Das Leben als Schulterzucken

Édouard Louis’ Buch über seine Mutter handelt von patriarchaler Zerstörung – und von Befreiung

Das Vorgängerbuch über den Vater war eine von Rachegefühlen getriebene Anklage. Es schlug förmlich mit Sätzen wie »Jacques Chirac und Xavier Bertrand machten deinen Darm kaputt« oder »Emmanuel Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller« um sich. In Édouard Louis´ Pendant zur Mutter fehlt diese plakative Wut weitgehend, sie ist einem einfühlsamen, behutsamen Ton gewichen. Das heißt nicht, dass die Gesellschaftskritik aus Louis’ Text verschwunden ist. Die von der Klassengesellschaft und von männlicher Herrschaft ausgehende Gewalt ist fast auf jeder Seite von »Die Freiheit einer Frau« präsent. Weiterlesen

Fronteinsätze in Meppen

Landkommune, »Titanic«-Redaktion und »Konkret«-Kongress: Ein »Schauerroman« von Gerhard Henschel

Auch das »Neue Deutschland« bekommt in Gerhard Henschels neuntem Teil seiner autobiografisch grundierten Martin-Schlosser-Romanreihe sein Fett weg. Anfang der 90er Jahre sorgte ein Satz in einem verabredeten Buchmesse-Bericht von Henschels Alter Ego Martin Schlosser für Anstoß in der ND-Chefredaktion: »Ca. sechzehn neue Bücher über Streitkultur und Schmusekunst gibt es von Friedrich Schorlemmer, dessen Fans abends die Säle füllen, weil er so lieb ist, wenn auch nicht besonders helle.« Was von Schlosser mit den Worten kommentiert wird: »So viel Meinungsfreiheit mochten sie mir nicht zugestehen, die Hansel, weil sie Angst davor hatten, ihre Leser vor den Kopf zu stoßen.« Aber da ist er als aufstrebender Schriftsteller schon nicht mehr auf Veröffentlichungen im ND angewiesen. Weiterlesen

Die Sackgasse der Globalisierung

Um den Kapitalismus einzuhegen, plädiert der linke Soziologe Wolfgang Streeck in seinem neuen Buch »Zwischen Globalismus und Demokratie« für eine Rückkehr zum Nationalstaat – und landet so bei der Neuen Rechten unterm Weihnachtsbaum

Wolfgang Streeck, der langjährige Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, freute sich 1999 im Magazin »Der Spiegel« über den Rücktritt des damaligen SPD-Finanzministers Oskar Lafontaine. Durch diesen seien Teile der Bundesregierung und der SPD von ihrem »Vulgär-Keynesianismus« abgebracht worden. Nach Lafontaines Rückzug – die Börsen feierten – wurde der Weg frei für die Durchsetzung des Neoliberalismus auch in der Sozialdemokratie. An der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen hat die SPD immer noch zu knabbern. Als intellektueller Wegbereiter dafür gilt eben jener Streeck. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« bezeichnete ihn als »soziologischen spin doctor« der Agenda 2010. Kostprobe seiner damaligen Ideen gefällig? Streeck sprach von der »Anerkennung wirtschaftlichen Zwanges als charakterbildende Kraft«. Weiterlesen

Der Traum ist aus

Linke Utopien setzen auf materiellen Wohlstand für alle. Ökokollaps und Endlichkeit von Energieressourcen erfordern ein Umdenken

Es dauerte eine halbe Milliarde Jahre, bis sich fossile Brennstoffe bilden konnten. Aber es wird nur wenige Jahrhunderte dauern, bis Kohle, Erdöl und Erdgas verheizt sind. Bis zum Beginn der Industrialisierung lebten die Menschen auf der Erde von den vorhandenen Energieflüssen des Planeten. Erst mit dieser wurden die Energiereserven angetastet. Öl, Kohle und Gas, in geologischer Vorzeit entstanden aus toten Pflanzen oder Tieren, sind nichts anderes als gespeicherte Sonnenenergie. Im Vergleich zur zerstreut auf die Erde einstrahlenden Sonnenenergie haben sie eine enorm hohe Energiedichte. Ohne fossile Brennstoffe wäre die gewaltige Zunahme von Wirtschaftswachstum, stofflichem Reichtum und Wohlstand des industriellen Kapitalismus nicht möglich gewesen.

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Gewollte Nachsicht

Warum trotz der Pandora-Leaks Steueroasen bleiben

Es ist ein Rekord in mehrfacher Hinsicht: Noch nie haben so viele Journalist*innen (600) aus so vielen Ländern (117) so viele geleakte Dokumente (11,9 Mio.) von so vielen Finanzdienstleister*innen (14) ausgewertet. Die Ergebnisse, die unter dem Namen »Pandora Papers« Anfang Oktober veröffentlicht wurden, sind der jüngste Leak in einer Reihe von Enthüllungen zum Thema Steuervermeidung und -hinterziehung. Die Hauptschlagzeile der Pandora Papers war: Selbst Politiker*innen, die den »Steueroasen« den Kampf angesagt haben, nutzen Briefkastenfirmen, um Abgaben zu umgehen. Weiterlesen

Ein Vokal in seinen Stimmbändern

Wie ticken die Anhänger von Sebastian Kurz? Elias Hirschl hat über sie einen satirischen Roman geschrieben

Es fällt schwer, von einem Protagonisten im strengen Sinne in Elias Hirschls neuem Roman zu sprechen. Nicht weil die Hauptfigur keinen Namen trägt, sondern weil der Namenlose lediglich das Imitat eines Individuums ist oder, wie seine Freundin es ihm an den Kopf schleudert, »eine leere Hülle ohne Emotionen«. Soll das vielleicht der am Samstag zurückgetretene österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz sein? Weiterlesen

Druck im Kessel

Der Gaspreisschock weitet sich zur europäischen Energiekrise aus

Ohne CO2-Versorgung wird Weihnachten abgesagt«, brachte es Ranjit Boparan, der Eigentümer der 2 Sisters Food Group, des größten Hühner- und Putenzuchtunternehmens Großbritanniens plakativ auf den Punkt. Der Grund: Der Schlachtindustrie fehlt es an CO2 zur Betäubung, Verpackung und Kühlung von Truthähnen. Das Kohlendioxid entsteht als Nebenprodukt bei der Herstellung von Dünger, für die große Mengen an Erdgas benötigt werden. Doch die Erdgaspreise explodieren derzeit, seit Anfang des Jahres haben sie sich verdreifacht (allerdings aufgrund der Wirtschaftskrise infolge der Coronapandemie von einem geringen Ausgangsniveau). An den Spotmärkten, wo Gas kurzfristig zum aktuellen Preis gehandelt wird, kostete der Kubikmeter Gas zeitweise zehnmal mehr als zu Jahresbeginn. Deshalb hat der US-Düngemittelhersteller CF Industries, der 60 Prozent des britischen Bedarfes für CO2 deckt, kürzlich vorübergehend die Betriebe stilllegen müssen. Weiterlesen

Oh Schreck, eine Inflation!

Seit die Verbraucherpreise wieder steigen, erinnern Wirtschaft und Politik daran, dass wir Angst haben sollten. Sollten wir?

Es gibt sie noch: die rüstigen Senior*innen, die im Radio von ihren Familienerinnerungen über das Jahr 1923 erzählen. Damals, als der Preis für ein Ei von 800 Mark im Juni auf 320 Milliarden Mark im Dezember kletterte und die Menschen Geldscheine in Schubkarren zum Bäcker transportierten. »Mein Opa … hat mir mal eine Zigarrenkiste geschenkt mit Inflationsgeld, da war ich sogar schon Milliardär«, berichtet ein Herr Schmidt aus Essen im Deutschlandfunk. Der Anlass: der Anstieg der Inflationsrate um 3,9 Prozent im August.

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CO2-Preise: Richtet es doch der Markt?

ielerorts ist es seit geraumer Zeit zu lesen: Der Markt und das Europäische Emissionshandelssystem (ETS) richten es doch! Die Preise für den Ausstoß von CO2 sind in letzter Zeit so stark gestiegen, dass sie den Betrieb von Kohlekraftwerken bald unrentabel machen würden – lange bevor laut Kohleausstiegsgesetz das letzte Kraftwerk 2038 seine Tore schließen wird. Weiterlesen

Ach so achtsam in den Burn-out

Fall für die innere Kündigung: Clemens Bruno Gatzmagas Debüt »Jacob träumt nicht mehr« taucht tief ins moderne, neoliberale Agenturleben

Er verflucht die Banker, die Anzugträger, die Marketingmenschen – und vor allem sich selbst. Jacob, Ende 20, arbeitet in einer Agentur, die Unternehmen bei ihren Digitalstrategien unterstützt. Und das ziemlich erfolgreich. Ein paar Jahre noch und ihm ist eine Stelle im Management sicher. Doch dann läuft alles aus dem Ruder. Weiterlesen