe und Nachschub. Allende übersteht zwar den Streik, letztlich obsiegt indes die Reaktion: Am 11. September 1973 putscht General Pinochet und Allende tötet sich im Präsidentenpalast. Es schlägt die Geburtsstunde für ein wirtschaftspolitisches Projekt ganz anderer Art: das der neoliberalen Schocktherapie, erdacht von den Chicago Boys um Milton Friedman.
Nach dem Putsch versucht Hans Everding die Datenträger in Form von Magnetbändern vor dem Zugriff des Militärs zu retten. Diese wollen damit nicht die Produktion kontrollieren, sondern die nunmehr zu Dissidenten gewordenen Sozialisten und Kommunisten, die sich an Cybernet beteiligt hatten, verfolgen. Jeder von ihnen kann mit den Magnetbändern lokalisiert werden. Rehs Roman wird vor diesem Hintergrund auch zu einer Warnung vor Facebook, Apple und Google. Was passiert, wenn in den Vereinigten Staaten ein Diktator die Macht übernimmt?
Reh arrangiert aus diesem Stoff mit Kapiteln, die in der Zeit hin und her springen, einen spannenden Thriller, dem er auch eine Geschichte von Liebe und Verrat beimischt. Nicht alle Szenen gelingen ihm dabei so gut wie die, in der er ein Verhör Everdings mit einem Gespräch mit seiner Geliebten ineinander webt. »Gegen die Zeit« wirft natürlich auch technik-philosophische und ethische Fragen auf. Gott sei allwissend, sagt der Kybernetiker Baud an einer Stelle. »Das ist ungefähr die Richtung, in die wir denken wollen.« Worauf ihm erwidert wird: »Wann immer der Mensch versucht hat, sich mit Gott zu messen, ist er furchtbar bestraft worden.«
Die Bedeutung dieses außergewöhnlichen Romans liegt jedoch darin, das Archiv über sozialistische Experimente erweitert zu haben. Und natürlich erinnert das chilenische Cybersyn-Projekt an die Debatte über einen Computer-Sozialismus, die von Arno Peters Buch »Was ist und wie verwirklicht sich Computer-Sozialismus« um die Jahrtausendwende angestoßen und durch die schottischen Marxisten W. Paul Cockshot und Allin Cottrell mit »Alternativen aus dem Rechner« (2006) weitergeführt wurde.
Sascha Reh: Gegen die Zeit. Roman. Schöffling & Co., 360 S., geb., 21,95 €.
aus: neues deutschland, 17.10.2015