Die Geschichte blamiert die Idee

Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. C.H. Beck, München 2012, 606 S., 29,90 Euro.
Gruppe INEX (Hrsg.), Nie wieder Kommunismus?, Zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus, Unrast, Münster 2012, 228 S., 14,80 Euro.

Es mag auf den ersten Blick nicht einleuchtend erscheinen, diese beiden Bücher zusammen zu besprechen. Das eine – »Verbrannte Erde« –, in einem großen Verlag erschienen, von dem etablierten Historiker Baberowski verfasst, bereits viel besprochen und mit dem Leipziger Preis der Buchmesse ausgezeichnet, ist eine historische Studie der Gewaltherrschaft Stalins, die auf dem jüngsten Stand der wissenschaftlichen Forschung beruht.  Weiterlesen

Die Rechte von heute

Vom alten Faschismus zum neuen Sozialdarwinismus

Ohne die Weltwirtschaftskrise von 1929, so die herrschende Meinung in der Wissenschaft, hätte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) nicht die Macht im Bündnis mit den Konservativen übernehmen können. Ob es irgendwann heißen wird, ohne die Weltwirtschaftskrise von 2008ff. wäre die (neo)faschistische Partei in Land X nicht an die Macht gelangt, ist Spekulation. Es lenkt die Aufmerksamkeit allerdings auf folgende, wie die aktuelle Diskussion um die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) belegt, nach wie vor wichtige Frage: Ist Faschismus heute noch eine potentielle Gefahr? Weiterlesen

Ideologische Durchdringung und Interessen

Erhard Crome, Der libysche Krieg des Westens, spotless im Verlag Das Neue Berlin,
Berlin 2011, 94 S., 5,96 Euro.

In mancher Hinsicht scheint die Bürgerkriegssituation in Syrien und die Reaktion der sog. Internationalen Gemeinschaft hierauf Parallelen zum Fall Libyen aufzuweisen. Eine befriedigende analytische Aufarbeitung des NATO-Bombenkrieges zugunsten der libyschen Rebellen steht hingegen noch aus. Insbesondere eine antimilitaristische oder friedensbewegte Linke muss sich dem jedoch stellen, will sie nicht in die Falle des dichotomischen »Der Feind meines Feindes ist mein Freund«-Schemas tappen. Weiterlesen

Lenin, Stalin und der Terror

Richard Buchner, Terror und Ideologie. Zur Eskalation der Gewalt im Leninismus und Stalinismus (1905 bis 1937/1941), Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2011, 546 S., 44 Euro

Dieses Buch liegt quer – in mehrerer Hinsicht. Den traditionellen Kommunisten wird es zu viel Schatten auf die Sowjetunion werfen. Antikommunisten wird die Anerkennung der humanen Ziele des Marxismus und die Berechtigung von Kapitalismuskritik aufstoßen. Marxisten wird der Bezug auf die Totalitarismustheorie stören. Akademische Historiker dürften sich an den ungenügenden Belegen und den moralischen Impetus reiben, während der historisch-politisch Interessierte mit durchschnittlichen Sprachkenntnissen die Berücksichtigung neuester russischer Studien zu schätzen weiß. Weiterlesen

Moralisch Maß nehmen

Der Mythos Dresden und die Wandlungen der deutschen Erinnerungskultur

In den 1950er Jahren wurden in Nürnberg die Steine einer zerstörten jüdischen Synagoge für den Bau eines Denkmals zum Gedenken an die deutschen Bombenopfer genutzt. Dieses Beispiel macht anschaulich, was der Essayist und Journalist Eike Geisel über die Situation der frühen Bundesrepublik in folgende Worte fasste: »Die Deutschen hatten zwar den Krieg verloren, sollten aber als Vernichtungsgewinnler aus ihm hervorgehen, indem sie den Ermordeten noch die Rolle des Opfers stahlen.«
Insbesondere der Luftkrieg der Alliierten gegen deutsche Städte in den letzten Kriegsjahren bot sich an, um in diese Opferrolle zu schlüpfen. Weiterlesen

Explosiver Dauerzustand

Zehn Jahre »Deutsche Zustände«

Die zehnte Folge von »Deutsche Zustände«[1] ist vorerst die letzte. Das seit 2002 laufende Langzeitprojekt unter der Regie von Wilhelm Heitmeyer ist mit seinen 23.000 befragten Personen die bisher weltweit größte und am längsten laufende Untersuchung ihrer Art. Ob es eine Fortsetzung ohne den emeritierten Heitmeyer geben wird, ist derzeit noch unklar. Es wird auf die Mobilisierung von Drittmitteln ankommen. Weiterlesen

Konterkarierung des Tabus

Der Expertenbericht »Antisemitismus in Deutschland«

Die Entdeckung der Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« vor wenigen Wochen hat zu Recht für ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit gesorgt. Diese scheint indes so hoch gewesen zu sein, dass andere mit dem Thema zusammenhängende Ereignisse, kaum beachtet wurden. So verhallte die Veröffentlichung des vom Bundestag in Auftrag gegebenen Berichts »Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze« weitgehend ungehört, wie etwa Timo Reinfrank von der Amadeu-Antonio-Stiftung feststellt. Weiterlesen

Artikulation des Bruchs

Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Suhrkamp, Berlin 2011, 248 S., 19,90 Euro

Colin Crouchs 2004 im Englischen und 2008 im Deutschen erschienenes Buch „Postdemokratie“ wurde auch aufseiten der Linken zu einem der meist zitierten politikwissenschaftlichen Texte der letzten Jahre. Und das zu Recht, verdichten sich in diesem schmalen Essay doch die Debatten um Politikverdrossenheit, Sozialabbau und Privatisierung auf prägnante Weise. Insofern beginnt man mit Spannung die Lektüre des neuen Bandes des an der Warwick Business School Lehrenden Professors. Weiterlesen

Im Zweifel für Ernst Nolte

Mathias Brodkorbs misslungener Versuch, den Historikerstreit zu bilanzieren

Gemeinhin gilt der Ausgang des Historikerstreits als klar: Die sozialdemokratische und liberale Linke um Jürgen Habermas und Hans-Ulrich Wehler fuhr einen Punktsieg gegen Ernst Nolte (und andere neurechte Historiker) ein, der den Holocaust mit der These vom »kausalen Nexus« zwischen bolschewistischen Verbrechen und Auschwitz aus der Kontinuität deutscher Geschichte entfernen wollte. Im Zuge des Historikerstreits konnte sich die These von der Singularität des Holocaust etablieren, die freilich mehre Bedeutungen hat. Weiterlesen

Kurz- und Langfrist-Kalkül

Unlängst kamen die Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, Jens Beckert und Wolfgang Streeck, in einem bemerkenswerten Beitrag (FAZ, 20.8.2011) zu folgender Schlussfolgerung: „Nachdem die Zuwächse des Sozialprodukts während der vergangenen dreißig Jahre vornehmlich den oberen Bevölkerungsschichten zugutekamen, stellt sich in der Schuldenkrise die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen.“ Weiterlesen