Auf der Suche nach Zukunft und Sinn

Er sorgte für den Hype des Literaturjahres. Doch ist der Erfolg von Karl Ove Knausgård Ausdruck einer neuen Spießigkeit?

Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben«, schrieb Max Frisch. Karl Ove Knausgård kann nichts erzählen, nur sein wirkliches Leben – könnte man meinen. Der norwegischer Erfolgsautor – Übersetzungen in 30 Sprachen, hervorragende Verkaufszahlen – hat aus seiner Unfähigkeit, ein richtiger Schriftsteller zu werden, eine Tugend gemacht. Er beschreibt in seinem sechsbändigen Großprojekt »Min Kamp« (ja, zu deutsch Mein Kampf!) mit exhibitionistischem Eifer nichts anderes als – sein Leben. Seine Bücher »Sterben«, »Lieben«, »Spielen« »Leben« und »Träumen« behandeln einzelne Lebensabschnitte des 47-Jährigen. In »Sterben« etwa geht es um den Tod des früh an Alkoholismus verstorbenen autoritären Vaters. In »Lieben« um das Familienleben mit seiner zweiten Frau, einer manisch-depressiven Schriftstellerin, und den Konflikt zwischen Vaterrolle und literarischen Ambitionen.

Der zuletzt erschienene Roman »Träumen«, der auch Deutschland zum Knausgård-Hype-Land machte, hat seine Zeit an der Akademie für Schreibkunst sowie als Literaturwissenschafts- und Kunstgeschichtsstudent an der Hochschule in Bergen zum Gegenstand. Eine so fürchterliche Zeit waren diese 14 Jahre, schreibt er zu Beginn rückblickend: »Ich wusste so wenig, wollte so viel, brachte nichts zustande. Aber in welch einer Stimmung ich war, als ich dorthin ging!«

Damit ist die Essenz des Romans auf den Punkt gebracht: Der 19-Jährige Protagonist Knausgård kommt von der Provinz in die Stadt, hat keine Freundin, kaum Freunde: Immerhin wurde er an der Akademie angenommen, doch er scheitert dort. Er zeigt Symptome einer sozialen Phobie, hat Panikattacken, wenn er daran denkt, mit Studenten in einem Raum sitzen zu müssen. An Gesprächen in den Studentenkneipen kann er sich im nüchternen Zustand nicht beteiligen. Und er kann nicht lachen. So muss er trinken, exzessiv trinken. Die Nächte lösen sich in Dunkelheit auf, mal wacht er mit einer blutbefleckten Jacke auf, mal in einer Ausnüchterungszelle. Er betrügt im Suff Freundin und erste Ehefrau. Grämt sich nach diesen Ausschweifungen tagelang, im Fall des Ehebruchs über ein Jahr lang. Er entdeckt das Onanieren mit einem Fotoband, spielt Schlagzeug in einer Band mit seinem Bruder. Es geht auch viel um Popmusik, aber vor allem um Literatur. Der Wunsch, Schriftsteller zu werden – trotz aller Rückschläge hält der junge Knausgård an ihm fest. Bald hat er 500 Seiten unveröffentlichte Romananfänge in der Schublade liegen. Er verlegt sich darauf, Literaturkritiken zu schreiben – und schaut damit nur seiner eigenen Niederlage ins Gesicht. Dann doch noch die Erlösung: Sein erster Roman wird ein Erfolg.

Der radikale, zur Selbstentblößung neigende Charakter seiner Bücher entsteht durch Knausgårds ausführlicher Thematisierung seiner sexuellen (er kommt zu früh) und seelischen Nöte: Seine Liebe wirft sich seinem Bruder an den Hals, er hadert mit Minderwertigkeitskomplexen, er hat unkontrollierbare Ausbrüche, wirft seinem Bruder ein Glas ins Gesicht und zerschneidet sein eigenes.

Was in dieser Verdichtung durchaus nach einem ungewöhnlichen Leben klingt, ist es auf der Strecke von knapp 800 Seiten nicht. Es werden unzählige Tassen Tee getrunken, Zigaretten geraucht, mit Mutter telefoniert und weitere banale Alltagshandlungen beschrieben. In »Lieben« sagt ein Schriftstellerfreund zu Knausgård: »Du kannst auf zwanzig Seiten einen Toilettenbesuch so gestalten, dass die Leser leuchtende Augen bekommen.«

Der große Erfolg von Knausgård beschäftigt die deutschsprachigen Feuilletons. Das überschwängliche Lob überwiegt. Vereinzelt indes gab es auch Kritik. Andreas Breitenstein stellt in der »Neuen Zürcher Zeitung« die entscheidende Frage: »Was eigentlich ist Literatur?« Knausgård mit seiner »Ästhetik des Infantilismus« scheint ihm nicht unter diesen Begriff zu fallen. Denn in seinen Büchern gebe es keine Form von Transzendenz, keine Verwandlung von Menschen und Dingen, keine Entwicklung eines Eigenlebens. Für Breitenstein das entscheidende Kriterium für Literatur. Bei Knausgård hingegen finde sich nur schriftstellerische Authentizität, damit verbleibe er im Vorhof der Literatur. Breitenstein geht noch einen Schritt weiter und kritisiert die Literaturkritiker, die die »Dürftigkeit des Gebotenen« auch noch goutieren. Er sieht in Knausgårds »kühner Ästhetik der Mutlosigkeit« möglicherweise sogar die Misere unserer biedermeierlichen Epoche widergespiegelt.

Ähnlich sieht es Daniela Janser in der »WOZ«. Knausgård würde als einer der Lieblingsautoren des angebrochenen 21. Jahrhunderts die kleinbürgerliche, spießige Selbstvergewisserung der realistischen bürgerlichen Literatur des 18. und 19 Jahrhunderts fortschreiben. »Er sitzt auf der Insel seiner weißen, männlichen, mittelständischen Selbstbezogenheit und schreibt über seinen Alltag, in dem sich die LeserInnen dann wiedererkennen. Was bei dieser manischen Selbstbeichte ausbleiben muss, ist die Absolution, da es kein Außerhalb mehr gibt.« Deswegen müsse auch immer weitergeschrieben werden, frei nach dem existenziellen Motto »Ich porträtiere mich, also bin ich.« Nicht zuletzt darin erinnere diese freiwillige literarische Selbstvermarktung an die vielen Ich-Texte und Selfie-Exzesse auf Onlineplattformen.

Dagegen spricht allerdings, dass Knausgårds permanente Beschreibung seiner Unzulänglichkeiten und Schwächen das Gegenteil des Selbstoptimierungszwangs ist. Davon abgesehen, hat Knausgård sich von der Autobiografie längst abgewandt und schreibt inzwischen über Alltagsgegenstände wie Zahnbürsten (!). Sein gegen das Diktat vom »tolleren Ich« zu interpretierendes Werk mag neben dem identifikatorischen Angebot seiner Alltagsbeschreibungen ein wesentlicher Grund für seinen Erfolg und das oft beschriebene Phänomen der soghaften Lektüre sein.

Überhaupt steht und fällt das Urteil mit der Frage, ob Knausgårds Prosa tatsächlich keine Transzendenz, keine Verwandlung beinhaltet und folglich keine Literatur sei. Oder ob dieses Literaturverständnis ohnehin zu weit, zu eng oder völlig falsch ist. In »Träumen« zumindest gibt es Verwandlung und Entwicklung, ja sogar eine unter die Haut gehende Katharsis: die Schilderung der Scham nach dem One-Night-Stand, die Furcht vor dem Auffliegen der Affäre – und schließlich das Scheitern seiner ersten Ehe. Knausgård selbst bevorzugt den Begriff »autobiografisches Erzählen«. Doch auch dieses ist arrangiert und stilisiert. Nur beschreiben, wie das Leben war – das kann es nicht geben. Somit kann Knausgård sehr viel erzählen. Ob es sein wirkliches Leben ist oder nicht, ist dabei egal. Literatur, und zwar gute, ist es allemal.

Karl Ove Knausgård: Träumen. Luchterhand. München 2015, 794 S., 24,99 €.

aus: neues deutschland, 12.12.2015

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