Der Entropie-Ökonom

«Jeder heute neu gebaute Cadillac verkürzt die Lebenschancen künftiger Generationen.» Diese für die jetzige Generation unangenehme Aussage ist die Quintessenz eines Buches, das 1971 erschien und seinen Autor, einen bis dato hoch anerkannten Wirtschaftswissenschaftler zu einem Außenseiter seiner Zunft werden ließ – und gleichzeitig zum Stichwortgeber der heute so en voguen Wachstumskritik. Der Titel des Buches lautet «The Entropy Law and the Economic Process». Der Verfasser war der in den USA lehrende Nicholas Georgescu-Roegen, dessen 20. Todestag sich am 30. Oktober jährt. Mit seinem Hauptwerk und bereits zuvor erschienenen Artikeln hatte er bereits ein Jahr später großen Einfluss auf eine Veröffentlichung ausgeübt, die bis heute ungleich bekannter ist: «Die Grenzen des Wachstums» des Club of Rome. Mit dieser rückte zum ersten Mal in ein breiteres Bewusstsein, dass ein stetiges Wirtschaftswachstum durch die Erschöpfung der Ressourcen in Zukunft an ein Ende geraten könnte.

Die autorisierte französische Übersetzung einer Aufsatzsammlung von Georgescu-Roegen aus dem Jahr 1979 gab zudem der französischen wachstumskritischen Bewegung ihren Namen: «decroissance». Im akademischen Feld gilt der gebürtige Rumäne und überwiegend in den USA Lehrende als Begründer der sogenannten Ökologischen Ökonomie. Er selbst bevorzugte allerdings den Begriff Bioökonomie. Sein Hauptverdienst besteht darin, theoretisch begründet zu haben, was kurze Zeit später mit der Ölkrise von 1973 zumindest vorübergehend jedem klar wurde: die eminente Bedeutung der Energie für moderne Volkswirtschaften. Sein bioökonomischer Ansatz, der erstmals die biophysischen Grenzen des Wachstums begründete, brach daher nicht nur mit dem vorherrschenden neoklassischen Paradigma in der Wirtschaftslehre, sondern auch mit dominanten marxistischen Anschauungen.

Was sind die Hauptgedanken von Georgescu-Roegens? Sie kreisen um die Übertragung von physikalischen Erkenntnissen, insbesondere aus dem Bereich der Thermodynamik und der Entropie, auf ökonomische Prozesse. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist, dass jeglicher ökonomischer Prozess mit dem Verbrauch von Energie einhergeht sowie die Unterscheidung von verfügbarer und unverfügbarer Energie. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik, jenes Teilgebietes der Physik, der im 19. Jahrhundert entwickelt wurde und sich mit der Möglichkeit beschäftigt, durch Umverteilen von Energie zwischen ihren verschiedenen Erscheinungsformen Arbeit zu verrichten, lautet: Der Gehalt an Energie in einem isolierten System, d.h. ein System, das weder Energie noch Materie mit einem anderen System austauscht, ist immer konstant. Die verfügbare Energie hingegen – und darin besteht der zweite Hauptsatz – geht ständig und unwiderruflich in nicht verfügbare Zustände über. Die nicht verfügbare Energie/Temperatur ist die Entropie. Georgescu-Roegen überträgt nun insbesondere diesen zweiten Hauptsatz auf ökonomische Prozesse. Er stellt fest, dass «der ökonomische Prozess in allen seinen materiellen Bestandteilen entropisch ist».

Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Stellen wir uns eine Sanduhr vor, die ein isoliertes System darstellt. Sand kann nicht hinzukommen und nicht verloren gehen. Zudem wird innerhalb des Glases weder Sand erzeugt noch vernichtet (erster Hauptsatz der Thermodynamik). Innerhalb des oberen Bereichs nimmt die Menge des Sandes kontinuierlich ab, während sie in der unteren Kammer beständig zunimmt. Der heruntergefallene Sand hat sein Potenzial, Arbeit zu verrichten, indem er herunterfällt, verloren. Er weist eine hohe Entropie auf, d.h. nicht verfügbare Energie. Der sich noch in der oberen Kammer befindliche Sand stellt dagegen niedrige Entropie dar (zweiter Hauptsatz der Thermodynamik).

Übertragen auf ökonomische Prozesse bedeutet dies, dass gerade mit Beginn der kapitalistischen Industrialisierung in rasantem Tempo verfügbare Energien oder niedrige Entropie – vor allem fossile Brennstoffe wie Kohle, Öl und Gas – durch das Verbrennen in nicht verfügbare Energie (hohe Entropie) umgewandelt wurden. Kritiker wenden ein, dass die Erde kein isoliertes, sondern ein geschlossenes System ist, weil sie durch die Sonneneinstrahlung Energie aufnimmt. Entscheidend ist aber, dass das heutige ökonomische System fast ausschließlich auf fossilen Energieträgern beruht. Diese sind zwar auch durch Sonneneinstrahlung entstanden, doch das hat Millionen von Jahren gedauert. Deshalb sind Kohle und Öl faktisch nicht erneuerbar, zudem ihre Vorräte begrenzt.

Georgescu-Roegen geht allerdings noch einen Schritt weiter und formuliert ein viertes Gesetz der Thermodynamik, welches die Gültigkeit der Entropiezunahme nicht nur für Energie konstatiert, sondern auch für Materie. Beispiele wären das Verrosten von Eisen und der Verschleiß von Motoren und Autoreifen. Er formuliert dieses Gesetz mit den Worten «Es ist unmöglich, Stoffe komplett zu recyceln.» Die Übertragung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik auf Materie wird aus einer theoretisch-physikalischen Sicht bestritten. Denn im Prinzip wäre eine vollständige Wiederherstellung von Stoffen möglich – vorausgesetzt man wendet genügend Energie und Ersatzmaterialien auf. Georgescu-Roegen selbst relativierte sein Gesetz später durch den Präfix «sogenannt». Gleichwohl hat er aber daran festgehalten, dass zumindest empirisch der Rückgang von verfügbaren, für den Menschen nützlichen Rohstoffen, zu beobachten ist. Dies bestätigte auch jüngst der 2013 vorgelegte Schlussbericht der Enquete-Kommission des Bundestages zum Thema «Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität». Dort heißt es: «Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik wirkt auch auf der stofflichen Ebene: Rohstoffe tendieren – teils beschleunigt durch wirtschaftliche Prozesse – zu einer immer stärkeren räumlichen Verteilung (….) Vollständiges Recycling ist daher nicht möglich.»

Georgescu-Roegens Erkenntnisse stellen somit eine fundamentale Kritik an der vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftslehre dar – aber auch an dominanten marxistischen Strömungen. Die neoklassische Ökonomie begreift Wirtschaft als einen Kreislauf, in dem Rohstoffe unendlich vorhanden sind bzw. durch andere substituiert werden können. Physikalische Tatsachen spielen in ihr keine Rolle. Georgescu-Roegen hält diesen Kreislaufgedanken, der einschließt, dass ökonomische Prozesse einfach umgekehrt werden können, für die «Erbsünde der modernen Nationalökonomie». Er schreibt: «Der Wirtschaftsprozess ist kein Kreislauf, er besteht aus der kontinuierlichen Umwandlung von niedriger in hohe Entropie, also in nicht wiederverwertbaren Abfall, oder, um einen geläufigen Begriff zu verwenden, in Umweltverschmutzung.» Dies bedeutet eine radikale Infragestellung des Fortschrittsdenkens der industriellen Moderne. Wirtschaftswachstum und Produktivität, die der Wohlfahrt der heute lebenden Menschen dienen sollen, bedeuten im Grunde nichts anderes als die beschleunigte Zunahme von Umweltverschmutzung und Entropie zulasten künftiger Generationen.

Insofern ist auch das Setzen auf die Entwicklung der Produktivkräfte und auf Wachstum in der marxistischen Tradition im Grunde eine Wette auf die beschleunigte Destruktion der Biosphäre. Denn Wachstum ging empirisch bislang stets mit einem Mehr an Ressourcen- und Energieverbrauch einher – ungeachtet allen Entkopplungsbemühungen.

Nichts desto trotz ist der marxistische Ansatz eher mit den Gedanken von Georgescu-Roegen kompatibel als die bürgerliche Volkswirtschaftslehre. Denn gerade in den Schriften von Marx und Engels finden sich auch Äußerungen, die sehr wohl die Natur neben der Arbeit als Quelle des stofflichen Reichtums anerkennen und aufzeigen, dass die kapitalistische Produktion «nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (entwickelt), indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.» Auf der anderen Seite erscheinen Interpretationen, die vor allem von Ökomarxisten aus den USA wie John Bellamy Foster und Paul Burkett vorgetragen werden, überspitzt, das Marx’sche Hauptwerk auch als ökologisches Werk zu interpretieren. Denn: Den vereinzelt ökologisch zu deutenden Aussagen von Marx und Engels stehen zahlreicherer entgegen, die Produktivkräfte und Technologie als neutral und unabdingbar für den Fortschritt ansehen. Das ist verständlich, weil zu ihrer Zeit Rohstoffe und Energie unendlich erschienen und die Umweltverschmutzung, insbesondere in Form des Klimawandels, noch nicht die Dimension angenommen hatte wie heute. Vor allem aber bezogen Marx und Engels die Analyse von Energieflüssen nicht in ihre Analysen ein und machten folglich keinen Unterschied zwischen erneuerbaren und fossilen Energieträgern (obwohl sie Schriften über die Thermodynamik kannten). Insofern verwundert es nicht, dass Georgescu-Roegens Gedanken von marxistischer Seite nur von Ökosozialisten wie den erwähnten US-Amerikanern oder beispielsweise von Elmar Altvater und Saral Sarkar aufgenommen wurden.

Die Mainstream-Ökonomie übergeht Georgescu-Roegen im Wesentlichen oder er wird als Gründer des von Schülern von ihm gegründeten akademischen Zweiges der Ökologischen Ökonomie wahrgenommen. Zu diesen Protagonisten gehört auch Herman Daly, der das in der wachstumskritischen Bewegung einflussreiche Buch «Steady-state Economics» verfasste. Doch selbst von der Ökologischen Ökonomie distanzierte sich Georgescu-Roegen, der einen immer radikaleren ökologischen Standpunkt vertrat. Den Gedanken einer stationären, über längere Zeit wachstumslosen Wirtschaft und das inzwischen populäre Konzept von nachhaltiger Entwicklung kritisierte er scharf. Heute würde er wohl ähnlich mit Green New-Deal-Konzepten verfahren.

Der Wissenschaftler selbst stellte ein bioökonomisches Minimalprogramm vor, das zum Ziel hat, die Entropiezunahme merklich zu verlangsamen. Die wichtigsten Punkte: Stopp von Kriegen und Kriegsproduktion sowie Verzicht auf Mode und Luxuskonsum. Zudem sollten die Industrie- den «Entwicklungsländern» einen annehmbaren Lebensstandard ermöglichen und das ungebremste Bevölkerungswachstum müsse ein Ende haben, damit die Menschheit sich durch organische Landwirtschaft ernähren kann. Seine Forderungen wirken etwas appellativ. Und deshalb nimmt es nicht Wunder, dass sich diese Gedanken in der seit der Weltwirtschaftskrise neu entfachten Wachstumskritik wiederfinden. Georgescu-Roegen wie der gegenwärtigen Wachstumskritik fehlt oft ein Verständnis von Herrschaft und Macht und vom Wachstums- und Akkumulationszwang, der in kapitalistischen Produktionsweisen herrscht. Da könnte mehr Analyse in der Marx’schen Tradition helfen. Andererseits können die meisten marxistischen Theoretiker noch von dem Entropie-Ökonomen lernen. Dass dies bis dato nur marginal passiert, liegt womöglich auch daran, dass seine Analyse unbequem ist und einen Schluss «voller Pessimismus» zulässt, wie Georgescu-Roegen selbst annimmt. «Aber Verzweiflung ist ein Standpunkt, den wir zurückweisen müssen», setzt er 1978 in seinem Aufruf «Für eine menschliche Ökonomie» dagegen. Zurzeit, so heißt es weiter, verfügten die Menschen über den Reichtum und die Technologien, die ihnen nicht nur ermöglichen, für eine lange Zeit zu überleben, sondern auch, für sich und alle ihre Kinder eine Welt zu schaffen, in der es sich mit Würde, Hoffnung und Behaglichkeit leben lässt.«

(aus: neues deutschland, 25.10.2014)

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