Aus der Geschichte lernen?

Grass-Debatte und Götz Alys Bestandsaufnahme des Historikerstreits

Nur wenige Wochen nach dem Party-Patriotismus der Fußballweltmeisterschaft, der weitgehend als Indiz für den nunmehr unverkrampften Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte gedeutet wurde, ist mit dem Eingeständnis Günter Grass’, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, eine Debatte über das Verhältnis zum Nationalsozialismus wieder aktuell geworden. Fast genau 20 Jahre nach Ernst Noltes – den Auftakt für den Historikerstreit gebenden – Klagen über die Vergangenheit, die nicht vergehen will, scheint die deutsche Öffentlichkeit sich derzeit mitten in einer neuen geschichtspolitischen Kontroverse zu befinden. Schon frohlockt der Protagonist des rechts-konservativen Lagers aus dem Historikerstreit in einer italienischen Zeitung – hierzulande ist er mittlerweile sogar der FAZ zu weit rechts -, die Grass-Diskussion sei ein Anzeichen dafür, dass die von ihm seit 1986 vorausgesagte Verschiebung der herrschenden Begriffe nun eingetreten sei (vgl. FAZ, 17.8.2006). Anlass genug, zu fragen, ob dem tatsächlich so ist.  Weiterlesen

Pattsituation

Gewiss: Die Wahl des ehemaligen indigenen Anführers der Kokabauern Evo Morales zum Präsidenten Boliviens im Dezember 2005 stellt für den kleinen Andenstaat eine Zäsur dar. Nie zuvor war ein Indigena Präsident des von einer sich als weiß verstehenden Oberschicht beherrschten Landes höchstes oberstes Staatsoberhaupt geworden.
Morales und seine Bewegung zum Sozialismus (MAS) reiht sich seitdem ein in die Gruppe von nunmehr zehn Mitte-Links-Regierungen lateinamerikanischer Länder, die sich mal mehr, mal weniger vom Neoliberalismus abgrenzen oder gar eine explizit sozialistische Politik verfolgen. Weiterlesen

Existenzgefährdende Ironie

Mit der Ironie ist es so eine Sache: Sie will verstanden werden, und das Verstehen ist abhängig von der Wahl der Perspektive und von Interessen. Ein Beispiel hierfür lieferte die US-amerikanische Handelsbeauftragte Susan Schwab in ihrer Reaktion auf das Scheitern der Mini-Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf am Abend des 30. Juli: Angesichts einer globalen Krise der Nahrungsmittelpreise sei es ironisch, dass die Debatte sich darauf reduziert habe, wie viel und wie rasch es den Staaten gestattet sein solle, ihre Barrieren zu erhöhen, um Lebensmittelimporte zu behindern. Weiterlesen

Rhetorische Beruhigungspillen

Seit gut drei Monaten ist die so genannte Nahrungsmittelkrise politisches Top-Thema. Dabei hungerten weltweit 854 Millionen Menschen, bevor das Thema infolge der gewalttätigen Proteste etwa in Haiti die Agenda der Weltpolitik mitprägt. Nun hat auch der G8-Gipfel im japanischen Toyako das Thema neben den ebenfalls rasant steigenden Preisen für Rohöl und dem Klimawandel zum Thema ihrer elitären Zusammenkunft gemacht. Weiterlesen

Schmerzliche Geschichte

Bini Adamczak, gestern – morgen, Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft, Unrast 2007, 160 Seiten, 12 Euro

Noch bis in die Mitte der 1970er Jahre war die „russische Frage“ das unausweichliche Paradigma der politischen Perspektiven der Linken. 15 Jahre später, nach dem Zusammenbruch des aus der Oktoberrevolution 1917 entstandenen so genannten Realsozialismus, mutet dieses wie älteste Vorgeschichte an. Das von Fukujama proklamierte Ende der Geschichte scheint auch für viele Linke zu gelten: Weiterlesen

Ketzerischer Konformismus

Bereits vor 13 Jahren schrieb Oskar Negt „im Zorn und gegen das Vergessen“ über die sich selbst als 1968er bezeichnenden Intellektuellen. Sein Zorn richtete sich gegen sie, weil sie nunmehr meinten, alles abwerten zu können, wofür sie sich einst hätten schlagen lassen. Für Negt ließ das nur einen Schluss zu: „Der Opportunismus ist die eigentliche Geisteskrankheit der Intellektuellen.“[1] Und weiter: „Wo diese ihren Eigensinn, die bohrende und widerständige Kraft ihrer Entwurfsphantasien einbüßen, werden sie zu abrufbaren Legitimationsproduzenten mit beschleunigten Häutungen, und am Ende bleibt nur die Haut übrig, die man selbst zu Markte tragen muß.“ Weiterlesen

Filmkritik: Chiko

Hamburg-Mümmelmannsberg ist das, was Neukölln für Berlin ist: ein Großstadtgetto mit überdurchschnittlich vielen Hatz-IV-Empfängern und Migranten. Der auch scherzhaft „Mümmeltown“ genannte Stadtteil wurde vor zwei Jahren überregional bekannt, als publik wurde, dass ein Filmteam des ZDF Jugendliche dafür bezahlte, ihnen quotentreibende Bilder von gewaltbereiten Jugendlichen und Bandenkriminalität zu liefern. Seitdem, so berichten die Heranwachsenden, sei es schwerer, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Denn in Erinnerung geblieben ist nicht die zweifelhafte Praxis der Medien, sondern das Stigma, aus einem „kaputten“ Viertel zu stammen. Weiterlesen

Hunger – Ein Ungeheuer betritt die politische Bühne

Seit Jahrzehnten sterben täglich 20.000 Menschen an den Folgen von Hunger. Doch sie hungern und sterben nicht etwa, weil es zu wenig Lebensmittel gibt, sondern weil sie deren Marktpreise nicht zahlen können. »Hungerkatastrophen sind (demnach) soziale Krisen, die das Versagen spezifischer ökonomischer und sozialer Systeme widerspiegeln,« wie der Begründer der »politischen Ökologie des Hungers« Michael Watts schreibt. Die Normalität kapitalistischer Verhältnisse taugt freilich nicht, um etwa die Agenda einer Tagung des Internationalen Währungsfonds (mit)zubestimmen. Dazu kommt es erst, wenn der Gang der kapitalistischen Ökonomie dazu führt, dass infolge der drastisch gestiegenen Lebensmittelpreise und Hungerrevolten Regierungen gestürzt werden – so wie jüngst in Haiti – und überdies ähnliches für eine weitere Reihe von Staaten befürchtet wird. So warnte der IWF-Vorsitzende Dominique Strauss-Kahn auf der Frühjahrstagung des IWF vor einer Gefährdung des Friedens und den Zusammenbruch ganzer Volkswirtschaften. Der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück sprach gar von einem Ungeheuer, welches die politische Bühne betreten habe. Weiterlesen

Über Thomas Krolls „Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa“

Thomas Kroll, Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945-1956), Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2007, 775 S. 74,90 Euro

Vorliegende Studie ist eine überarbeitete Habilitationsschrift, die sich zum Ziel gesetzt hat, eine „bislang ungelöstes historisches Phänomen der westeuropäischen Geschichte“ (2) zu lösen: Es geht darum, Gründe für das Engagement Intellektueller für den Kommunismus sowjetischer Prägung in den prosperierenden parlamentarischen Demokratien Frankreichs, Österreichs, Italiens und Großbritanniens zu finden. Weiterlesen

Willige Partner

Wird man an Adam Toozes „Ökonomie der Zerstörung“ zukünftig den Gang faschismustheoretischer Forschung messen?

Ein solches Lob – noch dazu aus so berufener Feder – liest man selten: „In der Studie ‚Ökonomie der Zerstörung'[1] von Adam Tooze über die Wirtschaft im ‚Dritten Reich‘ wird das umstrittene Problem des Verhältnisses von kapitalistischer Wirtschaft zum NS-Regime auf denkbar breiter empirischer Basis und in eindringlicher Analyse souverän geklärt. Man kann sagen: Zum ersten Mal ist das jetzt in einer überzeugenden Synthese auf gleichmäßig hohem Niveau geschehen.“[2] Der Verfasser dieser Zeilen ist Hans-Ulrich Wehler, Nestor der deutschen Sozialgeschichtsschreibung. Ob man an dem Werk des jungen britischen Wirtschaftshistorikers – bekannt geworden durch seine fundamentale Kritik an Götz Alys Buch „Hitlers Volksstaat“ (2005) – tatsächlich, wie Wehler prophezeit, von nun an den Gang der zeitgeschichtlichen Forschung über den Nationalsozialismus wird messen dürfen, bleibt abzuwarten.
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